Stereotypisches Thekenmännergespräch (Part 6)
Bonnie und Clyde
Es war einer dieser Tage, an denen man alles in Frage stellen kann. Auf dem Weg zu Helgas Kneipe zweifelte ich daran, ob ich da wirklich rein wollte.
„Ich könnte ja auch mal wieder in die Stadt fahren. Andere Gesichter, alte Bekannte, interessantere Gespräche, schöne Frauen …“, dachte ich mir. Aber da war das Problem mit dem Fahren. Ich würde es nicht schaffen, mich an die gesetzlichen Promillewerte zu halten, wenn ich mit dem Auto in die Stadt kurvte. Darum doch lieber zu Fuß zu Helga. Auf alle Fälle billiger und würde mir eine unangenehme Begegnung mit einem Streifenwagen ersparen.
Es gab noch einen Grund, einfach zuhause zu bleiben: Den Kater der letzten Nacht, die kotzend unter der Dorflinde in Begleitung des ebenso besoffenen Bürgermeisters geendet war, konnte ich nicht ignorieren. Ich fühlte mich alt. Müde. Leer. Ausgelaugt.
Andererseits gab es was zu feiern. Die Besprechung im Rathaus war sehr erfolgreich verlaufen. Die zukünftigen Aufträge würden mir endlich finanzielle Freiheiten verschaffen. Ich konnte den Wandel meines Bankkontos von rot zu schwarz, von tief zu hoch, von knietief im Dispo zu beruhigendem Guthaben schon fühlen. Dafür sollte ich zumindest Helga und dem stummen Olli, meinem treuen Tresenfreunden, eine Runde spendieren. Oder auch zwei.
Ich hängte meinen schwarzen Mantel an einen freien Haken der Garderobe und nahm auf meinem Hocker Platz. Wie immer am Tresen rechts neben Olli.
Olli: „Jo“.
Helga: „Weizen?“
Ich nicke kurz: „Und dann noch eine Runde für uns drei. Ramazotti, Wildsautropfen, Birne. Was ihr wollt!“
Olli: „Wildsau“.
Er wollte gar nicht wissen, warum ich was spendierte.
Helga war da schon neugieriger: „Gibt es was zu feiern, Peter?“
„Kannst mir gratulieren. Ich habe einen guten Job von der Gemeinde bekommen. Für die nächsten Monate oder Jahre sorgenfrei!“
„Na dann, Glückwunsch. Trinken wir alle einen Wildsautropfen drauf!“
Wir stießen an, kippten uns das Gesöff in die Rachen und stellten die Gläser ab.
„Jo“, sagte Olli.
„Keine Angst vor zu viel Abhängigkeit von dem hinterhältigen Pack im Gemeinderat?“, fragte mich Helga.
„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Aber wer ist schon unabhängig? Die Angestellten sind es von ihren Chefs, die Hausfrauen von ihren Männern und ich bin eben abhängig von meinen Auftraggebern. Damit muss man wohl leben. Friss oder stirb. Mach noch eine Runde Wildsau!“
In dem Moment, in dem wir die Gläser erneut ansetzten, öffnete sich die Tür, die direkt in meinem Blickfeld quer über den Tresen lag. Ihr Anblick war wie eine Explosion der Sinne. Paula. Wie lange war das her? Damals auf dem Schulhof. Trotzdem erkannte ich sie sofort. Ihre Erscheinung wirkte wie ein Sog auf meine komplette Wahrnehmung – und leider auch auf meine Koordination. Als sich unsere Blicke trafen, schütte ich mir das Schnapsglas so ungeschickt in Richtung Mund, dass mehr vom hochprozentigen Inhalt in meinem Gesicht und auf meinem Hemd landete, als die paar Tropfen, die meinen Rachen erreichten und mich zu einem kolossalen Hustenanfall reizten. Man sollte halt nicht vor Schreck einatmen, wenn man einen Schnaps schlucken will.
„Na super“, knurrte ich, „tolle Vorstellung für eine alte Jugendliebe!“
Paula winkte kurz zu uns herüber, als sich die Tür erneut öffnete und ein Mann eintrat. Ihre Augen blitzen mich kurz an. Was war das für ein Blick? Eine Warnung? Ein Zeichen? Eine Frage? Eine Bitte? Die alte Koketterie?
„Helga, schön Dich mal wieder zu sehen“, flötete Paula fröhlich. „Hast Du noch einen Tisch für meinen Mann und mich?“
Klar, ihr Mann. Sie hatte sich scheinbar den Richtigen geangelt. Seine Erscheinung war beeindruckend. Gepflegte Frisur, gepflegte Haut, glatt rasiert. Eine edle, aber schlichte Markenbrille auf der Nase. Die Kleidung nicht auffällig, aber so, dass man mit einem Blick erkennen konnte: Die Sachen sind nicht vom NKD. Helga schnappte sich zwei Speisekarten und führte das Paar zu einem kleinen Tisch hinter dem rustikalen Kachelofen, wo ich sie nicht mehr weiter beobachten konnte.
Erinnerungen drängten sich in mein Bewusstsein. Paula und ich. Wir waren ein tolles Gespann, von der Grundschule bis zur Abschlussklasse der Realschule. Ständig waren wir zusammen unterwegs. Zogen erst über die Spielplätze, dann durch die Wälder, später durch die Straßen, Kneipen und Discos der umliegenden Städte. Bevor sie wegzog, um das Abitur an einer Fachakademie zu machen, kam es endlich zu einer heftigen Knutscherei. Ein bisschen Gefummel auch. Mehr nicht. Dann war sie weg. Das warme, kribbelnde Gefühl kam wieder in mir hoch. Seltsam, wie viel bleibenden Eindruck so eine jugendliche Schulhofknutscherei hinterlassen kann.
Helga kam zurück: „Sind auf Besuch bei ihrer Mutter. Ihr Vater wird es nicht mehr lange machen.“
„Wer?“, fragte ich scheinbar gleichgültig.
„Na, Paula und ihr Mann. Ich dachte dich interessiert das. War da nicht mal was mit Euch? Euch hat man doch früher nur im Doppelpack gesehen. Bonnie und Clyde der Dorfstraßen …“, schmunzelte Helga.
„Ach das, lange her, wir waren jung und dumm“, versuchte ich meine Erregung herunterzuspielen.
„Jo!“, kommentierte der stumme Olli, und fügte nach einer kurzen Gedankenpause hinzu: „Und dumm bist Du immer noch.“
„Danke, Olli. Du baust mich so richtig auf.“
Wir tranken dann noch eine Runde, der zweite Schnaps war sowieso auf meinem Hemd verdunstet. Drei Bier später, und nach einigem Palaver mit wechselnden Thekenbesuchern, verließen Paula und ihr Mann Helgas Kneipe. Im Vorbeigehen warf mir Paula noch einen kurzen Blick zu. Mit diesem Lächeln wie damals. Leicht asymmetrisch, die Augen blitzten dabei frech zwischen ihren schwarzen Locken, die heute kürzer waren, aber noch genauso ungezähmt wie damals. Die wenigen grauen Strähnen machten sie kaum älter, sie strahlte immer noch Vitalität, Frische und vor allem diese sinnliche Frechheit wie damals aus. Ich winkte ihr lächelnd zu. Mehr nicht. Dann war sie weg. Ich sackte innerlich in mir zusammen.
Olli war zwar ein stummer Fisch, aber ein gute Beobachter. Er klopfte mir auf die Schulter:
„Warte mal ab. Glückliche Paare sehen anders aus als die beiden.“