Der letzte Tag
Liebe Freunde, wollt ihr wissen, wie sich ein sinnentleertes Leben anfühlt? Nein, das wollt ihr gar nicht wissen. Ich kann euch nur sagen: Es tut nicht weh. Es ist kein Schmerz. Es ist kein Bewusstsein. Es ist einfach nur – nichts.
Ihr wisst ja, ich habe es weit gebracht. Karriere im Finanzwesen, der riesige Loft in den oberen Etagen der Hauptstadt, natürlich als Eigentumswohnung. Jedes Jahr zwei oder drei Urlaube, die Yacht auf der Seenplatte, Jaguar, MG und die Guzzi in der Tiefgarage. Die jährliche Geburtstagsfeier ein Event - berühmt-berüchtigt. Ein fettes Leben auf der Überholspur.
Aber dann kam dieser dreiundzwanzigste Dezember. Ich schaute durch die Panoramascheibe über die große, weite Stadt. Allüberall auf den Hochhausspitzen sah ich goldene Lichter blitzen. Es nieselte seit Tagen, trotz dem Aufgebot an künstlichem Licht wurde es nie richtig hell, winterlich-weihnachtliche Stimmung wollte sich partout nicht einstellen. Hätte sich ein Fenster öffnen lassen, ich wäre sofort gesprungen. Aber alles verriegelt, automatische Belüftung und Fensterputzdienst für die Außenfassade. Vielleicht ahnten die Architekten schon, dass die Leute hier oben früher oder später an Depressionen leiden würden.
Ich spürte nichts mehr. Es gab kein Leid, existenzielle Probleme kannte ich nicht. Es gab aber auch keine Freude. Wie sehr werden sich manche Kinder morgen über die kleinsten Geschenke freuen? Wie schön werden sich Paare morgen zufrieden zusammen kuscheln und „Drei Nüsse für Aschenbrödel“, mit zwei Gläsern Rotwein oder Punsch, gemütlich auf dem Sofa anschauen? Weihnachten, Fest der Liebe – nicht für mich. Während andere dort unten, in kleinen billigen Wohnungen, irgendwo hinter einem der vielen leuchtenden Fenster, das Glück von Liebe und Freundschaft genossen, hockte ich alleine mit meinem teuren Cognac in der Hand und Wagner auf dem edlen Plattenspieler, in einem sterilen 180-Quadratmeter-Loft.
Mit wem sollte ich das Fest auch feiern? Den Kontakt zu meinen Eltern hatte ich schon lange abgebrochen. Geschwister hatte ich keine. Die Frauen, die ich in meinem Leben kennengelernt hatte, waren inzwischen verheiratet und hatten Kinder. Ich wollte mich nie wirklich auf eine Beziehung einlassen, mein Job und meine Freiheit waren mir immer viel wichtiger. Sex ist kein Problem, wenn man Geld hat und mit Sport, Kosmetik und Chirurgie für eine strahlende Erscheinung sorgt. Natürlich machen auch Kleider Leute und locken die schöne Beute. Ich könnte mir für die Feiertage eine Edelhure bestellen. Mich würgte bei dem Gedanken. Das leere Geficke der letzten Jahre hinterließ nichts weiter als den faden Nachgeschmack lauwarmen, schalen Biers.
Feiern mit Freunden? Ich hatte keine. Ich hatte Kollegen, Bewunderer, Speichellecker. Aber Freunde?
Der Fahrstuhl surrte leise ins Erdgeschoss. Wie jedes Mal musste ich, unten angekommen, schlucken, um den Druck aus den Ohren zu lassen. Ich hatte es nicht weit bis zum Weihnachtsmarkt. Noch einmal durch die Stadt schlendern und den Menschen bei ihren irrsinnigen, letzten Weihnachtsbesorgungen zusehen. Irgendwo den letzten Absacker trinken und dann? Vor einen Zug laufen? Sich vor den Coca-Cola-Truck werfen? Von der Brücke in die dreckige Brühe des Kanals springen? Ich zuckte mit den Achseln, schlug den Kragen meines Mantels hoch und zog den Stetson tiefer ins Gesicht, der mich vor dem Nieselregen schützte. Ich schlenderte auf eine Gruppe lachender Menschen zu, die sich um den Stehtisch einer Gühweinbude versammelt hatte. Ich wollte mich gerade an dem fröhlichen Volk vorbeischieben, wurde aber am Arm gepackt.
„He, einsamer Wanderer, niemand sollte heute Abend alleine bleiben. Komm, trink einen mit und wärme dich, wir haben noch genug von dem Zeug – und das Zeug ist verdammt gut!“
Ein Mann mit schmuddeliger Baseballmütze und ungepflegtem Dreitagebart lächelte mich herzlich an. Sein grüner Parka sah aus wie aus einem bekloppten Nato-Shop, die Beine steckten in einer ausgeleierten, hellblauen Jogginghose.
„Lassen sie mich los“, brummte ich – wahrscheinlich recht unfreundlich, weil total überrascht. Das machte dem schrägen Vogel überhaupt nichts aus.
„Nee, nee, nee… du kommst jetzt hierher und trinkst einen mit!“
Ich weiß nicht wie, plötzlich war ich umringt von den Leuten und hatte ein Glas Glühwein in der Hand. Ihr Äußeres unterschied sich nicht weiter von dem Mann, der mich in die Runde zog. Männer und Frauen, auf den ersten Blick ungepflegt, Hartz IV oder noch weniger. Die Farben ihrer veralteten Klamotten boten alle Töne der Geschmacklosigkeiten auf. Normalerweise hätte ich diesen Kretins keine Aufmerksamkeit geschenkt und eher die Polizei gerufen, als mich anfassen zu lassen von ihren schmierigen Händen. Doch hier war es irgendwie warm und – herzlich. Im Lauf der Gespräche stellten sie sich mir vor. Ich hatte mit Namen gerechnet wie Ronny, Olli, Hugo, Glatzen-Klaus oder Jacken-Heino. Doch sie nannten sich Michael, Gabriel oder Raphael. Unter den Frauen der Runde waren Adriana, Athene und eine Isabella. Seltsame Namen unter lauter schrägen Vögeln, sie sahen nicht gerade aus wie Absolventen einer Walldorf-Schule.
Gabriel war der Typ, der mich festgehalten hatte. Mit der Zeit vertieften wir uns immer tiefer in ein Zwiegespräch. Ein seltsam vertrautes Gespräch, hatte ich schon so viel Glühwein intus? Oder waren da noch andere Spirituosen im Spiel? Ein ätherischer Geruch kitzelte meine Nase, erinnerte mich an die Kirche, in der ich seit meiner Kindheit nicht mehr war. Weihrauch?
„Du hast alles und doch nichts, habe ich recht?“ frage er mich mit einem tiefen Blick in meine Augen.
„Stimmt irgendwie. Ich könnte euch alle in meiner Bude unterbringen, ohne das es eng wird und durchfüttern bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.“
„Nein Danke, lass mal. Wir sind ganz zufrieden, stimmt’s Leute?“
„Sind wir, Halleluja!“ grölten die anderen im Chor und hoben die Tassen.
„Ich muss zugeben, ich bewundere euch“, stöhnte ich anerkennend: „Ich bin wohl eher der Reiche, der nicht durchs Nadelöhr passt, oder?“
„Reichtum ist nicht das Problem. Es kommt eher darauf an, was du mit deinem Besitz und deinem Leben anfängst. Oder ob du den falschen Weg als solchen erkennst und eine andere Abzweigung nimmst.“
„Aber welche?“, frage ich: „Ich denke, es ist zu spät. Wie sollte ich jetzt noch mein Leben ändern? In dem Alter? Ich kenne und kann nichts anderes als Leute verarschen und Wirtschaftsysteme aussaugen.“
„Ok. Du bist der Asoziale, nicht wir. Aber Selbsterkenntnis ist der erste Schritt…“
„…zur Besserung, ich weiß!“ seufzte ich und hob das Glas, leerte es mit einem Schluck und bestellte am Glühweinstand mit einer kreisenden Handbewegung eine frische Runde für alle.
Gabriel grinste: „Vielen Dank für die Spende. Ich will dir keinen sozialromantischen Kitsch erzählen. Arschloch bleibt Arschloch und Looser bleibt Looser. So ist das im Leben. Es kommt dabei nur darauf an, ob man bereit ist, sein Herz zu öffnen.“
„Klingt aber auch nach Sozialschmonzette!“ lachte ich.
„Ok, nennen wir es Edelkitsch“, erwiderte Gabriel, „aber jede kitschige Story birgt einen Funken Wahrheit!“
„Mein Herz öffnen? Für wen? Mein Chefs sind hartherzige, globale Bullterrier, meine Kollegen kalte Konkurrenten und meine Untergebenen kriechen mir in den Arsch, in der Hoffnung, oben lebend wieder rauszukommen.“
„Dann schau dich um. Geh nach draußen und schau auch mal nach rechts, nach links, nach hinten oder nach oben und unten. Nicht immer nur nach vorne. Bleib einfach mal stehen.“
„Das kann ich nicht. Es geht zuviel Zeit dabei verloren!“
„Zeit. Ist das ein Wert? Liegt das Glück in der Zeit?“
„Glück. Ich habe doch Glück. Jede Menge davon. Schau mich doch an!“
Ich wollte Recht haben und spürte sofort, ich lag falsch. Meine Augen wurden feucht. Vielleicht der kalte Wind. Ich würde doch nicht weinen? Das hatte ich nicht mehr getan, seit mich die Jungs in der vierten Klasse verprügelt hatten. Keinem Menschen dieser Erde wollte ich jemals wieder ein paar Tränen gönnen.
Gabriel legte seine Hand auf meine Schulter.
„Du hast kein Glück. Du bist dem Leid aus dem Weg gegangen und hattest viel Erfolg. Aber ohne Dunkel gibt es kein Licht.“
Gefühle überschwemmten mich wie die Druckwelle einer fernen Explosion. Ich schwankte und in einem Impuls der Herzlichkeit umarmte ich Gabriel. Die Tränen flossen mir ungehemmt über die Wangen, ich konnte das Schluchzen, welches tief aus den dunkelsten Ecken meiner verschütteten Seele in gewaltigen Schüben aufstieg, nicht mehr unterdrücken. Der Kreis der seltsamen Leute schloss sich um mich und alle Hände berührten mich. Die menschliche Wärme schlang sich um mich wie ein dicker Mantel um den frierenden Bettler.
„Jeder findet seinen Seelenzwilling. Früher oder später, wenn nicht in diesem Leben, dann vielleicht in einem anderen. Er ist da und befruchtet dich in deinem Handeln, wenn du dich seiner Botschaft öffnest. Auch wenn es aus der Ferne geschieht und nicht durch einen realen Menschen in deinem Umfeld. Du musst dich nur öffnen.“
Der Kreis lockerte sich, die Trinker entfernten sich von mir. Das Gesicht Gabriels strahlte:
„Nun geh. Geh langsam. Schau dich um. Bleib ab und zu mal stehen!“
„Danke.“ Ich drehte mich um und ging …
… und rannte geradewegs in diese Frau. Langer schwarzer Mantel, eine wilde blonde Mähne unter einem dunklen Hut. Ein Paket fiel zu Boden und ich hörte Glas zerbrechen. Der Duft eines teuren Rasierwassers strömte sofort aus dem Paket.
„Entschuldigung. Ich war unaufmerksam. Gerade hatte ich ein tolles Gespräch mit…“ Ich stockte. Ich wollte ihr zeigen, mit wem ich gerade gesprochen hatte und drehte mich dafür zu dem Tisch um. Der Tisch war leer, nur der Glühweinverkäufer stand gelangweilt in seiner Bude.
„Aber …“ stotterte ich.
„Ach scheiß drauf, ich habe sowieso keine Lust mehr auf den ganzen Mist!“ schnaubte die Frau wütend, mit einem französischen Akzent, der ihrer Aufregung die Schärfe nahm.
Sie sah mich an und bemerkte mein irritiertes Gesicht. Ich erwiderte den Blick und schaute tief in ihre strahlenden, warmen Augen. Die Lider waren weit offen, umrandet von einigen Fältchen, die von Leben und Lachen zeugten.
„Kann ich sie zu einem Glas Glühwein einladen? Der schmeckt fabelhaft hier und hat magische Kräfte!“ Mit dieser Einladung überraschte ich sie – und mich selbst.
Verdutzt sah sie mich an und fing an zu lachen.
„Pourquoi pas?“
Was soll ich euch weiter erzählen, meine Freunde? Sie ging an diesem Abend mit zu mir und in dieser Nacht verbrachte ich Weihnachten in der Fremden. Bald wurde mehr daraus als nur ein One-Night-Stand – und es wurden noch viele gemeinsame Weihnachten!