Neuland Fortsetzung die Dritte
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Still hin und her schwankend, segelt ein abgestorbenes giftgelbes Blatt, von einem der Bäume unter deren Kronen sich Carla für wenige Minuten der Rast niederließ, auf ihren Oberschenkel nieder. Ein einziger Windhauch hat genügt um ein kleines Blatt in ihr Gesichtsfeld schweben zu lassen und sie aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart zu holen.
Carla wischt sich mit dem Unterarm über ihre etwas klebrigen Lippen, die letzten Spuren des verspeisten Apfels. Schwungvoll steht sie auf, ein flüchtiger Blick gilt ihrer noch immer schmerzenden Hand. Sie streckt sich, presst dabei die Arme in den Rücken.
Ihre geplante Route führt nun kontinuierlich Bergwärts. Sie befindet sich am Fuße eines Almgebiets, bunte Baumgruppen wechseln sich mit freiem Grasland ab. Vereinzelt dringt leises Kuhglockengebimmel an ihr Ohr.
Die frische Bergluft strömt tief in ihre Lunge, jeder Atemzug steigert ihr Wohlbefinden. Die Kirchturmspitze des kleinen Dorfes ihres Wohnortes ist längst hinter den bewaldeten Hügeln verschwunden. Carla hat Zeit, heute ist Samstag, sie ist alleine, Markus, auf Motivsuche für Bilder, zwei Tage unterwegs. Er plant eine Fotoausstellung.
Sie nähert sich einem kleinen Wäldchen. Im Vordergrund gelb-grün belaubte Birken, etwas dahinter einförmige Reihen von Nadelgehölz. Etwas trostlos diese Monokultur, zielstrebig gerade steht eine Fichte neben der anderen. Bestrebt so hoch wie möglich zu werden. Die unteren Äste abgebrochen, nur spitze, wie Stacheln, hervorragende abstehende Stummel. Erst weit Oben breiten sich die Äste zu einem grünen Nadeldach aus. Nahe dem blauen Himmel, nahe dem Schöpfer. Im Gegensatz dazu das feingliedrige Astwerk der Birken, ihre im leichten Wind flirrenden Blätter. Freude am Leben ausstrahlend.
Jüngere Artgenossen verflechten ihre noch zarten dünnen Zweige mit denen der Großen. Wie Mütter mit ihren Kindern. Liebevoll verspielt wiegen sie sich und wispern gemeinsam im Sonnenlicht. Sie suchen förmlich das Miteinander. Gemeinsam tanzen.
Überhaupt erinnert Carla dieses Bild an männlich und weiblich. Die scheinbar klar strukturierte Männerwelt, durch ihre Monotonie auch Einsamkeit ausstrahlend. Im stetigen Kampf größer, mächtiger und schöner zu sein als der neben sich. Carla ist es bewusst, dass dies eine Verallgemeinerung ist, eine schwarz-weiß Malerei. Aber trotzdem, etwas stimmt dabei schon. Etwas hat davon seine Richtigkeit. Ein wissendes Grinsen umspielt ihre vollen Lippen.
In wenigen Minuten soll Carla ihren Lieblingsrastplatz erreichen. Die angestrebte Hügelkuppe ist schon in Sichtweite, nur noch eine Wegbiegung und sie ist da. Carla kommt gerne an diesen ruhigen Platz, das sanfte Hügelland breitet sich weit überschaubar vor einem aus. Einziger Minuspunkt an diesem friedlichen Ort ist ein hässlich steil nach oben ragender Telefonmast. Ja man glaubt es kaum, sogar hier weit ab von den nächsten Gehöften hat die Zivilisation Einzug gehalten. Nur heute kommt noch ein gravierender Minuspunkt dazu. Ein umfangreicher Haufen von prall gefüllten Plastik und Leinensäcken gemischt mit alten Kleidungsstücken belagert förmlich ihre Bank. Und mitten in diesem Durcheinander thront eine skurrile Gestalt, auf ihrer Bank, ihrem Lieblingsplatz.
Missmutig zögerlich nähert Carla sich dem Fremden. Total in sich versunken, mit geschlossenen Augen, sein gebräuntes Gesicht der Sonne zugewandt sitz er da. Auf seinen übereinandergeschlagenen Beinen dudeln schmachtende Schlagerschnulzen aus einem Transistorradio. Sein nackter tiefgebräunter Oberkörper hebt und senkt sich im Gleichklang seines ruhigen Atems. Schläft er? Carla rückt dem Haufen an wild durcheinander gewürfelten Habseligkeiten einige Schritte näher.
Wer ist das, wo kommt der her? Ein Sandler auf der Alm? Eine gestrandete Existenz, fernab von Kanalisation und Asphalt. Mit all seinem Hab und Gut, aufgetürmt als mahnendes Zeichen seiner Intimsphäre. Sein Territorium, das sich mit ihm mühsam weiterbewegt, von Rastplatz zu Rastplatz. Fürs erste ein erschreckender Gedanke sich vorzustellen, wie dieser Mensch, vollgepackt wie ein Lastenesel, sich langsam weiterschleppt, von Ort zu Ort.
Ein Blick in sein wettergegerbtes Gesicht, das von einem struppigen grau melierten Bart wild umwuchert ist, lässt Carla an seinem Leidensweg zweifeln. Er sieht überaus zufrieden aus. Keine Spur von Missmut liegt auf diesem Gesicht. Ganz im Gegenteil, seine Mine verrät gelöste Heiterkeit. Carlas anfänglicher Argwohn beginnt zu schmelzen.
Er wendet bedächtig seinen Kopf, öffnet die Augen. Zwei lebhafte blitzblaue Äugelein funkeln sie an. Ein wissendes ironisches Lächeln begleitet diesen Blick. Lange sieht er sie so an, sagt nichts, hält ihren fragend prüfenden Augen stand.
Plötzlich beginnt ein klangmalerischer Singsang an Worten aus seinem Mund zu perlen. Carla steht leicht nach vorne gebeugt da, versucht einzelne Wortfetzen zu entschlüsseln, vergeblich.
Eine aberwitzige Situation, Udo Jürgens trällert sein Lied „siebzehn Jahr blondes Haar“ und dieser großgewachsene Kobold verwebt seine unverständliche Wortkaskade mit diesem Schlager Evergreen. Carla fühlt sich sogleich an einen Rummelplatz versetzt, wo sich auch die verschiedensten Melodien und Geräusche zu einem Einheitsbrei vermengen. Unvermittelt verstummt er, blickt ihr aber noch immer entgegen.
„Na schon wach, gut gevögelt heute Nacht, kleines Täubchen? Hat dein Ritter dich ordentlich gesegnet?“
Stille - Carla glaubt ihren Ohren nicht zu trauen, was erlaubt sich dieser Mensch! Sprachlos steht sie einfach da.
Ein gackerndes Kichern gurgelt jetzt aus seinem Mund.
„Schöne Äpfelchen hat die Meid.“
Carla blickt überrascht an sich herunter. Erst jetzt wird ihr bewusst dass ihre Trainingsjacke offen steht und ihr vom Wandern verschwitztes Unterhemdchen freizügige Einblicke gewährt. Einer spontanen schamhaften Regung zur Folge zuckt ihre Hand an den Reissverschluss.
Im selben Augenblick spürt sie wie Unmut und Widerspruchsgeist ihr in den Magen fährt. Nein, so nicht, denkt sich Carla
“ ich werde nicht klein beigeben wie eine Unterprimanerin.“ Was gibt es da zu verbergen? Und wieso? Sie ist diesem Mensch gewordenen Waldschrat ja keine Rechenschaft schuldig. Kampffreudig wie eine Gottesanbeterin tritt sie noch näher an ihn heran.
Zufrieden vor sich hin kichernd, legt er seinen, mit einer Schirmkappe geschmückten Kopf, in den Nacken.
„Oh ,oooh, diese Pracht, diese Herrlichkeit. Sie blendet mich, sie raubt mir meinen Seelenfrieden.“
Er kneift dabei seine Augen in einer spielerischen Geste zusammen, um nicht wie Atlas beim Anblick des Medusenhauptes zu Stein erstarren zu müssen.
Carla vermeint sich in eine andere Zeitschleife versetzt, so unwirklich und surreal erscheint ihr diese Begegnung. Einem Faunus mit Transistorradio stand sie bis dato noch nicht gegenüber. Carla fühlt sich schon versucht nach seinen Bocksfüßen und Schwanz Ausschau zu halten. Auch sein nicht gerade milder Geruch würde diesem Mischwesen, halb Mensch halb Ziege, zur Ehre gereichen.
Jetzt schlägt Carlas Liebe zur Geschichte und besonders zur griechischen Mythologie durch.
Faunus, auch als Wolfsgott bekannt, ist der altitalische Gott der freien Natur, der Beschützer der Bauern und Hirten, ihres Viehs und ihrer Äcker. Wie sein griechischer Gegenpart, der Gott Pan, sorgt Faunus für die Fruchtbarkeit von Mensch und Tier. Ähnlich dem Satyr gilt er als ein Schalmei oder Flöte spielender, gehörnter Waldgeist . Na ja mit einer etwas großzügigeren Auslegung ging der Radioapparat sicher als neuzeitliche Schalmei durch.
Ein Auge langsam öffnend, blinzelt er sie verschmitzt an. Langsam löst er seine linke Hand vom neuzeitlichen Klangkörper und umfasst ohne zu zögern Carlas eine Brusthälfte. Warm und sanft spürt sich seine Hand durch den dünnen Wollstoff ihres Unterhemdchens an. Für einen Augenblick ist Carla versucht sich der erotisch aufkeimenden Begierde hinzugeben. Aber dann schlägt die Vernunft, die Angst vor ihrer eigenen Sinnlichkeit durch. Halb stolpernd, wendet sie sich erschrocken von ihm ab und hastet den Waldweg zurück Richtung schützendes zu Hause.
Fortsetzung folgt
lg michael