0,00123 Prozent!
Den Hund hatte schon wieder das Jagdfieber gepackt. Er zog und zerrte an der Leine. Gut, dass ich noch immer einigermaßen durchtrainiert war. Ich fiel in einen leichten Dauerlauf.
Bonn-Bad Godesberg war weihnachtlich geschmückt. Doch kein Schnee. Überall nur dreckige Pfützen und in jede musste der Hund. Ich sollte Mama noch Gummistiefel dazu kaufen, dachte ich, während sich meine Barfußschuhe vollsogen und zwischen meinen Zehen ein kleines, feines Biotop wuchs.
„Schenk mir nichts, Junge!“ „Ich hab doch schon alles!“ „Heuer schenken wir uns aber wirklich nichts!“ Immer wieder war ich auf diese Versprechungen und Beteuerungen hereingefallen.
„Ja, klar!“ „Hast ja so Recht!“ „So machen wir es!“, sagte meine Schwester, dieser verlotterte, rauchende Fleischklops. Die ihren Arsch im Internet VERKAUFTE!
Mich schockte ja so leicht nichts. Ich bin Stochastiker und ein Stochastiker ist mit der achzigzwanzig Regel vertraut. Achzig Prozent wirst du einfach mit Scheiße zugeschüttet. Ist einfach so. Aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass deine eigene Schwester ihren weißen Arsch mit allerlei Zierwerk versehen in einer Bildergalerie in einem Sexportal feilbot? Mit dem Zusatz „Finanzielle Interessen“?
Ich habe es ausgerechnet! Ich musste es ausrechnen, ich war wie unter Zwang.
Während mich diese stoischen Jungs vom Büro 3 des Bundesnachrichtendienstes nicht aus den Augen ließen, mir ein Bild nach dem anderen unter die Nase hielten, ich tippte und tippte in meinen Taschenrechner. Texas Instruments. Retro-Modell. Den ich letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt bekommen habe. Von meiner Schwester!
Null Komma Null Null Eins Zwei Drei Prozent, schrie ich!
Da blieb selbst den Jungs die Spucke weg. Einen Urlaubsschein musste ich dennoch ausfüllen. Sicherheitsrisiko. Ich kannte das Prozedere. Ich gab meinen Knopf im Ohr ab. Und meine Spritzpistole. Nicht mal die Handschellen durfte ich behalten. Doch überraschenderweise meinen Namen.
„Niemand wird auf de Idee jommen, dat du da echte Jens Bont bist, weil de ja in Wirglichkjeit da Jens Müller bist, vastehst je?“
Die neue Vertretung meines Chefs war weiblich, ruderte beim Reden mit dem Armen, so dass ich geschickt ausweichen musste, wie Muhammed Ali beim Kampf gegen Joe Frazier. Sie hatte auch so eine Nase wie Joe Frazier und war genauso schwarz. Ich passte einen Moment nicht auf und schon traf mich ihre Pratze volle Wucht am Rücken.
Ich hustete.
„Ick wjünsch da alles Jute!“, sagte sie, aber ich wusste und sie wusste, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass das stimmte.
Wegen mir musste sie aus ihrem geliebten Berlin, mit den nächtlichen Faustkämpfen in schillernden Bars nach Bonn umziehen. Mein letzter Einsatz, und Berlin war nur noch Schutt und Asche, und keine Hauptstadt mehr.
In Bonn gab es Speiselokale. Gaststätten. Imbissbuden. Und: Speiselokale.
Als einzige Zerstreuung gab es einen von FREU-zertifizierten Schwingerclub. Am Eingang musste man Tiermasken aufsetzen und Sonntags gab es in einem Käfig, der mit schwarzen Schaumstoffmatratzen ausgelegt war, einen Kampf. Das wäre was für sie gewesen. Nur der Preis gefiel ihr nicht. Der Gewinner durfte an einer Fleischwurst lutschen. Sie war Vegetarierin.
Vegetarier war dieser Hund nicht. Nur Gluten, was immer das auch war, durfte man ihm nicht geben. Das war überschaubar. Er zog und zerrte an der Leine und es kam mir auch vor als höre er etwas schlecht, denn „Platz!“ verwechselte er gern mit „Fass!“, aber Mama würde ihm schon Herr werden, da war ich sicher.
Dieses Weihnachten war anders. Ich sog die Luft ein und eine tiefe Zufriedenheit durchströmte mich. Ganz anders. Dieses Weihnachten fiel ich nicht auf die „Ich-brauch-doch-nichts-ich-hab-doch-alles“ Nummer herein. Dieses Mal durfte meine Schwester auf ihrem weißen, gepluggten Arsch sitzen bleiben. Und ihrem Geschenkeberg aus Platzdeckchen, Stolas und Kuschelsocken. Dieses Weihnachten bekam meine Mama einen Hund.
Der Hund steuerte gezielt auf den Münsterplatz zu. Für einen Moment war ich so geblendet von der Lichterkette mit der die blinkende Statue zusätzlich geschmückt worden war. Ich konnte verstehen, dass die Bonner nicht froh über sie waren, und die Bad Godesberger auch nicht. Künstlerisch gesehen war sie wie eine Mauer aus Swarovski-Steinen. Sie blinkte und glitzerte so stark, dass seit kurzem ein Schutzpolizist den Verkehr regeln musste. Zu viele Auffahrunfälle. Bereits ein Toter. Und die Berliner Touristen – es mussten Berliner Touristen sein – begannen die Mauer mit Farbe zu beschmieren. Ein wenig verdeckte es das Glitzern und Blinkern, aber wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie lesen müssten: „Who the FUCK ist JENS BONT?“ Eben. Froh machte mich das nicht.
Endlich kam der Hund zur Ruhe. Er kauerte am Rand der Statue und schiss. Seufzend drehte ich mich zum Hundekot-Tütenspender um. Keine Tüte mehr da! Doch, eine konnte ich noch erspüren. Ich versuchte mit meinen Fingern in das kleine Loch zu kommen, vergeblich.
Der Hund war fertig und zog an der Leine. Ich sah mir die Bescherung an. Drei Tüten. Drei Tüten brauchte ich mindestens.
Ich wusste was passierte, wenn man die Hinterlassenschaft in einem Wald nicht entsorgte. Gar nichts. Rein gar nichts passierte. Der Förster fluchte. Seine Frau ärgerte sich über die braunen Flecken von der Eingangsdiele bis zu ihrem Kühlschrank in der Küche.
Ich wusste was passierte, wenn man die Hinterlassenschaft in einem Park, auf einer Straße nicht entsorgte. Bußgeld! Ordnungsstrafe! Wiederholungstäter mussten sogar ein paar Tage rostige Gitterstäbe in Kauf nehmen.
Doch das war nichts, gar nichts im Vergleich was passierte wenn man es im öffentlichen Raum wagte. An einem Denkmal. Ich spürte die Überwachungskameras förmlich. Ich spürte wie sich mich scannten. Sie wussten bereits alles über mich. Jens Müller aka Jens Bont aka Christian_M: ein Meter achtundsiebzig, achtundsiebzig Kilo schwer, grünäugig, kurzsichtig, nachtaktiv, hat drei Tüten Hinterlassenschaft seines Hundes nicht entsorgt!
Die waren imstande und nahmen mir den Hund weg! Nein! Undenkbar. Dieses Weihnachten fiel nicht ins Wasser! Dieses Weihnachten stand ich nicht wieder da wie der Vollidiot ohne Geschenk und meine Schwester wurde über ihren Arsch hinweg gelobt.
Der Hund stupste mich an und wollte weiter. PLATZ brüllte ich und zu meinem Erstaunen setzte er sich. Seine Zunge hing raus. Ich beobachtete ihn misstrauisch.
Verstärkung. Ich brauchte Verstärkung. Ich klappte mein Handy auf.
Es wurde schon dunkel. Es nieselte leicht. Egal. Fräulein Pennings war immer erreichbar.
„Null Null Sieben ade“, sagte ich. „Ich brauche einen Müllwagen. Zum Jens-Bont-Denkmal.“
Ich seufzte. So einfach würde es doch nicht werden.
„Ja. Gerne. Ich buchstabiere. M wie Muttertag, Ü wie Überfall und dann ein Doppel L. Sagen Sie Q, dass er meine Eierlikörlizenz bekommt, wenn der Müllwagen in den nächsten zehn Minuten da ist. Ja. Ich warte.“
Ich klappte das Handy wieder zu. Das würden lange zehn Minuten werden.
Es fing zu schneien an.