Stereotypisches Thekenmännergespräch (Part 8)
Sauerbraten
Wie gut, dass es bei Helga, wie jedes Jahr, am Rosenmontag keine Faschingsveranstaltung gab. Bis dahin hatte ich, ebenfalls wie in jedem Jahr, die Nase gestrichen voll vom närrischen Treiben. Mir steckte der vergangene Kappenabend in Helgas Kneipe noch in den Knochen, den ich fluchtartig verlassen hatte, um auf Distanz zu Samantha zu gehen, die in Wirklichkeit ein Siegfried, Sascha oder Sebastian war. Die Nacht endete in der Stadt, wohin ich mit Klaus Schmidt (mit „dt“ wie Damentoilette) mit dem Taxi abgehauen war. Später verlor ich ihn aus den Augen, weil er irgendeiner blonden Kuh gefolgt war, die einst mit ihm in der Grundschule das Pausenbrot teilte. Zufälle gibt es!
Ich dagegen erwachte, komplett durchgefroren, im Stadtpark, wo Gott vergessen hatte, den Säufern zu Liebe am Morgen das Licht zu dimmen. Ich konnte mich noch an eine Rothaarige erinnern, die eine krass-blumige Aussprache hatte. Sobald sie etwas sagte, sah ich ihre Sätze in Gänsefüßchen eingerahmt:
„Süßer Mann!“ raunte sie mit einer Stimme wie Samt, welches die 60°-Wäsche nicht heil überstanden hatte:
„Geh mit mir ein paar Schritte, lass uns die Sterne betrachten.“
An viel mehr konnte ich mich nicht erinnern. Egal. Wo gibt es einen Kaffee?
Erst als ich den Pappbecher-Kaffee im Bahnhofskiosk bezahlte, fiel mir auf, dass im Portemonnaie Scheine fehlten. Die konnte ich unmöglich alleine verjubelt haben. Immerhin – EC-Karte, Ausweis, Führerschein, Krankenkassenkarte – alles noch da. Die Rothaarige war eine faire Diebin. Es hätte schlimmer kommen können. Ich zog am Bankautomaten ein paar neue Scheine von meinem knietiefen Dispo ab und setzte mich in eines der Taxis, die vor dem Bahnhof auf Kundschaft warteten. Ich machte mir keine Gedanken über meinen ungepflegten Eindruck, die Fahrer hatten in den letzten Nächten sicher weit Schlimmeres gesehen. Ich trug sogar noch meine Zipfelmütze. Damit war ich klar als Faschings-Narr zu erkennen, also musste sich niemand darüber wundern. In der fünften Jahreszeit ist alles erlaubt.
Zuhause angekommen, gönnte ich mir ein Vollbad, und legte mich danach aufs Sofa, wo ich beim ermüdenden Anblick der Rosenmontagsumzüge in Köln und Mainz, live übertragen im Fernsehen, in einen fadenscheinigen Schlummerschlaf verfiel. Kein Attentat mit islamistischem Hintergrund hätte mich vor dem Wegdösen bewahren können. Die Arbeit auf dem Schreibtisch konnte bis Aschermittwoch warten.
Ich erwachte mit einem Bärenhunger. Jenseits der Fenster wurde es schon wieder dunkel. Düstere Blautöne zeichneten sich auf dem weißen, gemusterten Rollo LISELOTT ab. Wie lange war es eigentlich her, dass ich mir einen Sauerbraten bei Helga gegönnt hatte? Sauerbraten war das perfekte Katerfrühstück. Damals, im Elternhaus, wurde ich sofort wach, egal wie lange die Nacht davor war, wenn der Duft von Sauerbraten und selbstgemachten Knödeln meiner Mutter von der Küche hoch in mein Jugendzimmer kroch. Ich hörte sie schimpfen, weil ich schon lange nicht mehr am Sonntagmorgen in der Kirche war, aber das konnte meine Freude auf den Sauerbraten nicht trüben. Die Liebe der Mutter geht analog durch den Magen, wie Tränen beim Zwiebelschneiden aus den Augenwinkeln fließen.
Bei Helga war es, wie erwartet, ruhig. Das ganze Volk war im Nachbarort auf der „Lachparade“ mit anschließendem Totalbesäufnis im Bürgerhaus unterwegs. Die würden erst später hier eintrudeln, um noch einen Absacker zu nehmen. Ich setzte mich an meinen Stammplatz, wie immer neben dem stummen Olli.
„Hefe?“, fragte Helga.
Ich nickte: „Und einen Sauerbraten dazu!“
„Kater?“
Jooo!“
Die Tür öffnete sich, der Dorfmetzger kam herein und setzte sich zu mir. Ich mochte ihn, ein umgänglicher Typ, der jedem Klischee des Schlachters widersprach.
„Peter“, grüßte er mich mit fröhlicher Stimme und einem Lächeln, breit wie ein Ringel Fleischwurst:
„Isst Du was? Wenn ja, ich nehme das auch.“
Helga hatte zugehört:
„Sauerbraten, Herbert?“
„Klar Helga, deinen immer gerne … und ein Weizen dazu!“
Seit ich wieder hier im Ort wohnte, hatte ich Herbert, wie viele andere Mitglieder im Gewerbeverein, sehr lieb gewonnen. Wir stießen an und tranken das kühle, frische Weizenbier. Er erzählte von der Anschaffung neuer Messer aus Nirosta-Stahl und den – für normale Menschen – nicht nachvollziehbaren Problemen, die immer neue EU-Normen für einen Handwerksbetrieb im Lebensmittelbereich schafften.
„Irgendein Beamter lässt einen Gehirnfurz, und ‚schwupps’ sind wieder 3.000 Euro für neue, nach EU-Norm geforderte, digitale Waagen weg.“
Wir verputzten palavernd unsere Sauerbraten mit Kartoffelknödeln. Das Essen hatte mich wunderbar geerdet und die Schwerkraft war für meinen verkaterten Körper endlich wieder spürbar. Beim dritten Hefeweizen entwickelten wir skurrile Ideen, wie man das Dorfgeschehen mit einem Fest auf der Burgruine im Wald beleben könnte. Ein guter Event würde allen im Ort Nutzen bringen: Gemeindemarketing, Geschäften, Wirten, Pensionen. Deutsche Gesetze zur Wegesicherung hin oder her. Oder die leidige Frage, die bei jedem Fest gestellt werden muss: Wohin mit den Exkrementen der Besucher? Oh heiliges Dixi-Klo, mach alle Gäste froh!
Während wir vor uns hin phantasierten, trudelten nach und nach die feierlaunigen Faschingsnarren ein. Feucht-fröhlich-frivol trafen sie, einer nach dem anderen oder in Grüppchen, ein. Einen gewissen Sexappeal konnte man den verschiedenen Kostümen nicht absprechen. Wogende Busen, lange Beine in roten Strümpfen, die aus kurzen Röcken hervor ragten. Fellstiefel um die Füße, grell geschminkte Lippen, glitzernde Wangen. Gäbe es die soziale Kontrolle einer überschaubaren Ortschaft nicht, würden alle kreuz und quer kopulierend übereinander herfallen. Fifity Shades Of Grey im Wirtshaus, atemlos durch die Nacht.
Zwei junge Damen drängten sich zwischen Herbert und mir an die Theke, um zwei Ramazotti zu bestellen. Sie hatten breite, weiße Gewänder an, die bis knapp unter die sichtbare Sliplinie reichten und auf denen Kreuzgitter mit konfusen Zahlen gemalt waren. Einige Zahlenfelder waren leer.
„Was seit ihr den für Vögel?“, fragte ich fröhlich beschickert.
„Wir sind Sudoku und Soduko“, gackerten sie heiter grinsend, „die mathematischen Zwillinge.“
„Ah, die Töchter vom Mathelehrer Schlüter.“ Herbert kannte alle im Dorf. Das blieb mit einem Laden nicht aus. Wir prosteten ihnen zu.
„Die Frau, das ewige Rätsel“, folgerte ich.
„Ach was, wir sind gar nicht so rätselhaft und eigentlich ganz einfach zu knacken. Oder, Sabrina?“ Das Mädchen stupste mich leicht an, während ihre Schwester kichernd antwortete:
„Logisch!“
Herbert zwinkerte mir verschwörerisch zu, doch bevor ich mir Phantasien ausmalen und mich weiter in diesen Thekenflirt vertiefen konnte, nahmen sie ihre Gläser entgegen, und eine der beiden schrie schrill auf:
„Dominik! Roger!“
Und schon waren sie wieder in der Menge verschwunden, der Spur jugendlichen Testosterons folgend.
„Hübsch!“, sagte Herbert, „aber viel zu jung. Prost!“
„2, 8, 5, 7.“ Den stummen Olli hatte ich glatt vergessen.
„Hä?“, fragte ich.
„Die Lösung für das Sudoku. Eigentlich ganz einfach.“
Ich ging früh nach Hause. Satt und müde. Und froh darum, mich nicht in weitere Dummheiten verstrickt zu haben. Manchmal ist es kein Fehler, den Kürzeren zu ziehen.