Stereotypisches Thekenmännergespräch (Part 12)
Leichenschmaus
Ich traf mit Herbert und einigen anderen Kollegen aus dem Gewerbeverein in Helgas Kneipe ein, nachdem wir den Fußmarsch vom Friedhof zur Gaststätte durch den unfreundlichen, feucht-kalten Märztag zurück gelegt hatten. Ich hatte noch keine Gelegenheit, meine Gedanken über die Begegnung mit Paula zu sortieren, denn auf dem Weg quatschten wir über allerlei Erinnerung an Helgas alten Herrn, dessen Urne gerade feierlich in der eiskalten Erde versenkt wurde. Wir tauschten postume Komplimente aus über seine Arbeit als Tischler und sein rege Beteiligung am Ortsgeschehen. Wo es etwas zu organisieren und zu feiern gab, war Egon voller Hingabe dabei und wusste die ratlosen Passiven zu beteiligen.
Bei Helga waren bereits alle Tische besetzt. Einige von uns drängten sich noch in kleine Lücken auf den Bänken oder rückte Stühle an Tische. Ich zog meinen Stammplatz rechts neben dem stummen Olli an der Theke vor. Herbert, der Metzger, setzte sich ebenfalls zu mir und noch einen Platz weiter hockte Klaus Schmidt – der mit ‚dt’ wie ‚Damentoilette’.
„Servus Peter“, grüßte er mich an Herbert vorbei: „Was ist denn heute los hier? So voll mitten unter der Woche?“
„Leichenschmaus für Egon, den alten Tischler“, antwortete ich freundlich.
„Verstehe. Den kannte ich kaum ...“
„Ich schon. War ein feiner Kerl!“
„Yep“, fügte Herbert hinzu.
Helga stellte jedem einen Schnaps vor die Nase.
„Geht aufs Haus“, nickte sie aufmunternd, mit einer Mischung aus Mitleid und Rührung im Gesicht. Der Mund lächelnd, die Augen traurig.
„Dann auf Egon!“, erhob Herbert die Stimme:
„Der Mann, der die Ziellosen apportieren, die Faulen zu Fleißigen konvertierten und uns alle oft genug die schlechte Laune verlustieren lassen konnte!“
Ich blickte erstaunt zu Herbert - der poetische Metzger, unglaublich. Instinktiv und voll echter Rührung legte ich ihm den Arm um die Schulter und stieß mit ihm an:
„Auf Egon!“
Es gab Häppchen, die auf Platten gereicht wurden, oder wahlweise Kaffee und Kuchen. Nach einem Kaffee ging ich zum Bier über, verdammt früh. Normalerweise trifft man mich selten vor der Tagesschau beim Trinken in der Kneipe an. Ich ließ meinen Blick über die Menge an den Tischen schweifen, meine Augen suchten unweigerlich nach Paula. Sie saß auf einer Bank an der Wand, zwischen sich und ihrem Mann die Kinder, ansonsten Verwandte und enge Freunde. Hatten Paula und ihr Mann die besten Jahre hinter sich? Ich kannte das von anderen Paaren:
Waren sie ein verliebtes Paar trotz Kindern, saßen sie nebeneinander, die Kinder rechts und links verteilt. Paare, die sich nichts mehr zu sagen hatten, platzierten den Nachwuchs als Schutzschild zwischen sich. Oder als Puffer. Oder als Sicherheitsabstand. Oder als emotionale Mauer.
Die Stimmung im Saal war nicht traurig. Die Trauergemeinde schwatzte, lachte, tauschte Anekdoten aus. Zotiges Gelächter wechselte sich mit kollegitvem „Ja,Ja, Ja“-Kopfnicken ab.
Der stumme Olli lenkte mich von meinen Beobachtungen ab:
„Ich hab noch einen Eckschrank vom Egon.“
„Mir hat er eine 1a-Verkaufstheke für Unterwegs gebaut“, fügte Herbert hinzu.
„Mir hat er meine erste Jugendliebe gezeugt“, platze es leichtsinnig aus mir heraus.
„Ja, die Paula, war schon ein heißer Feger. Die mochte jeder …“
Dieser Kommentar von Herbert kam ohne jede Wertung rüber:
„Die war nicht so ein Mädchen zum doof finden, die war ein echt guter Kumpel.“
Stimmt Herbert, ein Kumpel, aber trotzdem bildhübsch. Auf dem Schulhof immer umringt von einer Eskorte aus Anhängern und unglücklich Verliebten, aber dabei nie eitel oder Tussi-Tussi …“
Ich seufzte. Erinnerungen sind hungrig, obwohl solche Jugendzeiten eigentlich keine Bedeutung mehr haben sollten, wenn man auf die Fünfzig zugeht und genug gescheiterte Beziehungen hinter sich hat. Jedenfalls rational betrachtet.
„… und der Peter war der einzige, der sie geküsst hat!“ Jetzt war es Herbert, der den Arm um mich legte und mir sein Bierglas mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht zum Anstoßen vor die Nase hielt:
„Ich habe dich damals beneidet!“
„Echt?“
„Ja!“
„Prost.“
Wir schwatzten bierselig weiter, schwelgten in Erinnerung, lästerten über den Klüngel im Gemeinderat und machten uns über die Scheinheiligkeit der Würdenträger beider Konfessionen lustig:
„Im Pfarrhaus geht es rund, da treibt’s der Pfarrer bunt!“, lachten wir über Herberts Reim.
„Ich glaube auch nicht, dass die Haushälterin so eine keusche Vestalin ist, wie sie gerne vorgibt.“
„Was genau ist eigentlich eine Vestalin, Peter?“
„Eine keusche, römische Priesterin der Göttin Vesta“, antwortete eine wohlklingende, weibliche Stimmer hinter meinem Rücken, die mir sofort eine Gänsehaut der Aufregung über den Rücken jagte.
Ich drehte mich zu Paula um und blickte direkt in ihre graugrünen Augen, die mich still und fest fixierten.
„Schwarz steht dir gut“, sagte sie lächelnd und stellte ihr Weinglas auf dem Tresen ab.
Einem ungebremsten Impuls folgenden, erhob ich mich von meinem Hocker und umarmte Paula. Zuerst unsicher, dann aber etwas fester, sobald ich spürte, dass sie meine freundschaftliche Geste erwiderte und ihre Arme ebenso fest um mich legte. Ich schloss kurz die Augen, bevor das ganze Gefühlschaos aus Beerdigungsmelancholie und Wiedersehensfreude meine Tränendrüsen aktivieren konnte.
Paula fühlte sich so gut an. Anders als früher, irgendwie größer und kräftiger, aber immer noch sehr vertraut. Ihre Hände streichelten sachte über meinen Rücken, dabei entging mir nicht, wie ihr mit dem Alter gewachsener Busen auf meine Brust drückte. Fast schämte ich mich für die damit verbundene, freudige Erregung.
Als ich meine Lider wieder öffnete, blickte ich durch meine leicht verschleierten Augen über Helgas Rücken. Ihr Mann saß am Tisch und starrte mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Neugier und Misstrauen im Gesicht zu uns herüber.
Um unsere Begegnung etwas förmlicher wirken zu lassen, reichte ich Helga die Hand:
„Tut mir wirklich leid mit deinem Vater, ich konnte ihn wirklich gut leiden!“
„Ich weiß, danke. Und er mochte dich auch. Sein Ende war absehbar und ein Erlösung, die letzten Monaten war nicht leicht für ihn – und die ganze Familie.“
„Tut weh, oder?“
„Jetzt nicht mehr. Wir hatten genug Zeit für Abschied und Trauer.“
Jetzt erhob sich auch Herbert und drückte Paula die Hand:
„Mein Beileid, Paula“, doch er fügte mit einem Lächeln hinzu:
„Jetzt kann Egon den Saftladen da oben ordentlich aufmischen und ein wenig Schwung in die Bude bringen!“
Paula lachte: „Das wird er sicher tun, zum Teufel! Aber wenn ihm die Engel seine Zigarillos und den Likör verbieten, wird er wahrscheinlich die Hölle vorziehen.“
Wir schmunzelten, hoben die Gläser und prosteten uns zu:
„Auf Egon, trink einen für uns mit, wo immer du jetzt bist!“
Merkwürdig, obwohl ich seit Jahren nicht mehr geraucht hatte, spürte ich spontan das Verlangen nach einer Zigarillo:
„Wie gerne würde ich jetzt eine von Egons Zigarillos rauchen.“
Helga hatte mitgehört:
„Ich habe noch welche hier!“ Sie deutete nach hinten auf ein Regal, in dem verschiedene Rauchwaren gestapelt waren.
„Ich möchte aber keine Packung kaufen, ich will nicht mehr damit anfangen“, erwiderte ich.
Helga zog eine Packung aus dem Regal, entfernte die Folie, durchtrennte das Steuerzeichen und klappte den Deckel der Packung auf, die sie uns vor die Nase hielt:
„Ich gebe eine Runde aus.“
„Das ist aber nicht gesundheitspolitisch korrekt“, warf Herbert ironisch ein.
„Scheiß drauf, lasst uns nach draußen gehen!“, forderte uns Paula auf.
Wir nahmen den Hinterausgang und setzten uns dort auf eine Bank unter einem Vordach, Paula zwischen Herbert und mir. Aus dem Nieselregen war ein beständiger Wolkenguss geworden. Trotzdem konnte man das Plätschern des Bachs gegenüber der verkehrsberuhigten Nebenstraße hören.
Drei Nichtraucher mit je einer Zigarillo. Wir kicherten wie Kinder, die ihre erste heimliche Zigarette teilten. Wir zündeten uns die Dinger mit Helgas Streichhölzern an. Ich zog den Rauch nur leicht ein, das Aroma durchströmte meine Atemwege. Allen Befürchtungen zum Trotz bekam ich keinen Hustenanfall. Genüsslich blies ich den Rauch aus und schaute der Wolke nach.
Die Ruhe wurde durch Herberts Hustenanfall gestört. Ein echter Reizhusten mit tiefem Gurgeln. Sein Gesicht wurde abwechselnd rot und weiß.
„Ich glaube, ich muss mal kurz …“, würgte er in einer Hustenpause die Worte heraus.
Herbert wankte über die Straße und verschwand im Gebüsch am Bachufer. Die folgenden Geräusche, die zu uns herüber drangen, kennt jeder, der sich schon mal das Essen durch den Kopf hat gehen lassen.
Paula und ich schauten uns an und lachten:
Wie früher, weißt du noch, als wir beim heimlichen Rauchen beinahe die Scheune von Bauer Eckhard abgefackelt hätten?“ Bei dieser Frage hielt sie sich an meinem Arm feste und lehnte sich leicht an mich.
„Ja klar“, antwortete ich:
„Und wenn ich den Bach sehe, muss ich immer an unseren Stausee denken, den wir bauen wollten, und damit den Fischweiher weiter unten im Tal trocken gelegt hatten.“
„Ja, die Zeit war …“
Weiter kam Paula nicht. Wir hörten einen kurzen Aufschrei aus Herberts Richtung, dann ein platschendes Geräusch, gefolgt von einem lauten und deutlichen „Scheiße“.
Wir liefen nach drüben und schauten durchs Gebüsch. Herbert kniete im Bachbeet und schaute mit einem jämmerlichen Gesichtsausdruck aus seiner nassen Wäsche.
„Ich bin abgerutscht. Das sind die wahren Gefahren des Rauchens, sage ich euch!“
Wir reichten ihm die Hände und zogen ihn zu uns hoch auf das Ufer.
„Ich geh dann wohl besser heim“, brummelte Herbert.
„Brauchst du Hilfe?“, fragte ich ihn besorgt.
„Keine Bange, ist ja nur um die Ecke, die paar Meter schaffe ich schon alleine.“
Damit watschelte er, mit laut knautschenden Geräuschen seiner nassen Lederschuhe, davon.
Wir gingen zurück zur Bank Ich freute mich dabei heimlich darüber, Paula jetzt für mich alleine zu haben. Doch bevor wir uns setzen konnten, öffnete sich die Tür und Paulas Mann lugte heraus:
„Die Kinder wollen nach Hause. Lass uns gehen!“
Paula nickte nur.
Sie drehte sich zu mir um:
„Also dann …“
Ihre Augen durchsuchten mein Gesicht.
„Tschüss“, flüsterte ich leise.
Die Zigarillos rauchten noch im Aschenbecher. Egon zu Ehren entschloss ich mich, den Klimmstängel fertig zu rauchen. Ich schaute in den dunklen, verregneten Himmel und raunte:
„Schau’n mehr mal!“
Paulas Zigarillo erlosch ungeraucht im Aschenbecher.