Stereotypisches Thekenmännergespräch (Part 9)
Todesanzeige
Seltsamer Abend in Helgas Kneipe. Ich setzte mich an meinen Stammplatz an der Theke, der stumme Olli war nicht da.
„Alkoholfreies Hefe, bitte, Helga!“, bestellte ich.
„Was los? Bist Du krank?“
„Fastenzeit!“, grinste ich Helga verlegen an.
„Du musst es ja wissen“, raunte sie, während sie das Weizenglas in die Hand nahm und den Zapfhahn für das alkoholfreie Bier vom Fass öffnete.
Es war erstaunlich leer bei Helga. An einem Tisch saßen zwei gut aussehende Blondinen mittleren Alters, wahrscheinlich Pensionsgäste von Helga. Hin und wieder hockten abends ein paar Fremde hier, die auf Durchreise oder aus geschäftlichen Gründen in der Provinz waren, und in einem der Fremdenzimmer von Helga übernachteten.
„Wo ist Olli abgeblieben?“, fragte ich Helga, als sie das Bier vor mir auf den mit einem Strich markierten Deckel stellte.
„Der ist nach Hamburg gefahren. Er besucht seinen Sohn, der als Koch im ‚Herzblut’ angeheuert hat.“
„Hamburg?“, entrüstete ich mich fragend, „da hätte er mich ja mal mitnehmen können. Ich könnte da auch Freunde besuchen.“
„Du weißt ja, Olli spricht nicht viel.“
Seltsam. Da sitzt man, Tag ein, Tag aus, nebeneinander, und weiß doch nichts vom anderen. Ich hatte keine Ahnung von Ollis Sohn, der ja bereits erwachsen sein müsste, wenn er in Hamburg arbeitete. Irgendwie sind Kneipenfreundschaften doch sehr beliebig, dachte ich mir. Habe ich eigentlich echte Freunde hier im Dorf? Also Menschen, die einen mal mitnehmen, wenn es auf Reisen geht oder mich zum Grillfest im Garten einladen?
Langeweile machte sich breit. Sollte ich zu einem Flirt an den Tisch mit den blonden Damen gehen? Erst mal lauschen, was die so auf dem Kasten haben. Ich spitzte die Ohren:
„Ach Chantalle, er hat ja immer so sehr von meiner Pfirsichhaut geschwärmt. Aber schau mich mal an, siehst du schon Falten?“
„Mandy, mach’ dir mal kein Kopp, deine Gesichtshaut ist immer noch glatter als der Arsch von Kim Kardashian!“
„Aber kuck mal hier, kuck mal, kuck mal!“
Mandy deutete aufgeregt auf ihren Mundwinkel:
„Ich sag nur, aus Grübchen werden Gruben“, hechelte sie aufgeregt.
„Dann such dir einen Dermatologen, jetzt wo dein Zahnarzt weg ist. Du hast die Haare schön, die Zähne strahlen, und der Dermatologe spritzt dir vielleicht die Grübchen auf!“
Schmerzhaftes, helles Gekicher.
„Chantalle, guter Tipp. Kennst du noch einen unverheirateten Demati ..., oder wie die Hautärzte heißen?“
„Wieso unverheiratet, Mandy? Hat es dich jemals gestört, wenn ein solventer Mann verheiratet war?“
„Was soll das heißen? Meinst Du, ich stehe auf alte Knacker?“
Chantalle verdrehte die Augen:
„Mandy, ‚solvent’ heißt so viel wie: Ordentlich Geld auf dem Konto. Das hat nichts mit dem Alter zu tun.“
Mandy verzog beleidigt das Gesicht und nippte an ihrem Aperol Spritz.
„Das ist gut, Chantalle. Ich habe echt genug von den muffelenden Säcken. Ständersuche im Speckfaltenfeld geht mir langsam echt auf die Nerven!“
Chantalle kicherte.
„Nerven, du hast so was?“
Nein Danke, diese Damen spielten nicht in meiner Liga. Wenn ich solche Frauen beobachtete, freute ich mich regelmäßig über mein Singledasein. Blondes Gift in türkisfarbenen, modischen Blusen, das braucht kein Mann. Jedenfalls keiner, der nicht in den Wahn verfiel, das eigene Ego mit gutaussehenden Modepüppchen aufzupeppen, die Sinnlichkeit und Kreditkarte emotional miteinander verknüpften. Und wer war eigentlich Kim Kardashian? Ein C-Promi aus dem Dschungel-Camp?
Also gut. Ein besinnlicher Abend alleine an der Theke. Zeit für eine Rückblende. Ich mache das hin und wieder gerne. Bei einem kühlen Bier die Vergangenheit vorbei ziehen lassen. In solchen Momenten leuchten Bilder aus der Vergangenheit auf wie Dias an der Wand nach einem langen Urlaub in fernen Ländern. Dazu bestellte ich mir dann aber doch ein alkoholhaltiges Weizenbier.
„Genug gefastet, Peter?“, fragte Helga frech.
„Yep, Leben geht weiter. Prost!“
Ich stieß mit Helga an. Sie hatte sich ein gepflegtes Pils eingeschenkt.
„Auf die letzten zwei Jahre“, fügte ich dem Klingen der Gläser hinzu.
„Zwei Jahre was?“, fragte Helga.
„Zwei Jahre Single, eigene Wohnung und damit regelmäßig Helga.“
„Ich bin aber nicht Schuld“, stelle Helga mit Sicherheit in der Stimme fest.
„Nein Helga, Du bist das Ergebnis.“
„Ich weiß jetzt nicht, ob das gut ist?“
Meine Gedanken schweiften ab. Silvia war meine Göttin. Sie hatte mich sexuell gekickt, alles andere war ab da zweitrangig. Ich hatte Freunde vernachlässigt, ging nur noch selten alleine aus, Konzertbesuche fielen flach, weil ihr mein exotischer Musikgeschmack nicht zusagte. Über siebzehn Jahre waren wir zusammen, schließlich erbten wir vor fünf Jahren fast zeitgleich beträchtliche Geldsummen, weshalb aus dem ewigen Wohnen in Miete ein Eigenheim wurde, um das Geld irgendwo hin zu packen und eine Familie zu gründen. Dafür zogen wir aus der Stadt hierher zurück in mein Heimatdorf, wo noch ein Baugrundstück aus Familienbesitz zur Verfügung stand.
Wir wollten beide Kinder. Aber sie stellten sich nicht ein. Nach drei Jahren zwischen Rindenmulch-Besorgungsfahrten zum Baumarkt und zweimal im Jahr Grillen im Garten zu unseren jeweiligen Geburtstagen war die Luft raus aus dem Wolkenkuckucksheim im Neubaugebiet. Wir trennten uns ohne Rosenkrieg, die Hütte wurde verkauft, das Geld wieder aufgeteilt. Trotz der umfangreichen, liebevollen Arbeit, die ich in Haus und Garten gesteckt hatte, tat es nicht mal richtig weh. Bildete ich mir zumindest ein. Ich war ja ein harter Hund, stark im Nehmen. Silvia zog nach Berlin, ich blieb hier. Ich hatte mir bereits einen ordentlichen Kundenstamm aufgebaut, also was sollte ich in großen Städten, wo es noch viel mehr brotlose Künstlern und Grafiker wie mich gab? Ich nahm mir eine bezahlbare Mietwohnung – was in der Provinz nicht schwierig zu finden war – und machte einfach weiter wie bisher. Mit den Genüssen des Singlelebens:
Aufstehen, wann ich will – soweit kein Kundentermin ansteht.
Spontan und ungeplant zu Festen und Konzerten gehen.
Durchs Nachtprogramm zappen, wie es mir gefällt.
Betrunken ins Bett fallen, ohne dummen Spruch.
Nachts Pizza backen, ohne an eine Kalorientabelle erinnert zu werden.
Gelegentliche Sexspielereien, die sich über Internetforen wie den „Joyclub“ einfädeln lassen …
… diese „funktionierten“ jedoch nur in den seltensten Fällen. Es war fast so, als hätte Silvia mein erotisches Empfinden mit nach Berlin genommen. Ich wurde immer lustloser. Während sich Deutschland dem Rausch von „Fifty Shades Of Gray“ ergab, waren bei mir die letzten fünfzig Schritte zur totalen Impotenz erkennbar geworden. Ich war nicht mehr der große Frauenbeglücker, der ich als junger – wenn auch raffiniert-schüchterner – Spritzer war. Komischerweise war das kein großer Verlust. Gelassenheit machte sich breit. Das Gekicher und Gegacker vom Blondinen-Tisch ließ mich kalt. Wem muss ich mit knapp fünfzig Jahren noch was beweißen?
Silvia hatte also einen bedeutenden Fußabdruck in meiner Geschichte hinterlassen. Der einzige, ernsthafte Versuch, mit einer Frau zusammen eine Familie zu gründen und gemeinsam alt zu werden. Ein Heim, dass ich erst wieder in der Horizontalen verlassen wollte. Pustekuchen!
Zeit für Ehrlichkeit. Vor Silvia gab es noch einen Fußabdruck.
„Sag mal Helga, war die Paula eigentlich noch mal hier?“
Helga zog die Augenbrauen hoch und legte die Tageszeitung auf die Theke. Die Seite mit den Todesanzeigen war bereits aufgeschlagen. Zuerst konnte ich kein Gesicht der abgedruckten Fotos irgendjemanden zuordnen, den ich kannte, dann blitzte der Name auf, zwischen vielen anderen Anteilnehmenden:
„In tiefer Trauer: Tochter Paula mit Hermann und Kindern“.
Jetzt erst erkannte ich das Foto. Paulas Vater. Er war verdammt alt geworden in der langen Zeit seit meiner Kindheit. Egon, ein sympathischer Kerl, den ich mir gern als Schwiegervater ausgesucht hätte. Mit ihm konnte ich schon als Jugendlicher ein Bier auf der Gartenterrasse trinken und heimlich eine Zigarillo teilen. Aber als Paula das Dorf verließ, verlor ich den Kontakt.
Ich musste mir darüber klar werden, wer eigentlich den tieferen Fußabdruck in meiner Geschichte hinterlassen hatte. In zwei Tagen war die Beerdigung.
„Gehst Du hin?“, frage mich Helga seltsam mitfühlend.
„Danke für den Hinweis, Helga. Mach zwei Wildsautropfen, trinken wir auf Egon.“