Stereotypisches Thekenmännergespräch (Part 11)
Beerdigung
Die letzten drei Tage, seit dem Abend mit Roland in Helgas Kneipe, war ich abends brav – und trocken - zuhause geblieben. Der Auftrag von der Gemeindeverwaltung kostete enorm viel Zeit, und da ich Weltmeister im Zeit vertrödeln – Kaffee trinken, Zeitung lesen, E-Mails checken und beantworten, Youporn besuchen und sich einen schütteln – war, wurde es meist später Nachmittag, bis ich wirklich zu arbeiten begann.
„Vielleicht sollte ich mir ein Büro mit festen Öffnungszeiten suchen, um mich selbst zum regelmäßigen Arbeiten zu zwingen.“ Noch während ich gedankenverloren aus dem Fenster in die Morgensonne starrte, klingelte das Telefon:
„Herbert hier. Du Peter, hast Du daran gedacht, zu Egons Beerdigung zu gehen? Der war schließlich jahrelang Mitglied in unserem Verein.“
„Oh, das wusste ich gar nicht. Das habe ich wohl in den Jahren, die ich nicht hier war, nicht mitbekommen. Danke für die Info. Ein Grund mehr, hinzugehen!“
„Also dann kommst Du? Wir sehen uns. Und rasier Dich mal.“ Herbert kicherte freundschaftlich ins Telefon.
Also dann. Auf zur Beerdigung. Ich musste mich wohl oder übel den Emotionen stellen, die vor dem Grab des Vaters meiner Jugendliebe auf mich warteten.
Beim Blick auf meine Herrengarderobe fühlte ich mich seltsam minderwertig. Ich probierte meinen letzten, verbliebenen, schwarzen Anzug an. Die Hose hing an mir wie ein welker Salat. War ich geschrumpft, seit ich das Ding zum letzten Mal getragen hatte? An der Taille zu eng, an den Füßen zu lang. Also wählte ich eine schwarze Jeans und nahm das schwarze Sakko des Anzugs. Dazu ein schwarzes Hemd ohne Krawatte. Ich konnte diese Halswürger einfach nicht ertragen. Das Spiegelbild befriedigte mich: Men in black!
Die Beerdigung war für drei Uhr angesetzt. Ich beschloss, noch eine Runde zu schlafen. Zwischen zwölf und ein Uhr hatte mich bisher noch nie jemand telefonisch gestört, und mein Biorhythmus war eindeutig für einen Mittagsschlaf nach dem Frühstück.
Ich träumte dabei – wie so oft bei einem Nickerchen – sehr intensiv. Ich wurde zurück versetzt in die Zeit, als ich in der fünften Klasse war und noch als Ministrant in der katholischen Kirche diente:
Es war die Beerdigung von Paulas Mutter, die Paula als Halbwaise und Egon als Witwer zurück gelassen hatte. Ich trug das Kreuz vor der Prozession zum Grab. Ich stand nah am Grab, Paula weinte bittere Träne, das Gesicht ihres Vaters war versteinert. Sie klammerte sich an sein Bein, er hielt seine Hand tröstend auf ihrer Schulter. Wie gerne hätte ich damals das Kreuz abgestellt und wäre zu Paula gegangen – um was zu tun? Wie tröstet man eine Freundin, die ihre Mutter verloren hatte? Vor allem ich! Ein pickeliger, schüchterner Junge mit dem leicht schwabbeligen Wohlstandsbauch?
Der Pfarrer begann seine Rede. Aber als er seinen Mund öffnete, ertönte nur ein tiefes, gleichmäßiges Brummen, das alle Anwesenden zu Wachsfiguren erstarren ließ. Das Grab von Paulas Mutter begann zu leuchten. Immer heller wurde der tiefe Schacht. Gleißendes Licht strahlte senkrecht empor. Vorsichtig bewegte ich mich auf den Rand des Loches zu und schaute hinein: Da war kein Sarg. Da lag ein strahlendes Herz aus Gold! Paula lächelte mir zu …
Ich erwachte erschrocken. Was war das denn für ein Quatsch? Welchen Streich hatte mir mein gestörtes Unterbewusstsein gespielt? Paulas Mutter war nicht tot. Sie hatte ihren lieben Egon überlebt. Wie es ihr heute gesundheitlich ging, wusste ich allerdings nicht.
Kurz vor drei Uhr traf ich auf dem Friedhof ein. Der lange, offene Platz vor dem Leichenschauhaus war proppenvoll. Egon war ein echtes Mitglied dieser kleinen Gemeinde. In Vereinen tätig, mit seinem Tischlergeschäft jahrelang erfolgreich (bis die schwedischen Möbelhäuser kamen), immer freundlich, agil, überall dabei. Ich reihte mich ein in die schlangestehenden Menschen, die sich in das Trauerbuch eintragen und einen letzten Gruß an die Urne schicken wollten. Die Szene war einem alten Film Noir würdig: Es war kalt, es nieselte, überall waren schwarze Regenschirme aufgespannt oder das Wasser tropfte von dunklen Hüten und Kapuzen.
Dort neben der aufgestellten Urne saßen die Angehörigen in einer Reihe. Paulas Mutter mit rötlich-verweintem Gesicht, links daneben eine regungslose Paula, dann ihre beiden, bildhübschen Töchter, schätzungsweise zwischen neun und dreizehn Jahren alt. Weiter ging es mit ihrem Mann. Wie bereits bei der letzten Begegnung beobachtet, in einem Anzug, dem ich bei weitem nicht das Weihwasser reichen konnte, welches für die Trauernden in einem silbernen Kessel bereit stand. Den Rest der Verwandtschaft kannte ich vom Sehen, konnte die Personen aber wegen meiner langen Abwesenheit vom Dorfgeschehen nicht mehr zuordnen. Tanten, Onkels, Geschwister? Keine Ahnung von der ganzen Mischpoke.
Ich traute mich nicht, meine Augen Paula zuzuwenden. Aber ich spürte ihren Blick, heimlich aus den Augenwinkeln mit gesenktem Kopf auf mich gerichtet, auf mir wie die Hitze eines Ofens. Oder bildete ich elender Narr mir das nur ein?
Zurück im Kreis meiner Freunde aus dem Gewerbeverein, beobachteten wir die Zeremonie. Ministranten liefen mit dem Kreuz ein, die Kragen und Röcke im typischen Violett für Beerdigungen, gefolgt vom Pfarrer im festlichen, reich verzierten Trauergewand. Das Kreuz, welches ein tapferer, aber viel zu kleiner Kerl vor sich her trug, war immer noch dasselbe wie zu meiner Zeit. Heute waren mehr Mädchen unter den Ministranten, ansonsten war alles wie damals.
Es wurden Reden geschwungen, düstere Lieder gesungen, noch mehr Reden gehalten, bis schließlich der Gang zum Grab startet. Der Kleine mit dem Kreuz vorneweg, die restlichen Ministranten mit Weihrauch hinterher, gefolgt vom Pfarrer, der mit strengem Blick alles unter Kontrolle hielt. Auch das kannte ich aus meiner Zeit. Seltsam, wie wenig sich in so vielen Jahren änderte. Nur ein paar graue Haare mehr und insgesamt weniger davon. Der Totengräber trug die Urne, gefolgt von Familienangehörigen und dem Rest der beachtlichen Trauergemeinde.
Die Blaskapelle spielte ein Stimmungslied an. Ich konnte es nicht einordnen, um welches es sich handelte, aber es hörte sich eher nach Tanzmusik an, als einer traurigen Bestattung. Hatte sich Egon selbst das gewünscht? Oder war es eine Idee der Familie, die wußte, Egon würde es so wollen, war er doch immer und überall dabei, wenn es im Dorf etwas zu feiern gab?
Viele der Anwesenden schmunzelten wissend. Man hörte vereinzelt murmelnde Stimmen:
„Typisch Egon“
„Weißt Du noch?“
„Wie immer den Schalk im Nacken!“
„Grabtänzer“
Ich würde jetzt gerne eine von Egons Zigarillos rauchen. Merkwürdiger Gedanke, ich rauchte seit Jahren nicht mehr. Es blieb mir aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Ein kurzer Aufschrei, ein Knall, Gemurmel und hier und da Gelächter durchzog die Trauergemeinde. Der kleine Kerl mit dem Kreuz war im schmierigen Boden vor dem Grab über seinen Ministrantenrock gestolpert und mitsamt Kreuz vor dem kleinen Loch für die Urne der Länge nach auf den Boden geknallt. Er begann, vor Scham zu weinen, während ihm die eigentlich trauernde Paula mit einem aufmunternden Lächeln wieder auf die Beine half und sein beschmutztes Gewand mit vorsorglich mitgebrachten Papiertüchern wieder halbwegs in Ordnung brachte. Ich beobachtete das Geschehen aus der Entfernung, denn ich wollte mich nicht ganz vorne in der Menge einordnen. Ich bewunderte Paula für ihre Beherrschtheit und Gelassenheit. Die Szene rührte mich zu Tränen, die ich nur mit Mühe unterdrücken konnte.
Am Ende der Zeremonie zogen viele der Gäste am Grab vorbei, kondolierten den Familienangehörigen und zogen ihren Hut. Auch ich warf ein Schäufelchen Sand auf die Urne, schielte aber nur kurz zu Paula hinüber. Ich wollte ihr nicht neben ihrem Ehemann die Hand drücken, aus Angst, die Emotionen würden mir endgültig entgleisen. Vor dem Friedhof wechselte ich noch ein paar belanglose Worte mit Bekannten und Freunden, bis Paula an mir vorbei kam, mich anstupste und fragte:
„Du kommst schon noch mit zu Helga zum Leichenschmaus, oder?“
Der Blick in ihre graugrünen Augen war wie der Flügelschlag eines Falken, der in Zeitlupe im Fokus eines Fernrohrs vorüber fliegt.
„Ja gerne“, stammelte ich: „Freut mich, ein wenig aufwärmen nach der Kälte kann nicht schaden!“.
‚Freut mich’, beschimpfte ich mich im Stillen. ‚Oh Idiot, der du bist im Himmel, wie kannst du in diesem Moment von Freude reden’, dachte ich mir.
„Also gehen wir, Jungs. Trinken wir einen auf Egon!“, sagte einer aus dem umstehen Kreis.
„Ok, ich komme mit. Hoffe nur, es geht nicht wieder bis Mitternacht bei Helga“, setzte ich scheinheilig dazu.
„Zier Dich nicht, Peter. Egon – zumindest der junge Egon – hätte sicher nichts dagegen gehabt.“