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Ich war mal wieder zu Besuch bei meiner Exfrau. Seit zwei Jahren…
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Der Schläfer

It´s me!
*********ld63 Frau
8.191 Beiträge
Themenersteller 
Der Schläfer
Der Schläfer

Das Gras ist hoch und so weich, dass ich hindurchgehen kann, ohne den Widerstand der Grashalme an meinen Beinen zu spüren. Es ist frühlingshaft warm, und eine leichte Brise streicht über mein Gesicht. Ich fühle mich sehr leicht, als ob mein Körper kein Gewicht hätte. Als ich meine Hände ausstrecke und betrachte, stelle ich fest, dass sie ohne Narben und Falten sind.
Noch ganz fasziniert von dieser Entdeckung registriere ich den herannahenden Schmetterling erst, als er sich auf meinen Arm setzt. Ich bleibe ganz still, vertieft in den Anblick der hellblauen Flügel des Falters, die ein in sich verschlungenes Muster zeigen. Anmutig verschwindet er zwischen den weißen Blüten der Apfelbäume.
Dann tritt meine Frau hinter den Bäumen hervor, wie ein Licht, das aus dem Morgennebel geboren wird. Sie kommt zu mir und lächelt mich an. Ich bin so glücklich: Endlich, endlich bist du zurück!
Ich strecke die Hand nach ihr aus, doch ich kann sie niemals berühren.
Ich greife immer ins Leere.


Alle denken es, keiner spricht es aus.

Wenn sie nicht so sehr darauf drängen würden, dass ich zweimal am Tag flüssige Aufbaunahrung per Magensonde zulasse, wäre ich schon längst nicht mehr da.
Das denken sie alle: meine Schwester, mein Hausarzt, der Psychiater, die Pflegekräfte.
Und die Anderen, die auch hier leben.
Manchmal wird es mir schlecht von den Infusionen, von diesem zähflüssigem Zeug. Immer dann, wenn es zu schnell in meinen Magentrakt tröpfelt. Doch sie pochen auf die 70-kg-Marke, die erreicht und gehalten werden muss, als ob ihr Leben davon abhinge – nicht meines.

Ich bin der Gefangene meines Körpers und zugleich gefangen in diesem Gesundheitssystem, deren Hüter verfügen, mich in die Psychiatrie einzuweisen, sollte mein Körpergewicht unter 55 kg fallen.
Zweimal war es schon soweit. Ich lag wochenlang auf der Intensivstation, auf dem schmalem Grat zwischen Leben und Tod. Sie haben mich nicht gehen lassen, und ich selbst konnte es nicht.
Die Materie ist manchmal zäher, als man sich so vorstellen kann.

Es gibt Momente, ja, ganze Tage, in denen ich mich in der Gewissheit wiege, ein völlig normales Leben leben zu können – wenn sie mich nur alle in Ruhe lassen würden.
Wenn das endlich mal aufhören würde mit den Vorschriften und erhobenen Zeigefingern.
Ich bin doch ein freier Mensch – oder etwa nicht?

Dann fange ich mit einem meiner Wächter hitzige Diskussionen an, um dann die nächste Infusion zu verweigern. Am Ende werde ich wütend, egal was sie sagen, und knalle mit der Zimmertür.
Das ist dann schon das Höchste der Gefühle.
Oder ich schleiche mich stillschweigend davon, ohne jemandem Bescheid zu geben, gehe ein paar Häuserblocks weit zur Bank oder zu meinem Friseur.
Mittlerweile wird das, wenn auch zähneknirschend, von allen akzeptiert. Sie wissen ja, dass ich immer zurückkomme, sobald meine Kräfte aufgezehrt sind.
Meine Fluchten dauern selten länger als zwei Stunden.

Die Anderen sehen mich fast immer in schlafendem Zustand.
Nach gemeinsamen Mahlzeiten in der Wohnküche nicke ich mit steter Regelmäßigkeit am Tisch ein. Mein Kopf fällt dabei meist in den Nacken, seltener nach vorn auf die Brust.
Gerade eben palavere ich noch über das Mittagessen mit meiner Zimmernachbarin, Sekunden später bin ich plötzlich und ohne Vorwarnung weg gedriftet, in Morpheus´gnädige Arme.
Nur mein Körper ist noch anwesend, und sein Schnarchen erfüllt den Raum, legt sich über das verlegene Schweigen der noch Anwesenden, die jetzt einer nach dem anderen den Raum verlassen.

Ich erwache meist erst, wenn mich jemand laut anspricht.
Zum Beispiel die junge Hauswirtschaftskraft, die netterweise so lange um mich herum geputzt hat, bis nichts mehr zum Wischen übrig geblieben ist.
Kurz vor Dienstschluss zupft sie mich dann doch zaghaft am Hemdsärmel: „Hören Sie, Herr W., wollen Sie sich nicht lieber ins Bett legen, wenn Sie so müde sind?“
Ich schlage die Augen auf und schaue in dieses unschuldige helle Gesicht, das noch kaum vom Leben gezeichnet ist, in blasse Augen hinter Brillengläsern, die mich mit einer Mischung aus Mitleid und Ungeduld ansehen.

Das Mitleid in ihrem Blick überwiegt jedoch, und so nehme ich all meine Körperbeherrschung zusammen und erhebe mich vom Stuhl. Mein Körper schwankt und neigt sich beim Gehen gefährlich nach vorn, aber ich schaffe es immer irgendwie in mein Zimmer.

Würde dieser Akt nicht meine ganze Kraft und Aufmerksamkeit beanspruchen, würde ich ihre Blicke registrieren, die auf meinem Rücken, auf meiner hohen Gestalt, ruhen. Ich könnte die Gedanken der anderen hören, wie ein kollektives Zischen, ein empörter Aufschrei:
Das geht doch nicht, dass so einer sein Leben verschläft. Das ist doch nicht richtig!
Und der fährt auch noch mit seinem Auto herum! Der hätte doch schon längst seinen Führerschein abgeben müssen!

Ihr wisst nichts über mich. Und das ist auch gar nicht nötig.
Das würde nichts ändern an eurer Meinung über mich.
Und nichts an meinem Unglück.

Ihr denkt, mir ist alles egal.
Wenn ihr mich nicht ständig anschieben, bitten und mir drohen würdet, würde ich jämmerlich in meinem Bett verenden. Ich würde zumindest die Tage im Schlafanzug verbringen und mir die Mahlzeiten ins Zimmer bringen lassen, um sie dann kaum anzurühren.
An manchen Tagen tue ich das, ja, ich nehme mir einfach das Recht heraus.

Vor einigen Wochen gab es eine Mitbewohnerin in unserer Wohngruppe, die jedes Taktgefühl vermissen ließ. Jedes Mal, wenn ich am Tisch einschlief, erhob sie ihre Stimme und hielt in ungehaltenem Ton einen Vortrag darüber, wie sehr sie sich durch mein Schnarchen gestört fühle. Das tat sie bevorzugt dann, wenn sie das zweite Glas Wein intus hatte, und das schon zum Mittagessen, man stelle sich das mal vor.

Nicht, dass ich ihr nichts hätte entgegnen können. Als ehemaliger Studienrat bin ich den meisten, die hier leben, intellektuell gesehen weit überlegen. Darauf muss ich nicht mal stolz sein, denn das verbessert mein Leben nicht im Geringsten.
Trotzdem blieb ich in dieser Zeit meist auf meinem Zimmer, weil ich nicht stark genug war, mich den plumpen Feindseligkeiten dieser Frau auszusetzen.

Ihr wisst nicht, wo ich bin, wenn ich die Augen schließe.
Ihr könnt nicht wissen, dass es dort, wo ich hingehe, licht und hell ist. Dass ich mich dort bester Gesundheit erfreue, weil der Körper nur eine beliebige, austauschbare Erscheinung geworden ist, nur dazu da, um mir immer noch Individualität vorzugaukeln in einer Sphäre, in der materielle Werte nicht mehr zählen.

Im Idealfall sind meine Träume tatsächlich so ähnlich wie manche Sequenzen, die sich ein Autor ausgedacht haben könnte, der Liebesfilme für Hausfrauen schreibt: unnatürlich sanfte Farben, romantische Wald- und Wiesenlandschaften, steinerne Pfeiler in verlassenen Parklandschaften. Alles wirkt, als sei es mit Weichzeichner retuschiert.
Allein die Hintergrundmusik fehlt: In meiner Anderswelt ist es immer still.

Meine Frau erkrankte mit 55 Jahren an Brustkrebs.
Schon im dritten Jahr nach der Operation kam der Krebs zurück und nahm sie mir schneller, als mir lieb war. Sie starb an einem Freitagnachmittag, während ich in einem 10 km langem Stau auf der Autobahn Richtung München eingekesselt war. Ich fluchte, schimpfte und schwitzte in meinem Porsche in jener Augusthitze. Ich flehte und betete gar zu Gott. Doch er hörte mich nicht.

Als ich Stunden später in der Klinik ankam, hatte sie sich bereits auf ihre letzte Reise gemacht.
Ich betrachtete ihr lächelndes Gesicht, das nun so glatt und friedlich aussah. Der Tod hatte alle Zeichen ihrer Krankheit gelöscht, in einem letzten Akt der Barmherzigkeit.
Dieses letzte Bild von ihr hat sich mir unauslöschlich in den Kopf gebrannt.

Seither suche ich sie, wann immer ich die Augen schließe.
In meinen glücklichen Träumen bin ich ihr nahe.
Meine Triskele
*********_Arte Frau
13.809 Beiträge
Oh mein Gott ist das schön. Ich glaube, ich habe die schlimmste Gänsehaut seit Jahren und sie ist immer noch da!

Ich verbeuge mich vor Deinen Fähigkeiten mich mit dieser Geschichte (Kismet war ja auch schon nicht ohne) in den Bann zu ziehen.

Ich glaube, ich muss Taschentücher holen. Menno, berührt mich die Geschichte.
Mir fehlen gerade die Worte für diese wunderbare Geschichte.
Ja, sie berührt, und ich muss auch nach Taschentüchern suchen.

Danke für diese feine Beobachtung und Interpretation.
Sehr tief und berührend!
Direktheit und Sensibilität gehen hier einträchtig zusammen.

Chapeau!
*******tia Mann
5.094 Beiträge
Schläfer
Wenn ich das lese, wünsche ich mir einen Menschen, mit dem ich jeweils so verbunden sein könnte. Und gleichzeitig habe ich Angst davor, weil ich mir den Schmerz des Abschieds ersparen will. Grausam schön, so ist das Leben!
*****har Paar
41.021 Beiträge
JOY-Team Gruppen-Mod 
Kann mich nur anschließen: Großartig! Geht direkt und schnörkellos ins Herz ...

(Der Antaghar)
Uff!
Ja, mehr fällt mir gar nicht ein.
Ich habe großen Respekt vor solchen Geschichten...

LG
Alf
Ergreifend. Hilfreich. Dankbarkeit.

Ich weiß, es wird dünn gesät in diesen Zeiten, aber diese menschliche Kostbarkeit schreit nach einer Feder.

Herzliche Grüße

Tom
**********Engel Frau
25.346 Beiträge
Gruppen-Mod 
Und ich sitze jetzt hier und heule.

So sehr ergreifend geschrieben. Danke dafür!
*******cher:
diese menschliche Kostbarkeit schreit nach einer Feder.

Das finde ich auch.
*****har Paar
41.021 Beiträge
JOY-Team Gruppen-Mod 
Na, dann wollen wir mal ...

Glückwunsch zur Feder, liebe Into!

(Der Antaghar)
Feder
Herzlichen Glückwunsch!
Tolle Arbeit!
Mach weiter so!

*top*
It´s me!
*********ld63 Frau
8.191 Beiträge
Themenersteller 
Wow...
... bin gerade sprachlos... danke für diese Auszeichnung!!!

Und Danke euch allen für Euer Feedback!! Ich habe mich sehr gefreut darüber -
umso mehr, weil ich garnicht damit gerechnet habe...

Ehrlich gesagt, hätte es dem Text sicher gut getan, ich hätte ihn noch ein bisschen liegen lassen und später nochmal überarbeitet... immer noch so viele Fehler *huch*

Wer also Lust hat, ihn noch auseinanderzunehmen oder ein paar auffällige Ungereimtheiten hier aufzulisten: seid herzlich dazu eingeladen!!!

Berührt sein, ist die eine Sache...
Aber ich will ja auch gut schreiben!!

DICKES DANKE!
*love2* Into
******ier Frau
36.568 Beiträge
Ich habe die Geschichte heute erst gelesen.
Ich bin auch sehr berührt.
Ja, die Feder ist berechtigt.
*spitze*
Fehler sind mir keine aufgefallen. *g*
It´s me!
*********ld63 Frau
8.191 Beiträge
Themenersteller 
Epilog
Seit Monaten werde ich täglich ein weniger leichter, innerlich wie äußerlich.
Als ich schweren Herzens den Porsche verkauft hatte, war auch dieser letzte Faden durchtrennt.

Dann folgten quälende Diskussionen um Patientenverfügungen wegen meiner Ablehnung medizinischer Maßnahmen. Noch konnte ich doch für mich selbst sprechen!

Endlich Stille und Akzeptanz. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen.
Selbst die panischen Züge meiner Schwester wurden friedlich in den letzten Tagen.

Heute stehe ich wieder vor der Tür, und endlich kann ich sie öffnen.
Das Licht, das ich sehe, ist sehr hell und hüllt mich ganz ein.

*

R.I.P. lieber H. *blume*
Gute Reise!
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