Weihnachten fällt dieses Jahr aus
Die Glocken des Kirchturms beginnen zu läuten. Es ist der 24. Dezember am späten Nachmittag, und die Dunkelheit breitet sich schnell aus.
Josi sitzt auf einer Bank nahe dem Seerosenteich und beobachtet mehrere Erpel, die um zwei Entenweibchen buhlen. Kälter ist es geworden, letzte Nacht gefror die Schneeschicht, die die Gehsteige bedeckt hat, zu Eis. Der kleine Park neben der Kirche ist menschenleer.
Sie hadert mit sich selbst. In der Eile hat sie das Handy zuhause in ihrem Zimmer liegen lassen. Als der geeignete Moment kam, musste sie ihre Chance nutzen und schnell die Wohnung verlassen. Doch nun braucht sie einen Plan oder zumindest eine Idee, wo sie unterkommen kann bis zum nächsten Tag – oder besser noch, für mehrere Tage.
Du bist zu nichts nütze, es ist immer dasselbe mit dir! Man sollte dir eine Lektion erteilen, damit du mal erkennst, was im Leben wirklich wichtig ist! Du wirst schon sehen, Fräulein, was du davon hast!
Sie schüttelt den Kopf, will nicht weiter über die Situation nachdenken, aus der sie eben geflohen ist. Neben ihr auf der Bank stehen ihr Rucksack und eine Plastiktüte, in die sie hastig ein paar Kleidungsstücke und ihr Tagebuch gepackt hat.
Durch ihre schwarzen Stiefel dringt Feuchtigkeit bis auf die Haut, ihre Füße sind schon eiskalt. Auf dem Leder haben sich weiße Salzlinien gebildet. Sie steht auf, stampft einige Schritte durch den Schnee, um sich aufzuwärmen. Es hilft alles nichts, sie muss weiter, muss sich bewegen. Die Kälte dringt ihr durch Mark und Bein.
Auf den Straßen ist kaum noch jemand unterwegs. Sie schaut hoch zu den Kronen der nackten Buchen und Eichen, die ihre Äste stolz in den grauen Winterhimmel recken. Ganz oben, auf den besten Plätzen haben sich ein paar Krähen versammelt.
Sie weiß nicht, wohin, läuft weiter durch die Einkaufspassage. Die Geschäfte haben längst geschlossen. An der Eingangstür des Buchladens grinst höhnisch ein riesiger Weihnachtsmann aus Plastik zu ihr herab. Sie wendet schnell den Blick ab.
Auf dem Platz neben dem Kiosk hat jemand einen Abfallbehälter aus Metall angezündet. Ein paar dunkle Gestalten wärmen ihre Hände darüber wie über einem Feuerkorb. Josi sieht eine Schnapsflasche kreisen. Einer der Männer grölt ein Weihnachtslied, ein anderer protestiert lauthals. Ihr Schreien und Johlen hallt über den Platz.
Josi zieht sich die Kapuze des Parkas tiefer ins Gesicht und wechselt schnell die Straßenseite.
Bleib gefälligst hier, wenn ich mit dir rede, du verdammtes kleines Miststück! Du machst nichts als Ärger!
Josi versucht, die Stimme ihres Vaters auszublenden, die unbarmherzig weiter in ihrem Kopf hallt. Zum Glück hat sie das hinter sich gelassen. Alles, wirklich alles, ist besser, als sich dem noch länger auszusetzen.
Wieder beginnt es zu schneien. Sie schaut ins fahle Licht der Straßenlaterne und genießt einige Sekunden den Anblick der langsam fallenden Schneeflocken, spürt, wie sie auf ihrer Nase schmelzen.
„Na, kleine Lady, so allein noch unterwegs...?“
Eine Männerstimme, tief und rau. Josi fährt zusammen. Aus den Augenwinkeln sieht sie einen Schatten, der sich von der Häuserwand löst. Eine Gestalt kommt auf sie zu getorkelt. Der Geruch nach Urin und Fusel ist durchdringend und widerwärtig. Ihr lautes „Nein!“ ist wie ein Startschuss, den sie sich selbst gibt.
Sie rennt los, panisch, läuft so schnell, sie kann, als sei der Teufel hinter ihr her. Einige Straßenecken weiter bleibt sie stehen, ihr Herz klopft bis zum Hals. Sie ist nicht sicher, ob die Gefahr vorbei ist und schaut sich noch ein paar Mal um, obwohl sie schon Straßenzüge entfernt ist.
Josi läuft weiter und weiter. Die Riemen ihres Rucksacks haben sich tief in ihre Schultern gegraben. Sie bleibt keuchend stehen und sieht sich um. Den Stadtkern hat sie längst hinter sich gelassen, die Besiedlung wird spärlicher. Sie geht langsamer, vor ihr erstreckt sich eine Siedlung mit Einfamilienhäusern. An den Fenstern blinken bunte Lichterketten und rote Weihnachtssterne, Musik weht zu ihr herüber: „Alles schläft, einsam wacht, das traute, hochheilige Paar...“
Jetzt gibt es nur noch die Landstraße, deren Wege links und rechts mit frischem Schnee bedeckt sind. Jeder Schritt fällt ihr schwerer. Lähmende Müdigkeit breitet sich in ihr aus.
Was, wenn sie hier draußen erfrieren muss...?
Sie stapft langsam weiter. Im Nachbardorf wohnt eine Freundin, vielleicht könnte sie bei ihr Asyl finden. Doch sie fürchtet, dass deren Familie nicht gerade erfreut sein wird, an Heilig Abend einen ungebetenen Überraschungsgast zu bekommen.
Josi stemmt sich gegen den Wind, der ihr eisig über die Wangen fährt. Ihre Finger unter den Handschuhen sind klamm und steif vor Kälte. Neben der Straße erstreckt sich nun der Wald wie eine undurchdringliche Wand. Die fahlen Straßenlaternen bieten kaum genügend Licht, um den Weg zu sehen, auf dem sie geht. Für ein paar Sekunden blitzen Scheinwerfer auf und blenden sie. Das Auto fährt vorbei und verschwindet in der Dunkelheit.
Weihnachten fällt dieses Jahr aus! Du glaubst doch nicht etwa, dass deine Aufsässigkeit noch belohnt wird? Wenn ich noch ein freches Wort von dir höre, setze ich dich vor die Tür!
Sie stapft weiter den Schnee verwehten Weg entlang. Die Wipfel der dunklen Tannen schaukeln im Wind. Plötzlich werden ihre Gedanken von Hundegebell unterbrochen, das näher kommt. Direkt vor ihr springt ein Reh aus dem Wald und läuft blindlings über die Landstraße.
Josi erschrickt so sehr, dass sie ihre Tüte fallenlässt.
Das Reh ist längst in den angrenzenden Feldern verschwunden, als ein großer schlanker Windhund nun ebenfalls durchs Gebüsch prescht und am Straßenrand stehenbleibt. Er spitzt die Ohren und wittert. Er scheint sie gar nicht wahrzunehmen.
Josi bleibt stehen, und presst ihre Plastiktüte an sich. Bevor sie noch reagieren kann, hört sie eine energische Frauenstimme rufen: „Mira! Mira! Hierher, bei Fuß!“
Josi beobachtet die Hündin aus ein paar Metern Entfernung. Sie mag Hunde, aber nach all den Ereignissen heute ist sie lieber vorsichtig. Die Hündin kommt langsam auf sie zu und schnuppert an ihren Händen. Gleich darauf tritt aus dem Wald eine große Frau mittleren Alters mit ausladender Figur. Sie trägt einen roten weiten Mantel und hat die dunklen Locken zu einem Dutt aufgetürmt. „Wirst du jetzt wohl herkommen, Mira?“ Die Hündin kommt ihrem Frauchen Schwanz wedelnd entgegen, währen die Fremde mit ausholenden Schritten auf Josi zusteuert.
„Mädchen, was machst du hier allein in der Dunkelheit?“ Ihre blauen Augen mustern sie von Kopf bis Fuß.
Josi ist fasziniert von ihrer Erscheinung. Sie hat noch nie eine Frau gesehen, die vom Alter her ihre Mutter sein könnte und sich so kleidet und verhält. Ihr fällt keine Antwort ein. Sie zuckt die Achseln und lächelt schüchtern.
„Ich bin Hanna, ich wohne dort drüben.“ Die Frau zeigt hinter sich. „Du siehst ganz schön verfroren aus! Komm, du solltest dich aufwärmen, ich mach dir eine heiße Schokolade.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, stapft Hanna davon. Josi weiß nicht recht, ob sie dieses Angebot annehmen soll. Hanna dreht sich nach ein paar Schritten zu ihr und ruft: „Komm! Es ist zu kalt, um hier länger herumzustehen!“
Josi weiss nicht warum, aber sie entscheidet, dieser fremden, seltsamen Frau zu vertrauen.
Sie packt ihre Plastiktüte und folgt ihr und dem Schein ihrer Taschenlampe, einen schmalen Weg durch die Felder entlang. Die Hündin Mira springt zwischen Hanna und Josi hin und her. Sie schnüffelt an Josis Plastiktüte und eilt dann voraus zu einem kleinen Haus, das allein an einer schmalen Allee steht. Aus dem Schornstein steigt Rauch auf, die Fenster sind schwach erleuchtet. Mit einer einladenden Geste bittet Hanna das Mädchen ins Haus.
Das Haus könnte aus der Jahrhundertwende sein, jedenfalls sieht es alt aus. Wände und Türrahmen sind verzogen, die Holzdielen knarren unter ihren Schritten. Hanna geht voran in einen schwach beleuchteten, großen Raum. Von Weihnachtsschmuck keine Spur, das fällt Josi sofort auf, aber überall im Raum stehen Kerzen, in kleinen Gruppen angeordnet. Es riecht schwach nach Zimt. Nahe dem noch glimmenden Kamin steht ein alter roter Ohrensessel aus Samt.
„Ich mache dir erst mal eine heiße Schokolade, Mädchen, komm, setz dich hier ans Feuer.“
Hanna klopft auf die zerschlissene Sitzfläche einer der Sessel. Dann nimmt sie ein paar Holzscheite aus einem Korb und entfacht das Feuer im Kamin.
Josi versinkt im weichen Polster und starrt in die Flammen. Die Anspannung der letzten Stunden weicht von ihr, ein tiefer Seufzer löst sich aus ihrer Kehle. Sie spürt, wie ihr die Brust eng wird, und schon laufen die ersten Tränen. Die Hündin kommt zu ihr gelaufen und schaut sie aufmerksam mit dunklen, treuen Augen an.
Josi schluchzt auf, so sehr berührt sie dieser Hundeblick. Sie legt der Hundedame vorsichtig eine Hand auf das weiche Fell und krault sie am Hals. Langsam kommt sie zur Ruhe, und ihr wird erst jetzt richtig klar, in welcher Situation sie sich befindet. Sollte ihr Vater sie finden, kann sie sich auf etwas gefasst machen.
Hanna kommt zurück mit zwei dampfenden Tassen. Sie reicht Josi eine davon und setzt sich in den gegenüberstehenden Sessel. Beide trinken schweigend, die Schokolade ist süß und schmeckt nach Zimt. Hanna fragt leise: „Möchtest du mir erzählen, warum du an Heilig Abend alleine im Wald unterwegs bist?“
Josi schaut auf, sieht in das gütige weiche Gesicht der Frau. Das schwarze Haar ist durchzogen mit silbernen Fäden. Josi versucht, ihr Alter zu schätzen. Hanna könnte 50 sein oder auch jünger, ihre Züge scheinen alterslos.
„Ich komme zuhause nicht mehr klar,“ sagt Josi leise, „mit meinem Vater... das geht schon lange so. Wenn er betrunken ist, schreit er mich nur noch an. Ich konnte es nicht mehr ertragen, vor allem nicht heute. Ich musste einfach gehen.“
Hannas Gesicht ist ernst geworden. „Außerdem wollte er mich sowieso rausschmeißen, fügt Josi hinzu, „Ich bin dann lieber freiwillig gegangen.“ Sie senkt den Blick und reibt ihre Füße aneinander.
Hanna stellt die Tasse ab und legt die Fingerspitzen aneinander.
„Ich kenne deinen Vater,“ sagt sie schließlich und lächelt über die Überraschung, die sich in Josis Gesicht spiegelt. „Ich kenne ihn sogar gut. Allerdings ist es sehr lange her, dass wir zuletzt miteinander gesprochen haben. Doch jetzt gibt es ja einen aktuellen Anlass, dass zu tun, findest du nicht auch?“
Josi traut ihren Ohren nicht. Sie fühlt sich wie in einem Traum, aus dem sie gleich erwachen wird. Wer ist diese fremde Frau? Warum scheint sie ihr so seltsam vertraut? Sie schaut Hanna mit wachsender Verwunderung an.
Hanna lächelt, als ob sie Josis Gedanken lesen würde.
„Ich weiss, wie seltsam sich das für dich anhören muss, Kind. Wie alt bist du jetzt eigentlich?“
„Ich werde siebzehn an Sylvester,“ antwortet Josi.
„Ich kenne deinen Vater von früher. Er war nicht immer so wie jetzt. Trinkt er wieder?“
Josi nickt beklommen. Hanna beugt sich vor und streichelt die Hündin, die sich zu ihren Füßen niedergelassen hat. Sie sieht sehr nachdenklich und besorgt aus.
„Weißt du, Josi, deine Mutter und ich waren eng befreundet. Als du sehr klein warst, habe euch beide zuletzt gesehen. Ich wusste damals nicht, dass sie nicht mehr lange leben würde.“
Josi Augen füllen sich erneut mit Tränen, sie schluckt ein paar Mal schwer. Sie kann sich an ihre Mutter kaum noch erinnern.
„Sie und ich haben viel zusammen erlebt,“ fährt Hanna fort,“Als junge Frauen waren wir auf Reisen, vor allem in Griechenland, in Kreta und in Peleponnes. Wir waren wilde, starke Frauen. Ich hab damals nicht verstanden, warum deine Mutter so sehr an deinem Vater festgehalten hat... sie war viel stärker als er. Aber schließlich war sie schwanger, und sie setzte soviel Hoffnung in diese Beziehung. Und dann kamst du.“
Sie lächelten sich an. Wärme breitet sich in Josi aus.
„Ich war lange in Griechenland, und habe leider zu spät vom Tod deiner Mutter erfahren. Ich werde sehen, ob ich nicht etwas für dich tun kann.“ Hanna steht auf und legt Josi behutsam eine Wolldecke um. „Wärm dich noch ein wenig am Feuer. Ich gehe und bereite uns etwas zum Essen zu. Natürlich bleibst du heute Nacht bei mir.“
In Josis Kopf kreisen die Gedanken. Wieso hat sie noch nie von Hanna gehört? Aber im Grunde weiß sie so wenig über das Leben ihrer Mutter, dass das eine zum anderen passt. Weder ihr Vater, noch sonst jemand aus der Familie war bereit, mit ihr über ihre Mutter zu sprechen. Irgendwann hat Josi aufgehört, Fragen zu stellen.
Sie steht auf und geht in dem Raum umher, sieht sich neugierig um. Die Wände sind scharlachrot gestrichen, an vielen Stellen ist die Farbe ungleichmäßig. Sie scheinen scheinen ein Eigenleben zu haben... je nach Lichteinfall erkennt Josi schemenhaft Figuren, Symbole, vielleicht kleine Tiere... Sie fragt sich, ob Hanna dies dem Zufall überlassen oder bewusst so gestaltet hat.
An der Decke sind Spiegel und Ornamente angebracht, auf dem Sofa in der Zimmerecke liegen orientalisch bestickte Kissen. Auf einen kleinen Altar steht eine weibliche Skulptur, die sie an eine griechische Göttin erinnert. Schon als Kind liebte sie die alten Sagen und Geschichten. Das weiche Kerzenlicht beleuchtet das edle Gesicht der Statue, es sieht fast lebendig aus.
Schließlich entdeckt Josi auf dem alten Sekretär neben dem Sofa, ein Foto von Hanna, zusammen mit ihrer Mutter. Es sieht aus wie ein Urlaubsfoto, die beiden lachen und sind braungebrannt. Die Frauen sind vielleicht Mitte, Ende 20, schätzt Josi.
Während sie noch das Foto betrachtet, kommt Hanna zurück ins Zimmer. Sie sieht Josi mit dem Foto in der Hand und legt dem Mädchen lächelnd den Arm um Schulter.
„Das war Anfang der 90er Jahre auf Kreta... ach, ich könnte dir so viele Geschichten über deine Mutter erzählen, Josi. Doch wir haben Zeit, nun haben wir uns ja endlich kennengelernt.“
Hanna hat ein einfaches Mahl aus Pfannkuchen mit Hackfleischfüllung zubereitet. Danach sitzen sie lange vor dem Kamin zusammen. Für Josi ist es, als würde sie nicht nur Hanna, sondern auch endlich ihre Mutter kennenlernen.
Es ist spät, als Josi sich im blauen Gästezimmer zur Ruhe legt. Über ihr an der Decke prangt ein funkelnder Sternenhimmel, dunkelblau mit goldenen Einsprengseln. „Das ist schöner als Weihnachten,“ denkt sie noch, bevor sie einschläft.
Hanna bringt Josi am nächsten Tag nachhause zurück. Ganz offensichtlich hat Hanna mit ihrem Vater telefoniert, aber Josi erfährt nie, worüber sie genau gesprochen haben.
Als ihr Vater die Wohnungstür öffnet, um sie zu begrüßen, merkt Josi, dass sich etwas verändert hat. Er tauscht ein paar Blicke mit Hanna, sagt aber nichts. Sein Blick ist weich, er entschuldigt sich sogar bei Josi dafür, dass er sie angeschrien hat. Sie sprechen nicht über die vergangene Nacht.
Ihren Geburtstag und Sylvester verbringt Josi bei Hanna, die zu ihren Ehren viele Frauen unterschiedlichen Alters eingeladen hat. Es wird für beide ein unvergessliches Fest.