Die lebensrettende Zigarette
Es krachte. Es donnerte. Es war unerhört laut. Diesen Lärm konnte man sich niemals vorstellen. Das Rattern. Das Tosen. Dazwischen Schreie von Verletzten und Sterbenden. Flugzeuge, die den Himmel nicht in Ruhe ließen. Maschinengewehrsalven aus allen Richtungen, die nicht mehr zu unterscheiden waren in Freund oder Feind. Der jugendliche Deutsche, gerade mal fünfzehn Jahre alt, fragte sich, warum er hier war.
Er hatte es vergessen, wie er mit Freude von zuhause weg ging. Das elende Dorf verlassen, endlich was von der Welt sehen. Frankreich, Italien, Spanien. Ohne mit seinen Kameraden in den Krieg zu ziehen, wäre er doch für immer gefangen geblieben in den familiären, gesellschaftlichen und kirchlichen Zwängen des kleinen Kaffs in einem armseligen Spessarttal. Hauptsache raus. Das bisschen Krieg konnte man dafür schon in Kauf nehmen.
Aber es war kein bisschen. Es war brachial. Massiv. Mörderisch. Wie viele Jungs in seinem Alter hatte er schon sterben sehen. Gerade standen sie noch neben ihm im Schützengraben, dann ein Blitz, ein Knall, und einem Freund fehlte ein Arm oder ein Bein. Oder da, wo sich früher der muskulöse, schlanke Bauch befand, war jetzt nur noch ein blutiges Loch, aus dem die Gedärme quollen. Sie jubelten dann nicht mehr, machten keine Witze mehr über schöne Französinnen, sie wimmerten nur noch:
„Mama!“
Mama. Wie gerne wäre er jetzt zuhause. Er konnte nicht sagen, ob ihm seine Mutter jeweils Liebe gezeigt hatte. Trotzdem würde er jetzt lieber in der Küche seiner Mutter sitzen, am warmen Ofen die eingefrorenen Füße wärmen und einen Pfefferminztee, von frischem Blättern aus dem Garten, trinken. Sie hatte keine Reaktion gezeigt, als er ging. In frischer Uniform, mit seinem strahlenden, fröhlichen Lächeln, eingereiht in die Truppen des jungen Kanonenfutters. Vielleicht vermisste sie ihren Sohn gar nicht. Oder war sie nur versteinert, weil sie wusste, was kommen würde?
Jetzt ging es jedoch nur ums nackte Überleben. Er rannte über irgendeinen französischen Friedhof. Er wusste schon lange nicht mehr, wo genau er war und es war ihm auch scheißegal. Die Vorgesetzten gaben keine Befehle mehr aus, es herrschten nur noch Panik, Chaos und Angst. Er hatte den Anschluss an seine Truppe verloren. Maschinengewehre ratterten unaufhörlich, hier und da blitzen Mündungsfeuer auf. Ein Grabstein, den er gerade passierte, zerplatzte und ein Splitter zerkratzte ihm die Wange.
„Über die Mauer, ich muss über die Mauer“, dachte er hektisch atmend. Hinter der Mauer waren Bäume und Gebüsch, dort könnte er sich verstecken und abwarten.
Er rannte und rannte. Die fünfzehn Meter bis zur Mauerer schienen lang wie eine von Hitlers Autobahnen. Ohne Deckung rannte er um sein Leben, setzte zum Sprung an, wuchtete seinen Körper mit den Händen auf dem Mauersims über das Bauwerk und kam krachend im Unterholz an. Er lag auf dem Rücken und atmete erleichtert aus.
Jemand lud seine Waffe nach. Er hörte ein Rascheln neben sich. Langsam drehte er den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Schemenhaft erkannte er einen Soldaten mit Maschinengewehr im Anschlag, und als sich seine Augen an die Dunkelheit im Dickicht gewöhnt hatten, erkannte er die Uniform eines Amerikaners.
Seltsamerweise trat ein Moment der Stille ein. Um sie herum war immer noch das Lärmen des Krieges hörbar. Aber dieser Ort, dieses kleine Nest im Gestrüpp war still. Beide hörten nur das eigene schwere Atmen der Angst und das Atmen des Fremden in der feindlichen Uniform.
Sie erkannten schnell, dass sie altersmäßig nicht weit auseinander waren. Dumme Jungs, die sich in diesen bescheuerten Krieg hatten mitreißen lassen. Junge Männer, die sich in nackter Angst ums Überleben hinter dieser Mauer verschanzt hatten. In friedlichen Zeiten könnten sie genauso gut zusammen Fußball spielen oder sich gegenzeitig fremde Länder zeigen. Sich lachend über die jungen Mädchen an ihren Schulen unterhalten. Aber jetzt war Krieg.
Sie schwiegen und starrten sich an. Jeder erkannte die Angst in den Augen des anderen. Das panische Atmen. Jeder roch den stinkenden Schweiß des Horrors.
Der junge Deutsche ließ sich zurück fallen, er war bereit, sich seinem Schicksal zu ergeben und stöhnte in den Himmel:
„Was gäbe ich jetzt für eine letzte Zigarette?“
„Cigarette? Do you have some fire?“
Der Amerikaner hatte erstaunlich freundlich gesprochen. Wollte er wirklich Feuer vom deutschen Soldaten haben? Der junge Deutsche sah auf und tatsächlich: Der Amerikaner hatte die Waffe fallen lassen und hielt ihm eine Packung „Camel“ hin. Eine Zigarette streckte einladend ihren Hals aus der Verpackung. Mein Gott, was für ein Glück, amerikanische Zigaretten!
„Feuer, ja ich habe Feuer!“. Der Deutsche kramte ein altes Feuerzeug aus seinen Taschen, Erbstück des Großvaters. Er hatte es gesten- und wortreich von seinem Opa überreicht bekommen, als er eingezogen wurde.
Er nahm sich die Zigarette, wartete bis sich der Amerikaner ebenfalls eine in den Mund gesteckt hatte und zündete sie ihm an, um sich gleich danach die eigene anzufeuern und den Rauch tief einzuziehen.
Sie rauchten schweigend und starrten in den Mond. Was hätten sie auch sagen sollen? War es interessant zu wissen, wo der andere herkam, wer er war, warum er hier war? Wozu? Stunden später würden sie sich vielleicht im Gefecht über den Haufen schießen. Oder einen ihrer Kameraden.
Sie hatten aufgeraucht. Sie winkten sich friedlich lächelnd zu und jeder schlich sich an der Mauer entlang in entgegen gesetzter Richtung davon.
Manchmal können Zigaretten Leben retten.
(__(____(((~~
(Für meinen Vater, der mir so eine Geschichte erzählte, als ich noch viel zu jung war, um sie zu begreifen. Dies ist eine Art Rohfassung, aber schon so lange trage ich sie mit mir rum. Das musste jetzt raus ...)