Elena tanzt
Es dämmert bereits, als das Flugzeug über die Abflugrampe rollt und langsam beschleunigt. Andros liebt diesen Moment, wenn sich die schwere Maschine vom Boden löst. Der Motorenlärm schwillt an, der Magen flattert, und im Kopf wird es ein wenig flau – doch dann dieses Schweben! Er fühlt sich plötzlich frei. Die Ereignisse der letzten Tage verlieren ihre Schärfe.
Gebannt schaut er aus dem Fenster, beobachtet die leuchtend rote Sonne, die nun glamourös ins Wolkenmeer eintaucht. Heute, am 24. Dezember, ist er auf dem Weg nach Griechenland, Geburtsort und ewiges Sehnsuchtsland seiner Mutter. Seit seinem letzten Urlaub dort sind einige Jahre vergangen. Er hat das spontan entschieden, hat die Rettungsleine ergriffen, die ihm sein Freund Takis zugeworfen hat. Erst vor ein paar Tagen, nach einem weiteren heftigen Streit mit seiner Freundin, hatte er den Mut, diese längst kriselnde Beziehung zu beenden.
Andros zögerte keinen Moment, das Angebot seines Freundes anzunehmen – und ergatterte prompt ein Last-Minute-Ticket nach Athen. Er lächelt bei dem Gedanken an Takis und seine riesige, lärmende, herzliche Familie. Tiefe Erleichterung erfüllt ihn, als er sich in seinen Sitz zurück lehnt und die Augen schließt.
Bei der Ankunft in Athen spürt er schon beim Aussteigen, wie die salzige Wärme des Mittelmeers ihn umfängt. Als er, die Reisetasche geschultert, in der Empfangshalle ankommt, ist er schweißgebadet.
„Andros!“
Takis steht winkend hinter der Absperrung. Sie umarmen sich, lachend und einander auf die Schultern klopfend.
Auf der Fahrt durch das abendliche Athener Verkehrschaos redet Takis ununterbrochen, erzählt von seiner neuen Flamme Elephteria – „Die mag´s am liebsten mit verbundenen Augen! Ich sag dir, echt scharf, Mann!“ – und von den bevorstehenden Familienfeierlichkeiten. Es wird ein großes Fest werden, oh ja, und natürlich würden sie Spaß haben. Andros lässt den Redefluss seines Freundes an sich vorbeiziehen, lächelt und nickt, schaut aus dem Fenster. Er fühlt sich müde und aufgedreht zugleich. Hier ist alles anders: fremdartig pulsierendes Leben.
Der Weihnachtsabend wird in der Anthoni´s Taverne stattfinden. Die Kinder schwärmen in die Nachbarschaft aus, um die Kobolde zu vertreiben, die sich nach alter Überlieferung in der Weihnachtsnacht über die Kamine der Häuser einnisten wollen. Die Frauen dominieren das Haus: Tanten, Nichten und Cousinen von Takis sind mit den Vorbereitungen für das Fest beschäftigt. Neugierige Fragen prasseln auf Andros ein, auf neckende Kommentare folgen Kaskaden lauten Gelächters. Der Geräuschpegel im Haus schwillt an, und ihm schwirrt der Kopf.
Um 21 Uhr ist es dann soweit, die gesamte Familie versammelt sich zum Weihnachtsessen bei Anthoni. Nach Vorspeisen und üppigen Grillplatten wird starker, griechischer Mokka serviert, dazu grellbunt bemalte, kleine Süßigkeiten. Frauen und Kinder schmettern die griechischen Versionen der Weihnachtslieder. Die Männer rücken die Tische beiseite, denn nun soll getanzt werden.
Die Tür zum Gastraum öffnet sich, weitere Freunde und Bekannte treffen ein, um mit der Familie zu feiern. Andros nippt an seinem Weinglas. Helles Frauenlachen tönt zu ihm herüber. Eine der Neuankömmlinge wirft ihren Mantel nachlässig auf einen Stuhl. Ihr rotes Kleid schimmert im Licht. Er reckt neugierig den Kopf, traut kaum seinen Augen: Das ist Elena!
Seit dem heißen, langen Sommer vor fünf Jahren hat er sie nicht wieder gesehen. Er erinnert sich an abendliche Spaziergänge mit ihr am Strand. Wie sie ihn manchmal angesehen hat, in den Pausen ihrer langen Gespräche: scheu, unschuldig, trotzig und gleichzeitig herausfordernd.
Aus dem schüchternen Mädchen ist eine Frau geworden – und was für eine Frau! Sie scheint von innen heraus zu leuchten, während sie inmitten der Frauen steht, lachend und gestikulierend. Noch hat sie seine Anwesenheit nicht bemerkt.
Die Weihnachtsmusik wird unterbrochen, das Licht gedimmt. Über dem ausgetretenen Parkett leuchten nun bunte Lichter. Orientalische Klänge ertönen, schleppend und schwül. Dann setzt eine tiefe rauchige Frauenstimme ein. Es geht um eine verlorene Liebe, soviel versteht auch Andros.
Im nächsten Moment sieht er, wie Elena sich zielgerichtet ihren Weg zur Tanzfläche bahnt.
Die Scheinwerfer malen bunte Kreise auf den hellen Boden, als sich die Frau im roten Kleid langsam dem Licht entgegen reckt. Lange schwarze Locken, die jetzt über ihre fast nackten Schultern rieseln. Gebräunte Haut in einem Hauch von Satin. Der Stoff ist so dünn, dass die Umrisse ihrer Brüste perfekt nachgezeichnet werden.
Es gibt wohl kaum einen Mann in diesem Raum, den dieser Anblick kalt lassen könnte.
Ihr üppiger, muskulöser Körper schiebt sich graziös über die Tanzfläche. Die runden Schenkel unter dem eng geschnittenen Rock greifen weiter aus. Die Füße in den roten Sandaletten bewegen sich, langsam und zögernd erst, dann schneller, entwickeln ein Eigenleben.
Elena folgt ihrem eigenen Rhythmus, den sie langsam steigert. Ihr Körper taucht in die Musik ein. Der Fuß geht voran, die Hüfte folgt zögernd, fast widerstrebend, zuckt zurück wie ein scheues Tier, bevor sich ihre volle ausladende Form entfaltet. Die Arme erheben sich nun, graziös wie Vogelschwingen, teilen die Luft. Ihre Hände schieben, drängen, locken, liebkosen, malen Kreise, während die Schultern rollende Wellen durch Brustkorb und Torso schicken.
Die Musik wird schneller. Elena tanzt.
Plötzlich sind sie nicht mehr in Anthonis Restaurant – sie sind im angesagtesten Club Athens. Angesagt und heiß, sehr heiß.
Einige der Männer sind aufgestanden, klatschen im Takt, feuern sie an.
Elena wirft den Kopf in den Nacken. Die Haut zwischen ihren Brüsten glänzt im wechselnden Farbenspiel der Scheinwerfer. Sie dreht sich, die Füße im Stakkato, die Arme erhoben wie eine Flamencotänzerin, ihre Silhouette gespannt wie ein Bogen. Sie füllt die Tanzfläche ganz aus.
Als die Musik verklingt, folgt nach einem Moment der Stille tosender Applaus. Elena wird in Arme gezogen, aufgeregte, begeisterte Ausrufe folgen. Sie löst sich lächelnd, wischt kleine Schweißtropfen von ihrer Stirn.
Endlich treffen sich ihre Blicke.
Das ungläubige Staunen auf ihrem Gesicht wandelt sich in pure Freude.
Da ist er wieder, dieser Blick aus ihren Augen, den er nicht vergessen konnte.
Andros erhebt sich von seinem Stuhl, als sie geradewegs auf ihn zugeht.
Eine Göttin in Rot, ihre Augen wie zwei strahlende Sterne.
Weihnachten beginnt für ihn genau jetzt, in diesem Moment.