In dieser Zeit
Um genau 8.30 Uhr verlasse ich das Haus, in dem ich wohne. Wie so oft nahm ich mir vor, unsichtbar zu sein. Ich bestieg mein weißes Radl mit Fleckenkuhmuster und radelte in die Stadt Lächelnd stellte ich mir vor, dass mein hübsches Radl sichtbar wäre, stelle mir die Gesichter all der Leute vor, an den ich vorbeipedalierte und wie sie nach logischen Erklärungen suchten, nicht bereit an Wunder zu glauben. Ich radelte also los, an diesem Tag hatte ich viel vor. Frische Brötchen zum Frühstück, die ich traditionsgemäß bei Lidl kaufte, zur Schande aller ortsansässigen Bäcker, die nicht nur keine Brötchen verkauften, sondern nur wenig wohlschmeckende Semmeln und die auch noch mit Luftblasen statt mit Teig gefüllt sind. Eine Schande für diese Zunft. Nach wenigen Sekunden erreichte ich das erste Etappenziel meiner Unsichtbarkeitstour, ein Musikgeschäft am der Rande der Innenstadt. Wie eigentlich täglich stand eine seltsame Person vor dem großen Schaufenster. Eine Frau, eine ältere schon, gewohnheitsliebend war sie bekleidet mit einem gelb verschossenen Pullover und einer ausgebeulten ehemals grauen Baumwohljogginghose. Passend beschuht mit Wanderstiefeln, die noch nie ein Feld- oder Wald- oder gar Bergwanderweg betreten hatten. Diese Frau ist laut. Sie schimpft und schreit, man weiß jedoch nicht, gegen wen oder was. Mit einem heiteren Lächeln begrüße ich sie. Grüß Gott. So grüßt man hier. Niemand kennt zwar diesen Gott, aber er wird immer begrüßt. Ich glaube, niemand wird so oft begrüßt wie Gott, sicher hält er den Begrüßungsweltrekord. Nun denn, ich grüße Gott, den ich nicht kenne und die Frau, die ich ebenfalls nicht kenne. Ich sehe sie nur oft. Das Grüßen wurde mir zur Gewohnheit. Natürlich grüßt die Frau nicht zurück. Sie sieht mich ja nicht. Ja, und sie schimpft und schreit ununterbrochen, da bleibt keine Zeit für einen Gruß. Und wahrscheinlich hört sich mich auch nicht, nimmt mich sowieso nicht wahr, egal ob ich sichtbar bin oder eben nicht. Das Wichtigste war aber die Tatsache, dass diese Frau heute nicht alleine dort stand und schimpfte und schreite. Sie hatte Gesellschaft. Ich musste wirklich zweimal hinschauen, um diese neue Person überhaupt zu entdecken. Ein kleines Männlein, gebeugt und furchtbar dünn und zappelig rumpelstilzte es um die Frau herum, es jauchzte und tanzte, dass es eine wahre Freude war. Ihn grüßte ich etwas verspätet, aber ebenso herzlich mit Servus, nicht mit Grüß Gott, weil, den hatte ich ja schon vorher begrüßt. Das Männlein schaute fast in meine Richtung, ich erwartete fast einen Gruß, zumindest einen Blick, ein Lächeln. Weit gefehlt, Es galt einer anderen Person, die sich anscheinend zu ihnen gesellen wollte. Bevor ich die neue Person auch noch grüßen musste, radelte ich mit einem Kavaliersstart los, bloß schnell weg.
Endlich, nach endlosen Sekunden erreichte ich meine zweite Etappe, etwa hundert Meter weiter in der Innenstadt, vom Musikladen aus gemessen. Das erst von drei Cafés in dieser Stadt. Ich hielt dort an und schloss für einen Moment meine Augen, gleich neben den draußen aufgestellten Tischen, und, Fußgänger und Radlern gemein den Weg versperrend, den vielen vielen Stühlen. Und am ersten Tisch saßen auf allen vier Stühlen Personen.
Mit meinem inneren Auge sah ich sie vor mir: rechterseits die magersüchtige vielleicht noch junge Frau mit den alten, früher einmal braunen Haaren, die mittlerweile darauf warteten, blassblond und durchgehend krank, endlich vor Erschöpfung auszufallen. Diese Frau trank Bier! Um diese Uhrzeit, unglaublich. Im Aschenbecher glühte ihr Zigarillo schwach an einem Ende und feucht tropfte es vom Mundstück. Pfui!
Linkerseits auch eine Frau. Riesengroß, kräftig gebaut, früher einmal hübsch im Gesicht, welches umrahmt war von langen schwarzen Haaren, die je näher sie der Kopfhaut waren, immer grauer wurden. Zu ihren schwarz belederten Füßen kauerte etwas, was aussah wie eine Kreuzung zwischen Hamster und Fußhupe. Es bellte und knurrte und geiferte bösartig in meine Richtung. Die Frau trank Kaffee. Das Tässchen in den Pranken, der kleine Finger abgespreizt. Niedlich könnte man es finden, ich find es bescheuert.
Am Kopfende saß dieser Mann. Alt, nein, alt aussehend nur, dick oder mehr dicklich, weich, mit trüben Augen und losen Haaren, die ungescheitelt seine Kopfoberfläche nur spärlich bedeckten. Dieser Mann trug einen Lodenmantel in moosgrün. Er schaute in seine Tasse, wie oft, unschlüssig, ob er die braune Suppe mit Kaffeegeschmack nun trinken oder wegkippen sollte. Er rauchte Ohne Filter Zigaretten, selbstgedreht.
Mir den Rücken zugewandt saß die dritte Frau an diesem Tisch. Eines Tages würde ich gerne das Gesicht dieser Frau sehen. Ihr Hinterkopf und ihr Rücken waren mir ja längst vertraut. Von hinten war sie nett anzusehen. Was sie trank oder ob sie raucht, entzieht sich meiner Kenntnis.
Ich öffnete meine Augen und sah sie alle genauso vor mir wie zuvor mit meinem inneren Auge. Bis auf den Mann quatschten alle durcheinander, begleitet vom Gebell der Töle. Ich schrie laut einen Gruß. Nämlich: hallo zusammen.
Nun weiß ich nicht, ob die hiesigen Eingeborenen mein Hochdeutsch nicht verstehen oder ob es an meiner Unsichtbarkeit liegt. Keine Reaktion, kein Blick, kein Gruß zurück. Diese Leute grüßen mich nie. Egal wie laut ich schreie. Wenn sich wenigstens die Frau mit dem schönen Rücken umdrehen würde. Oder der Hamsterhund aufhören würde zu keifen. Ich bin mir sicher, für ihn bin sichtbar. Schnell verlasse ich diesen Ort des Grauens.
Zügig überquere ich den Rathausplatz, unterwegs muss ich zwei gebeugten klapprigen Gestalten ausweichen, die mit .ihren Skistöcken und prall gefüllten Alditüten irgendwie bedrohlich wirkten. Die beiden Gestalten ritten (also wenn sie Pferde hätten, würden sie) geradewegs auf die über den Platz verstreuten Windmühlen zu, die sich bei näherem Hinsehen als städtische Abfallkörbe entpuppten, oder sollte man eher entkorbten sagen? Weiß Gott, den ich übrigens schon begrüßt habe. Nun gut, ich konnte den Beiden soeben noch ausweichen. Weiter geht’s mit der Tour der Leiden. Mit etwas Glück ohne Störungen fürs Auge und Gemüt sein Ziel zu erreichen, was kann man sich mehr wünschen? Mir ist es ohne Wünschen gelungen und ich rieche bereits den imaginären Duft frisch gebackener Lidlbrötchen. Ich parkte meine Kuh und marschierte in den Laden, zu allem bereit. Fest entschlossen, vier Brötchen zu kaufen. Etwas Käse eventuell noch. Schinken vielleicht noch. Eier von entlaufenden Biohühnern. Espresso. Milch. Zucker. Meerrettichfrischkäse. Toilettenpapier. Du gute Güte, ein Großeinkauf bahnte sich an, dem ich im Nachhinein nicht weiter kommentieren werde. Schwer beladen radelte ich Richtung Heimat. Im Lidl bin ich übrigens immer sichtbar, sodass ich mich aus diesem Grund in der Kette vor der Kasse anstellen musste. Brötchen waren aus. Hin zu einem Bäcker. Mir graute es davor.
Auf dem Rathausplatz musste ich wieder den skistockbewaffneten Leuten ausweichen. Und schon schob ich widerwillig in die Bäckerei. Hin zum Ende der Warteschlange. Hoffentlich blieb ich unsichtbar.
Nach gefühlten 5 Tagen kam ich endlich an die Reihe und wurde gefragt (man sieht mich doch hier), was ich wünschte. Man muss wissen, dass ich die Eingeborenensprache schon recht gut verstehe. Ich bestellte auf Hochdeutsch vier Brötchen. Schweigen. Ich zeigte auf die Brötchen in der Auslage und reckte der Verkäuferin vier Finger entgegen. Das verstand sie und packte mir vier Stück in eine Tüte. Bittschön, vier Semmeln der Herr. Dabei wollte ich eigentlich vier Brötchen. Über einen kleinen Umweg fuhr ich zu dem Haus, in dem ich wohne, ich war hungrig und wollte auch niemanden mehr grüßen. Auch weil mir langsam die Grüße ausgingen. Zuhause angekommen, wieder vollständig sichtbar, frühstückte ich auf Grundlage luftgefüllter Semmeln. Oder heißen sie Semmel ohne n? Karl Valentin hat ja früher stets das n betont: Semmelnknödeln zum Beispiel.
Der Samstag war noch jung und ich gut in der Zeit. Gestärkt sattelte ich meine Kuh und radelte los, ein Geschenk im Rucksack, das darauf wartete, meinen Freunden überreicht zu werden. Sie leben sieben Kilometer entfernt in einem kleinen einsam gelegenen Paradies, umgeben von Hügeln, kleinen Wäldchen und Feldern, Flora und Fauna am Platz, wie man so schön sagt.
Ich radelte durch die Stadt, vorbei an der schimpfenden Frau, vorbei am hüpfenden Männlein, vorbei an der Caféhausgesellschaft, endlich vorbei auch die ganze Stadt. Hügel hinauf und hinunter, durch kleine Dörfer und Gehöfte, dann war ich da. Ich wurde wieder sichtbar und überreichte mein kleines Geschenk, trank Kaffee, unterhielt mich gut und nach etwa einer Stunde musste ich mich auf den Heimweg begeben. Ich trat einmal in die Pedale und mit Schwung sauste ich den ersten Hügel hinunter und den zweiten hinauf. Und bremste, staunte und sah Elvis. Ein Ungetüm von einem Fahrrad kam mir entgegen. Hinten zwei Räder und das ganze Radl überdacht von einem riesigen roten Sonnenschirm. Der gewaltige Gepäckkorb quoll über mit gefüllten Einkaufstüten. Das ganze Gerät musste eine Tonne wiegen und ich beobachtete den Fahrer, wie er konzentriert und verbissen die Pedalen bewegte. Schwitzend und mit blitzenden Schweinsäuglein, roten Bäckchen und leuchtender Stirn quälte er sich den kleinen Hügel empor. Sein feister runder Rumpf steckte in einem Matrosenhemd und eine Kapitänsmütze bedeckte sein Haupt. Laut schmetterte ich ihm ein saftiges Grüß Gott entgegen, den Rekord bedenkend und schaute weiter Elvis an, den ehemaligen Seemann, der nun hier ganz in der Nähe wohnte. Doch auch für ihn war ich unsichtbar und so wartete ich vergebens auf seinen Gruß, den ich eh nicht verstanden hätte. Meiner Meinung nach beschränkte sich der Wortschatz von Elvis auf Aufi und Obi, und mehr gebellt als gesprochen. Ich sah ihm noch nach, wie er sich langsam im Schneckentempo entfernte, seine kleinen runden blitzenden Knopfaugen fest auf Heimatkurs gerichtet.
Ein paar Hügel noch, dann durch die kleinen Dörfer, durch die Stadt, vorbei am Café, vorbei am Musikgeschäft. Endlich daheim, schloss ich meine Kuh in ihren Stall und ging hinauf in meine Wohnung.
Es wurde Zeit, meinen Koffer zu packen.
Auf zum Sea-hopping, quasi von einem See zum nächsten, in meinem Fall vom Chiemsee zum Starnberger. Zweieinhalb Stunden Zugfahrt lagen vor mir, via Rosenheim nach München, meinem altbekannten Sündenpfuhl. Dort wollte ich Zwischenstation machen, wegen Besorgungen einerseits und andererseits wegen Gesprächen mit mir wichtigen Menschen. Ich kaufte mir vorsichtshalber eine Fahrkarte, denn wie für Hunde und Hamster bin ich auch für Fahrkartenkontrolleure sichtbar. Das ist schade.
Bald kam der Zug, ich stieg ein und fand einen schönen Sitzplatz. Erst einmal ging es rund um den Chiemsee, Leute aufsammeln, um den Zug zu füllen. Dann endlich Rosenheim Bahnhof. Dort stiegen sehr viele Leute ein, Sitzplätze wurden knapp und deshalb umso begehrter. Gegenüber meiner Viersitzgruppe, besetzt durch mich und drei modisch anmutenden Jünglingen, befand sich ebenfalls eine Vierersitzgruppe, die aber nur mit drei Leuten besetzt war. Wieso beanspruchte keiner der vielen stehenden Passagiere den letzten freien Sitzplatz? Das interessierte mich und so lenkte ich meine unauffällige Achtsamkeit auf den Tatort. Der Grund war schnell entdeckt. In Fahrrichtung saßen ein altes Ehepaar, wobei ich für die Verheiratsvermutung keine Beweise vorliegen hatte. Trotzdem. Beide lächelten gütig und uninteressiert, sahen geradeaus und schienen gegen Unterhaltungen und überhaupt gegen jede Art von Geräuschen immun zu sein. Die Erklärung des freien Sitzplatzes waren die beiden Herrschaften allerdings nicht, sondern der gegen die Fahrtrichtung sitzende Mensch, den ich näher beschreiben muss. Breit wie ein Gorillamännchen, vorbei ich nicht verstehe, warum man Tiermänner Männchen nennt. Dieser Gorilla war eindeutig kein Männchen. Eine rote Wollmütze zierte sein Haupt. Bedeckte züchtig Ohren und halblanges fettiges Haupthaar. Das Gesicht gab mir Rätsel auf. Unter der breit gewölbten Stirn klimperten fröhlich und flattrig ein Paar extralanger Kunstwimpern unter einem nachtvioletten Lidschatten. Die Augen blickten freundlich umher. Die fleischige, mehrfach gebrochene und riesige Nase zeigte die Richtung an. Ein lächelnder Mund darunter, volle mächtige, wolllüstige, wurstförmige, knallrote Lippen hoben und senkten sich und man konnte Laute hören, die aus seinem Munde hervorsprudelten mit dem Ziel, die beiden alten Leute zu unterhalten. Doch die sahen nichts, hörten nichts und sagten nichts. Doch weiter mit der Beschreibung des Grundes für den freien Sitzplatz. Ein fehlender Hals, betont mit einem leuchtorangerosanen zwei Meter langen Schal, ging unmerklich in gewaltig breite Schultern über. Die Person trug eine weite Winterjacke, sodass mir die Sicht auf den Brustkorb und den Bauch verwehrt blieb. Etwas tiefer folgte ein Kleidungsstück, eines, welches einen Gorillamann nicht wirklich anmutiger aussehen lässt. Der Versuch war sicher lobenswert aber fehlgeschlagen. Denn Sinn und Zweck eines Strechminirockes ist ja wohl der Blick auf zwei schöne lange schlanke Beine. Doch keine Spur von solchen Beinen. Stämmige, dicht behaarte Säulen in leicht durchsichtigen Strumpfhosen nahmen im gespreizten Zustand fast beide Sitzplätze ein. Ich sollte zum Ende kommen. Stiefeletten im Leodesign, mit Geschnür und 10 cm hohen Keilabsätzen pressten sich hart an den Boden. Und das Gorillamannfräulein plauderte freundlich, mittlerweile in Jedermanns Richtung.
Merkwürdig, wie schnell alle Leute geradeaus schauten, alle in eine Richtung, alle weg vom Plauderton. Alle Schultern versteiften sich. Niemand lachte. Manchen war zum Weinen. Doch, in einigen, leicht versteckten Gesichtern stahl sich ein schüchternes, wissendes und scheues Lächeln, für einen Sekundenbruchteil hin zum Gorillamannfräulein, dann sofort weit weit weg. Der letzte freie Sitzplatz blieb frei bis München Hauptbahnhof.
Als das Mannfräulein beschwingt den Zug verließ, entdeckte ich an ihm weitere Gegenstände, von denen ich einige an diesem Tage schon getroffen hatte. Einen großen Rucksack, mehrere Einkaufsplastiktüten und einen Skistock. Diese Skistöcke hatten unten am Ende eine Art Stachel, wohl zum Schnee oder Eis aufpieksen, was weiß denn ich. Wie unter Zwang folgte ich dem befremdlichen Wesen, zumal es den gleichen Weg hatte wir ich, nämlich die U-Bahn. Respektvoll beobachtete ich aus kleiner Entfernung, dass das Wesen an jedem Abfallkorb eine Verschnaufpause einlegte und sich dort aufstützte. Es folgten dann einige ruckartige Bewegungen des Skispeeres und der Weg wurde fortgesetzt. Kaum zu glauben, wie viele Abfallkörbe zwischen den Gleisen des Münchner Hauptbahnhofes und den Stationen der U-Bahn aufgestellt waren. Und jedem Abfallkorb wurde die gleiche Referenz erwiesen, die Zeit verstrich. Aus dem zehnminütigen Weg wurde eine Stunde. Unterwegs gab ich meinen Koffer in ein Schließfach. Bei dieser Gelegenheit verlor ich das sperrbewaffnete, Abfallkörbe und Pausen liebende Wesen aus den Augen. Ich fühlte, wie sich meine Unsichtbarkeit auflöste.
An der Freiheit stieg ich aus und schlenderte zu dem 70erJahreLaden, in der Nähe der ehemaligen Schwabinger 7, der früheren Szenekneipe, die einem Bürohaus weichen musste. Im Laden, der auch bald seine Pforten für immer schließen wird, kaufte ich den Restbestand an Buddhaminiaturen aus Bronze und bekam einen Kaffee. Der Inhaber beklagte allgemein den Wandel der Zeiten und den kulturellen Niedergang von Schwabing insbesondere. Ich nickte zustimmend. Bald darauf verließ ich das nette Geschäft wieder in Richtung Leopoldstraße. Unterwegs sprach mich ein furchtbar dicker Mann an. Verstanden habe ich ihn nicht, bot ihm aber eine Zigarette an. Ich musterte diesen Menschen und bald kamen mir einige Dinge sehr verdächtig vor. Sein großer Rucksack, die vielen Plastiktüten und vor allem sein Skistock. Bevor ich ihn fragen konnte, warum der Skistock, gesellte sich ein mir schon bekanntes Wesen zu uns. Ebenfalls bewaffnet mit den gleichen Utensilien wie der furchtbar dicke Mann. Ich bot dem Gorillamannfräulein auch eine Zigarette an und stellte meine Frage.
Damit durchwühlen wir die Abfallkörbe nach Pfandflaschen und -dosen und pieksen sie auf, damit man sich nicht bücken muss. Ich zum Beispiel war heute sehr erfolgreich und habe den Gegenwert von fünfundzwanzig Euro gesammelt, meinte sie oder er oder so. Der dicke Mann teilte uns mit, dass er schon zwanzig Euro beisammen hat. Ich bedankte und verabschiedete mich. Beide salutierten mit ihrem Skistock und wünschten mir einen schönen Tag und frohe Weihnachten.
Unterwegs durch Schwabing entdeckte ich weitere Menschen mit Skistöcken und außerdem fand ich so manche Bestätigung für den angesprochenen kulturellen Niedergang Schwabings. Und doch kehrte ich in zwei weiteren Geschäften ein, um verschiedene Angelegenheiten mit bestimmten Leuten zu besprechen. Als ich endlich die Straße erreichte, in der ich einmal wohnte und auch lebte, hielt ich kurz inne, um mir bewusst zu machen, dass ich an diesem Tag insgesamt 16 Flaschensammlern mit Tüten und Skistöcken begegnet war. Dazu einige andere Menschen, die mir durch ihre Andersartigkeit sehr seltsam interessant erschienen. Lag es an meiner Unsichtbarkeit, dass ich all diese Menschen wahr nahm?
Die anderen mit Weihnachtsgeschenken voll gestopften Einkaufstüten bepackten Menschen, all die tausend rastlosen Jäger der Eitelkeiten, jene die mich sehen können aber nicht von mir gegrüßt werden, was sehen sie? Nehmen sie die Uniformierung ihrer Umwelt wahr, sehen sie die Menschen mit den Skistöcken, die sich Weihnachten nicht leisten können? Ich besuche noch kurz einen alten Freund und ehemaligen Nachbar, bevor ich wieder zum Hauptbahnhof und von dort aus weiter Richtung Starnberger See reise.
Bald ist Wintersonnenwende. Oben auf der Keltenschanze treffen wir uns, ich, einige Freunde und deren Freunde. Wir verbringen dort den Abend bis in die Nacht. Am Lagerfeuer erzählen wir uns Geschichten, trinken ein Bierchen, essen Grillwürstchen und andere mitgebrachte Leckereien. Natürlich geht so manches Pfeifchen herum und alle sind froh und heiter und nachdenklich, das Feuer wärmt auch die Gedanken. Welche Geschichte erzähle ich an diesem Abend? Vielleicht diese?
Maurice de Winter – 17.12.2014