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F 220

eyes002
******ace Mann
15.955 Beiträge
Themenersteller Gruppen-Mod 
F 220
F 220
Oder:
ל - Der letzte seiner Art
( ל = Hebr. = Lamed = Leben)

Geschrieben 2014 by Pourqui_pasXX (Judith/Claudia)und
Ghostface (Lt. Richter)
Can you picture what will be
So limitless and free
Desperately in need...of some...stranger's hand
In a...desperate land

Lost in a Roman...wilderness of pain
And all the children are insane
All the children are insane
Waiting for the summer rain, yeah

“The End” von The Doors 1967


(5) „Erkenne, was vor dir ist, und was dir verborgen ist, wird dir enthüllt werden. Denn es gibt nichts Verborgenes, was nicht offenbar werden wird.“

(34) Jesus sprach: „Wenn ein Blinder einen Blinden führt, fallen sie beide in eine Grube.“

(58) Jesus sprach: „Selig der Mensch, der gelitten hat, er hat das Leben gefunden.“



Jesus von Nazareth, Thomas-Evangelium






Übersicht:


Kapitel 1: Die Wiedergeburt
Kapitel 2: Ein neues Zuhause
Kapitel 3: Mittendrin
Kapitel 4: Letzte Vorbereitungen
Kapitel 5: Boarding
Kapitel 5B: Gefechtszustand
Kapitel 5C „Raubtiere“
Kapitel 6: Abwehr
Kapitel 6B „Dämonen“
Kapitel 7: Katzen
Kapitel 7B „Scham“
Kapitel 8: Der Angriff
Kapitel 8B: Erkenntnisse
Kapitel 9: Aktion und Reaktion
Kapitel 9B: Überraschung
Kapitel 10: Das Bündnis
Kapitel 10B:




Appendix: Die Bibel des Predigers

Kapitel 1: Die Wiedergeburt

Licht. Kaltes, hartes, flimmerndes Neonlicht. Als die Schleier sich vor meinen Augen verzogen, erkannte ich zwei in die Decke eingelassene Rechtecke. Zwei Röhren, die hart und bläulich flimmerten, unter einer Art Blechraster.
Ich blinzelte mehrmals. Mein Körper fühlte sich schlaff an. Kraftlos und wie in Watte gepackt. Wo war ich? Desorientierung. Mein Herz begann, heftiger zu schlagen, Panik ergriff meinen Verstand. Ich japste nach Luft. Eine Luft, die nach Politur roch oder eher Desinfektionsmittel. So wie die Linoleum-Politur damals in der Schule. Mühsam hob ich den Kopf, er war schwer. Die Muskeln in meinem Nacken zitterten. Atemlos ließ ich ihn wieder sinken. Ich hatte beinahe schon zu viel erkannt. Ein bis unter die Decke weiß gekachelter Raum. An den Wänden Dinge. Ein Hinterlicht-Betrachter, wie man ihn von Röntgenaufnahmen her kennt. Ein PinUp-Kalender mit Miss Juli. Tabellen, Statistiken und Dienstpläne. Eine digitale Uhr mit Kalenderdaten und Wetterauskunft.

Ein wenig ausruhen. Luft holen. Dann wieder den Kopf heben. Ich wollte das Jahr sehen, das unter der hübschen Juli-Braut stand. Zitternd erkannte ich neben der Uhr einen Wackel-Elvis, der an einem Schnürsenkel von der Decke hing. Miss Juli zeigte den August 2014. Ein Blick auf die Uhr allerdings ließ meinen Kopf auf das Kissen knallen. Es gab ein Geräusch, als wenn Tortenguss zu Boden fällt. Das Datum auf der Funkgesteuerten Uhr ließ Tumult in meinem Kopf aufwallen. Dort stand 23. März 2015!

Ich versuchte, zu rufen. Doch nur ein röchelndes Krächzen kam aus meiner Kehle. Trinken, ich musste etwas trinken. Das Tosen in meinem Magen verhieß nichts Gutes. Ich hatte einen Bärenhunger. Nein, mehr als das. Ich hatte nagenden, fürchterlichen Hunger. Langsam, um nicht in Schnappatmung zu verfallen, versuchte ich, den Oberkörper zu heben und mich auf die Ellbogen zu stützen. Dumme Idee. Mir wurde schwindelig. Verdammt, wie lange lag ich hier schon? Und warum?

Denken, ich musste denken. Erinnern. Was war im August 2014? Ich sah an meinem Körper herunter. Ein hellblaues, schwul aussehendes Leibchen und Thrombosestrümpfe. Scheiße. Wenn mich jemand so sah! Nicht auszudenken, was die Kameraden… welche Kameraden? Als ob ein Taschenlampenstrahl sich für eine Sekunde auf mich gerichtet hatte, kamen mir ein paar Bilder in den Sinn. Gesichter. Lachende Gesichter. Gesichter mit Körpern, die in Uniformen steckten. Menschen, die mit Waffen hantierten. Dann lachten die Gesichter nicht mehr. Die Männer feuerten. Auf andere Menschen. Auf Zivilisten. Gott…
Weiter erkundete ich den Körper, der sich irgendwie fremd anfühlte. Das war nicht ich. Oder träumte ich? In meinem linken Arm steckten Kanülen. Als ich die transparenten Schläuche mit zitternden Nackenmuskeln verfolgte, sah ich mehrere Infusionen. NaCl, Fentanyl und Cox-2-Inhibitor. Weiß der Geier, was das ist. Alle Infusionen waren leer.

Es kostete Mühe, sich aufzurichten. Mit einem Ruck riss ich die Nadeln aus meinem Körper. Es blutete kaum. Und es schmerzte nur ein paar Sekunden lang. Beinahe schien es, als atmete mein Körper auf, als das Metall die Venen verließ. Nun schmerzte aber mein Bauch. Ich hob das schwul aussehende Leibchen und erschrak. Ein massiver Verband zierte das, was früher einmal mein Bauch war, bis hoch zu den Brustwarzen. Irgendetwas musste mich schwer erwischt haben. Aber was? Und was war das hier für ein merkwürdiger Raum? Er glich eher einem OP, als einem Krankenzimmer. Deswegen gab es auch keinen Drücker um sexy Krankenschwestern zu rufen. Es nützte nichts. Was sagte Vater immer? Wenn du willst, dass etwas funktioniert, mach es selbst. Also dann. Die Beine schmerzten ein wenig, als ich sie seitlich über den OP-Tisch schob. Dann die Mutprobe. Langsam das Gewicht nach vorn, bis die Füße den kalten Boden berührten. Weiter, noch weiter. Zu spät. Die Knie gaben nach und ich fiel wie ein Sack Kartoffeln auf die nackten Fliesen. Das Geräusch erinnerte mich an früher, als wir Kinder Luftballons als Wasserbomben benutzten. Wenn die auf hartem Boden platzten, gab es ein Geräusch, das genau so klang. Jetzt hatte ich aber das Missvergnügen, dass mein Kopf wie eine hohle Glocke klang, als mein Schädel aufschlug. Arabeske Muster tanzten vor meinen Augen und ich wurde wütend. Schlapp und hilflos war kein guter Zustand. Angst macht Wut und Wut verleiht Kraft. Den Stuhl vor mir nutzte ich als Stütze und kam wacklig und mit schwingenden Knien hoch, um mich gleich wieder zu setzen. Mir wurde wieder schwindelig.

Nach mehreren Versuchen gewöhnte ich mich an die aufrechte Stellung und konnte viel zu langsam einen Schritt vor den anderen setzen, die Stuhllehne immer als Stütze nutzend. Dieser Hunger…
Ich erreichte einen Flur. Kalt, weiß und leer. Rechts ein Glasverhau, bestimmt ein Schwesternzimmer. Es dauerte seine Zeit, bis ich mich dort hin geschleppt hatte. Das Zimmer war leer, aber davor stand in einer Nische ein Rollator. Gut. Wechsel von Stuhl auf Rolli. Mein Blick fiel auf die zahlreichen Papiere, die dort lagen. Ein erster, wichtiger Hinweis. Die Unterlagen waren gekennzeichnet mit: Marinelazarett Wilhelmshaven. Gut, bis hier wusste ich, wo ich war, aber nicht warum.

Dann sah ich mir die Akten einzeln an. Dabei fiel mein Blick auf einen Karton, in dem wohl einmal eine Pizza lag. Halb aufgegessen war dort aber nur noch ein zusammengefallener Rest Irgendwas zu sehen. Ich runzelte die Stirn. Hier war schon lange niemand mehr. Was mich zu der Frage führte, warum man mich dort abgeschaltet zurück gelassen hatte. Weiter Akten sichten, nur nicht nachdenken. Eine Augen-OP, ein Fall von Syphillis, eine Magen-OP. Das war wohl ich. Oben stand mein Name. Leutnant Thomas Richter. Waffensystemoffizier. Allmählich lichtete sich der Nebel und die Bilder wurden deutlicher. Und als ich den Grund für die Operation las, kam alles schlagartig zurück. Notoperation Abdomen nach Verletzung durch Schrotschuss. Diesmal gewann der einsetzende Schwindel und mir wurde schwarz.

Ich sah Schafe. Äsende Schafe auf einer großen, grünen Wiese. Aber etwas stimmte nicht. Es stank bestialisch. Es stank nach Asphalt. Nach Fäule und Schimmel. Es stank, als wenn man eine Flexscheibe zu lange glühen ließ oder als ob man im Gebirge beim bergab fahren permanent auf der Bremse stand. Fürchterlich und ekelhaft. Als ich den Blick nach links wandte, erkannte ich den Grund. Leichen. Bergeweise Leichen. Verwitterte, tote Menschen in allen Stadien der Verwesung. Und dazwischen äsende Schafe.

Ich schrak hoch und öffnete die Augen. Mir war schlecht. Die Erinnerung hatte mich wie ein Keulenschlag getroffen. Ich musste weg hier. Ganz schnell weg. Ich rappelte mich panisch hoch. Schnappte mir den Rollator und hastete so schnell es ging, zu den Flügeltüren, die die Freiheit versprachen. Als ich sie aufstieß, stand dort ein Geschenk des Schicksals. Ein Mini Crosser 140S. Ein Elektrofahrstuhl. Prächtig, nun ging es schneller. Ich erreichte den Lift und fuhr ins Erdgeschoss. Natürlich war es verwunderlich, dass ich niemanden antraf. Aber wenn mich meine Erinnerungen nicht täuschten, war ich allein. Ganz allein. G A N Z allein.
Die Lifttüren öffneten sich klappernd. Ich fuhr geradeaus auf eine Drehtür zu, die sich in Bewegung setzte, als ich mich näherte. Draußen die Rampe hinunter. Ich hielt an und sah mich um. Ja, Wilhelmshaven. Der Marinestützpunkt am Heppenser Groden. Vor mir die fast leeren Kais, dazwischen… Schafe. Auf den Wegen und Straßen lagen die Toten. Hunderte von verwesten, toten Menschen. Fast alle in Uniform. Ich fuhr weiter, die aufwallende Übelkeit, die sich den Magen herauf fraß, ignorierend. Am Kai lag nur ein einziges Schiff. Ich erinnerte mich. Die Fregatte Hamburg sollte umgerüstet werden auf MANTIS- Flugabwehrsysteme. Sie lag immer noch hier. 143 Meter lang, schwer bewaffnet und in mir keimte die Hoffnung, dass von den 255 Mann Besatzung vielleicht noch ein paar am Leben waren.

Mit klopfendem Herzen und viel Mühe hatte ich, zurück im Lazarett, den Süßigkeiten-Automaten umgeworfen. Snickers, Mars und Milky Way mussten erst einmal herhalten. Der Getränkeautomat nebenan war schwerer zu knacken. Aber mit einem schweren Stuhl war die Scheibe schnell zerbrochen, auch wenn der Schwindel wiederkam, und ich bekam endlich etwas zu trinken. Jetzt konnte ich die Erinnerung sacken lassen und einen Plan schmieden. Ich erinnerte mich an den Juli und August 2014, als ob es gestern war. Ebola-Epidemie in Afrika. Das war nichts neues, das kam dort unten regelmäßig vor. Unglücklicherweise war dort ein deutsches Hospitalschiff, das ein paar der Kranken auf Geheiß der UNO nach Hamburg in ein Krankenhaus bringen sollte. Als das Hospitalschiff Esperanza in Hamburg ankam, waren alle bereits tot. Die Pandemie griff so rasend schnell um sich, dass niemand ernsthafte Gegenmaßnahmen einleiten konnte. Es kam zur Panik. Hamsterkäufe wurden zu Plünderungen, Plünderungen zu offenem Krieg auf den Straßen. Die Menschen rotteten sich selbst aus. Wer nicht an Ebola starb, hatte gute Chancen, im Supermarkt des Vertrauens getötet zu werden. Darwinismus in Reinkultur. Das Überleben des Stärkeren… es sei denn, man liegt im künstlichen Koma. Vielleicht bedeutete das, dass Michael Schuhmacher und ich die einzigen Lebenden Personen auf der Erde waren.

Magenschmerzen. Nicht einmal eine Stunde nach meiner Junkfood-Fressattacke hatte ich grausame Magenschmerzen. Selbst schuld, nicht wahr? Und doch konnte ich nicht anders, ich dachte ständig darüber nach, ob die Welt dort draußen tot war oder nicht. Gab es lebende Menschen? Wenn, wo? Und wieviele? Es gab dann noch die Möglichkeit, dass die Plünderungen die Menschen bösartig gemacht hatten. Was dann? Und warum war der Stützpunkt nicht schon geräumt? Elektrozäune mit Stacheldraht war die Antwort. Das aber würde bedeuten, dass ich hier der Einzige innerhalb der Umzäunung war. Verdammt. Und die beiden Automaten würden mich nicht lange am Leben erhalten, das kam hinzu. Deshalb fuhr ich mit dem Lift in den Keller und schaute mir die Küche an. Nichts, was einem das kochen für eine Person leichter machte. Großküchen sind für große Portionen. So ein Mist. Was ich brauchte, war eine Sphäre. Ein eigener, kleiner Lebensraum, leicht zu verteidigen, schwer einzunehmen und mit Küche, Wasser und Energie versehen. Am besten mobil. Ein LKW fiel aus, jeder Tankvorgang wäre mit Lebensgefahr verbunden. Ein Wohnmobil würde man im Sturm knacken wie eine Konservendose. Fliegen konnte ich nicht und die Großküche bedienen ohnehin nicht. Verzweifelt sah ich aus dem Fenster. Flache Gebäude, Zäune, Straßen mit verwesten Leichen, der Mast einer Fregatte, Kais…. Fregatte! Das war es! Lebensmittel für 255 Mann für 3 Monate. Das bedeutete Nahrung für 2 Jahre für eine Person. Trinkwasser in derselben Menge, Strom, Funkgeräte und Waffen! Die neuen Manits-Geschütze, Torpedos, ein 76mm Schnellfeuergeschütz, Harpoon-Raketen, VLS Systeme und Abwehrraketen. Teufel, was brauchte man mehr? Und wenn ich irgendwie die Vorräte des Lazaretts ins Schiff bekäme, würde ich auf Jahre autark leben können, ohne mir Sorgen machen zu müssen. Mein Plan stand. Ich musste nur verdammt schnell meine Beine zurück bekommen.


Kapitel 2: Ein neues Zuhause

Zwei Wochen später sah die Sache ein wenig anders aus. Ich hatte herausgefunden, dass jede Station eine kleine Küche hatte. Wohl fürs zivile Personal, denn die Fächer der Kühlschränke waren mit Namen versehen. Namen ohne Dienstgrade. Ich fand es lustig, dass man am Inhalt der Fächer sehen konnte, ob der Besitzer männlich oder weiblich war. Bei den Mädels war es irgendwie immer gleich. Magerquark, „light“ Käse, Butter, Eiersalat und Obst. Jungs hatten andere Sachen in den Fächern. Salami, Schinken, Margarine, Dosencola und Mikrowellencurrywurst. Ekelhaft. Was fehlte, war Alkohol. Und den brauchte ich. Ob ich ein Problem mit Alkohol habe? Nein, sicherlich nicht. Ich habe ein Problem ohne Alkohol. Früher, also eigentlich für einen Komatösen erst Gestern, hatte ich einen Kater. Der hieß nicht umsonst Jack.

Ich musste mich wieder setzen. In den letzten zwei Wochen ging es täglich besser mit dem Laufen, aber meine Muskeln waren fernab jeglicher Fitness. Mein Vorteil war, dass ich jede Menge Zeit hatte, zu trainieren und zu denken. Im Fernsehen gab es nur Testbilder, im Radio musikalische Endlosschleifen. Zunächst hatte ich es genossen, allein zu sein. Niemanden, der mich mit Ratschlägen bombardierte, keine Befehle, keinen Small-talk, nichts, was ich nicht mochte. Aber es wurde zunehmend belastender. Mir fehlte es. Und das „es“ war es, das mich stutzig machte. Im Grunde mochte ich Menschen gar nicht. Die Meisten waren arrogant, eingebildet und dämlich. Aber dennoch vermisste ich sie. Und die Frage, ob es außerhalb des Stützpunktes noch überlebende Menschen gab, belastete mich.
Zweimal hatte ich versucht, über die Gangway an Bord der Fregatte zu gelangen und jedes Mal hatte ich in der Mitte schlapp gemacht. Viel zu steil. An Bord waren Funkgeräte, an die wollte ich heran. Zugleich mahnte mich eine innere Stimme, dass ich vorsichtig sein sollte. Bei meinen Wanderungen hatte ich ein paar alte Zeitungen gefunden und war über die Plünderungen und die Bösartigkeit und Verzweiflung gestoßen. Was, wenn ich mich so sehr nach Gesellschaft sehnte, dass ich auch Strolche hereinließ? Immerhin war ich hier relativ sicher. Und ich hatte alle Zeit der Welt. Dachte ich zumindest.

Ich stand auf. Wie jeden Tag wollte ich den Stützpunkt ein wenig mehr erkunden. Die Waffenkammer und den Munitionsbunker hatte ich schon gefunden. Seitdem hatte ich ein G 36 mit zwei Magazinen am Mann. Man weiß ja nie…
Heute gelangte ich an den Zaun zur Straße. Wie friedlich es hier aussah. Keine Bewegung, keine fahrenden Autos, keine hastenden Menschen und keine Staubwolke waren zu sehen. Einen Moment lang wurde ich traurig. Ich dachte an früher. Meine Erinnerungen fügten sich täglich mehr und mehr zusammen. Ich war Waffensystemoffizier. Mein Schiff sollte umgerüstet werden am Ausrüstungskai. Kapitän… Teufel, wie hieß er noch?... übergab mir das Kommando. Ich hatte sein Gesicht deutlich vor Augen, aber der Name wollte mir nicht einfallen. Seinen Spitznamen wusste ich wieder. Semmel. Weil er einem Comic-Autoren namens Brösel so ähnlich sah.

Ein Geräusch! Wie ungewöhnlich in dieser neuen, stillen Welt. Eine Art schaben oder schnüffeln. Erstaunlich, wie ein Körper sich an die Urinstinkte erinnert, wenn Gefahr droht. Und hier war zurzeit alles eine Gefahr, das Geräusche erzeugte. Ich hockte mich hinter eine der breiten Steinsäulen, zwischen denen der dicke Zaun gespannt war. Ganz automatisch war das G 36 vom Rücken in meine Hände gewandert und die Mündung zeigte drohend in Richtung Straße. Nichts war zu sehen. Ich atmete flach, bewegte mich nicht.
Dann traute ich meinen Augen kaum. Ein großes Tier stand auf der anderen Straßenseite. Eine Katze. Ich liebe Katzen, aber diese war anders. 60 cm Schulterhöhe. Fleckenfell. Langer, geschwungener Schwanz, große Ohren, kurze Schnauze. Das Tier sah aus, wie eine niedliche Version eine Geparden. Ein Ozelot. Wo zum Teufel kommt ein Ozelot her? Die gibt es doch nur in Südamerika? Dann fiel es mir ein. Vermutlich hatten die Menschen die Gehege aller Tierparks, Zoos und Zuchtstationen geöffnet oder die Tiere waren ausgebrochen. Wenn ich an die Umgebung bis Bremerhaven dachte, wurde ich nervös. Flusspferde, Nashörner und Elefanten. Tiger, Löwen und Leoparden. Giftschlangen, Skorpione und tellergroße Spinnen. Affen, Würgeschlangen und Wölfe! Gegen Insekten hatte ich genug da, aber gegen Raubtiere war ich nun gar nicht vorbereitet. Und der Ozelot bewies eindrucksvoll, dass die Räuber nie weit weg waren. Gut, dass der Zaun da war. Ich richtete mich auf. Die Katze erschrak und war schneller verschwunden, als ich schauen konnte. Es wurde Zeit, das Schiff zu kapern.
Morgen sollte es sein. Ich musste einfach an Bord. Ich wusste, dass noch viel Arbeit vor mir lag, aber welche Alternative hatte ich? Der Stützpunkt war zwar hermetisch abgeriegelt, aber für wie lange noch? Irgendwann würde es keinen Strom mehr geben und dann? Mir wurde eiskalt ums Herz, als ich daran dachte, wer oder was hier alles hereinkonnte.
Mein Abendessen bestand aus ein paar Scheiben Brot und aufgetauten Makrelen. Dazu Pfirsichtee, der bei der Hitze sehr wohltuend wirkte. Ich saß vor dem Lazarett auf einer Ruhebank und starrte kauend den Funkmast der „Hamburg“ an. Hamburg als gelobtes Land, wer hätte das gedacht? Plötzlich hörte ich hinter mir ein tiefes, gutturales Grollen. Ich erstarrte zu Stein. Mein Herz begann zu pumpen, das Blut rauschte in den Ohren. Ich spürte, wie sich meine Haut rot färbte vor Aufregung. Meine Hände zitterten. Verdammt, das Gewehr lag noch in der kleinen Küche. Eine Nachlässigkeit, die tödlich enden konnte. Was nun? Außer dem kleinen Küchenmesser war ich wehrlos.
Aus den Augenwinkeln sah ich den Ozelot langsam und vorsichtig näher kommen. Es war keine Großkatze, aber ich kannte Katzen. Ihre Krallen sind tödliche Waffen, gegen ihre Wildheit kein Kraut gewachsen. Langsam drehte ich den Kopf. Das Tier war höchstens 7, vielleicht 8 Meter entfernt. Ein Weibchen. Der Körper war eleganter, länger und weniger kompakt als bei Männchen. Sie sah mich direkt an. Keine Furcht war zu erkennen, aber auch keine Gnade. Sie schon ihren Kopf nach vorn, witterte. Dann ein weiterer, zögerlicher Schritt. Vorsichtig griff ich nach einer Makrele; sofort spannte sich das Körper des Ozelots zum Sprung. Ich hielt dem Mädchen den Fisch hin und sah, wie sich ihre Nase bewegte. Beinahe konnte ich spüren, wie ihr das Wasser in der Schnauze zusammenlief bei dem leckeren Happen. Vorsichtig holte ich aus und warf den Fisch 2 Meter neben sie. Zu kurz, verdammt. So nahe sollte sie gar nicht kommen. Sie schreckte kurz zusammen, erkannte dann aber, was dort im Gras lag. Ich wusste nicht, dass Katzen seitwärts gehen konnten. Und nicht nur das, sie ließ mich keine Millisekunde aus den Augen. Wohl fühlt man sich nicht, wenn man im Fokus eines Killers sitzt, aber ich hatte mein Friedensangebot unterbreitet.
„Na komm, Kleines, friss“ murmelte ich. Sie sollte meine Stimme hören. Und sich vielleicht daran gewöhnen. Ibo war ein guter Name, fand ich. Er passte aber nicht so ganz. Ibo, die einsame Jägerin. Bei den Ibo in Afrika glaubte man, dass die Besten einer Gesellschaft als Leoparden wiedergeboren wurden. Aber war Ibo ein Name für eine Katze? Nein.
Sie hatte den Happen schon gefressen und leckte sich die Lefzen. Fasziniert betrachtete ich das Netz an Flecken auf ihrem Fell. Ein wunderschönes Tier. Und gerade jetzt senkte sie den Kopf, legte die Ohren an und machte einen weiteren Schritt auf mich zu. Seltsamerweise empfand ich keine Furcht mehr. Im Gegenteil. Sie hatte meinen Tribut geschluckt und wollte mehr. Ein weiterer Fisch flog zu ihr und ich hatte nur noch eine Makrele übrig. Als ich sie in der Mitte durchgeschnitten hatte, schaute mich die große Katze bereits wieder hungrig an. Und auch die letzte Hälfte meines Abendessens verschlang sie gierig. Nun wurde es kritisch. Würde sie verstehen, dass nichts mehr da war? Galt ich jetzt als Beute? Ich warf ihr eine Scheibe Brot zu. Sie rümpfte die Nase, drehte sich herum und verschwand. Und ich atmete tief durch. Ich mochte Katzen, aber herrje…
Das Aufstehen war längst nicht mehr so mühevoll, wie noch vor zwei Wochen, aber noch weit von der Eleganz eines durchtrainierten Körpers entfernt. Doch ich musste mich beeilen. Das Gewehr holen. Die Waffenkammer aufsuchen und mir eine kleine Automatik holen, die ich ständig mit mir führen konnte. Wenn ich etwas gelernt hatte, dann, dass ich hier nicht wirklich sicher war. Ich fragte mich nur, wie die Katze auf das Gelände gelangt war. Und zwar, ohne gegrillt zu werden.

In der Waffenkammer wählte ich eine Heckler&Koch P 12 im Kaliber .45 und steckte es in das Beinhalfter, das ich mir zuvor angeeignet hatte. Ein paar Magazine eingesteckt und Munition besorgt. Die P 12 war eigentlich nicht die Standard- Waffe der Bundeswehr, aber die P 8 war so hässlich wie die Nacht und wirkte wie ein Spielzeug. Die P 12 hatte auch das größere Kaliber. Die so genannte Mannstoppwirkung fiel höher aus. Wäre Wunschzeit, würde ich mir eine Beretta 92 F wünschen. Aber die hatten nur die Amiländer und die Makkaronis. Wenn ich allerdings an Nashörner und Elefanten dachte, wäre eine IMI Eagle eher angemessen. Oder ein echtes Ofenrohr, wie eine Smith & Wesson Model 500. Das war der stärkste Hammer, den ich kannte, bevor ich… abgeschaltet wurde. Soweit ich mich erinnern konnte, sollte man die 500er nicht ohne Handschuhe abfeuern. Durch die enormen Pulverdrücke wurden Schmauchpartikel in die Haut gestanzt, die nur sehr schwer wieder weggingen. Sportschützen redeten vor „Reifenspuren“ auf den Händen. Nicht schön, aber das war ja nur blanke Theorie. Denn selbst wenn es hier einen Waffenladen gäbe oder einen Großkaliberschießstand oder ähnliches, ich würde den Stützpunkt garantiert nicht verlassen. Nashörner, Elefanten und hungrige Wölfe tanzten vor meinen Augen, und ich hieß meine Paranoia willkommen.

Zielstrebig und so schnell ich konnte, wollte ich den Stützpunkt heute umrunden. Ich musste einfach wissen, wie die Katze auf das Gelände gelangt war. Und die Lösung ließ nicht lange auf sich warten, denn „Kleines“ thronte auf einer alten Eiche, die jenseits des Zaunes wuchs. Beziehungsweise thronte die Katze auf einem Ast, der weit in das Gelände des Stützpunktes ragte. Und wenn eine Katze das schaffte, dann würde das bestimmt auch anderen einfallen.

„Kleines“ sah mich furchtlos an. Nicht einmal, als ich direkt unter ihr stand, bewegte sie sich. Kopfschüttelnd sah ich ihr in die Augen. Diese Katzenart war nicht domestiziert. Und dieses Exemplar verhielt sich atypisch. Vielleicht war sie gar kein Ausbrecher aus einem Zoo? Keine wilde Kreatur ließ einen Menschen so dicht an sich heran. Ich ging weiter. Und freute mich, dass ich Fortschritte machte. Sowohl was Kraft, als auch was Ausdauer betraf. Schwindelig wurde mir nicht mehr. Morgen konnte ich beginnen, einen leichten Dauerlauf zu starten und einen weiteren Versuch zu unternehmen, an Bord des Schiffes zu gelangen.
Als ich gedankenverloren den entferntesten Teil des Stützpunktes erreicht hatte, ereilte mich der nächste Schock. Hinter mir erklang ein altbekanntes Grollen wie ein Gewitter, das noch weit entfernt war. Ich drehte mich um. Der Ozelot saß hinter mir. Keine zwei Meter entfernt. Und sah mich an mit einem Blick, der auszusagen schien: „Hey, ist das sinnvoll, was du machst?“
Ich beruhigte mich schnell. Diese Katze war außergewöhnlich. Einen passenden Namen zu finden war nicht leicht. Kleines war auf Dauer nicht schön. Seska würde passen. Oder Madame. Ich musste grinsen. Doch das Grinsen verschwand schnell. Ich erinnerte mich wieder, wie ich hergekommen war.
eyes002
******ace Mann
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F 220 , Kapitel 3 + 4
Kapitel 3: Mittendrin

Mitte 2014. Wir begleiteten den Trägerverband der „Dwight D. Eisenhower“ im Mittelmeer. Es war das erste Mal, dass eine deutsche Fregatte, die in Wahrheit eigentlich ein Zerstörer war, mit dem alleinigen Schutz eines US-Amerikanischen Flugzeugträgers betraut war. Wir kontrollierten den Luftraum in einem Radius von 180 km, die Starts und Landungen auf dem Flugzeugträger, fungierten als Ersatz-Zentrale, falls der Träger getroffen werden sollte und waren verantwortlich für den Schutz des Luftraumes. Wir platzten fast vor Stolz, als wir in die US Carrier Strike Group VII (*1) berufen wurden. Im August, nach vielen Monaten auf See, bekamen wir turnusgemäß eine Ablösung. Ich hatte Urlaub. Eine Sea-King brachte uns Urlauber nach Incirlik in der Türkei und von dort ging es mit einer Hercules C 130 nach Hause.

Natürlich waren wir an Bord immer gut informiert. Moderne Soldaten wurden unterrichtet in Staatsbürgerkunde, Geografie, Politik, Strategie und Geo-Politik. Es gibt Ethik, Recht und die wichtigsten exterritorialen Grundlagen. Zurzeit waren als Tagesthemen die Annektierung der Krim, Aufstände russischer Agitatoren, von Putin geschickt, in der Ost-Ukraine und der anhaltende Konflikt in Syrien. Wir als Soldaten verstanden die Welt nicht mehr. Wo war die soldatische Ehre? Wo? Soldaten, die aufs eigene Volk feuerten? Gesichtsmasken als Soldaten in der Ukraine? Keine Landeskennzeichnung? Bewaffnete Aktionen auf fremdem Territorium? Abschuss von Zivilmaschinen? Wir nannten das Terrorismus. Und waren einig mit den Amerikanern, was unter uns eher selten vorkam. Denn wie sollte ich unseren Ethik- Unterricht mit Guantanamo in Einklang bringen?

Dann der Angriff der Israelis auf Gaza. Die Hamas und die Israelis hatten wohl einen Anpisswettbewerb am Laufen, wer sich human und sozial, wie auch ethisch und moralisch mehr wie ein Arschloch benahm. Die Hamas konnte sich nicht zurückziehen und schoss feige aus dem Hinterhalt auf israelisches Gebiet und die Israelis in ihrer blinden Zerstörungswut ballerten alles nieder. Einschließlich Schulen und Krankenhäusern.
In Syrien war eh schon Hopfen und Malz verloren und jetzt kam eine kleine Meldung aus West-Afrika. 3 Tote durch Ebola. An sich nichts Neues. Das gab es dort öfter. Ein paar Tage später kam eine Nachricht, dass die Ansteckung sich ausbreitete. Wieder ein paar Tage später waren die ersten infizierten Ärzte auf dem Weg nach Hause. Und damit begann alles. Amerika ertrank binnen zwei Monaten in Blut. Der Ebolavirus war und ist der gefährlichste Erreger der Welt. Die Inkubationszeit beträgt 2 Tage. Danach beginnt das, was die Ärzte „hämorrhagisches Fieber“ nennen. Man blutet aus allen Körperöffnungen. Mund, Augen, Ohren, Nase, Rektum und Genitalien. Multiples Organversagen, Kreislaufzusammenbrüche, Schock, Lähmung. Der Virus zerstört die Blutgefäße und führt innerhalb kürzester Zeit in den meisten Fällen zum Tod des Wirtskörpers. Die Sterblichkeitsrate betrug über 90%. Das hieß, bei einer weltweiten Pandemie blieben immerhin noch über 72 Millionen Menschen übrig. Also knapp die Einwohnerzahl Deutschlands. Weltweit… das hieß für Deutschland, dass knapp 8 Millionen Deutsche übrig waren. Auf die Fläche des Staatsgebietes herunter gerechnet würde das bedeuten, dass pro Quadratkilometer ungefähr 22 Menschen überlebt hätten. Ich fragte mich nur, wo die Menschen des Stützpunktes waren. Jedenfalls die, die überlebt haben mussten.
Aber die Erinnerungen hörten nicht auf, mich zu überfluten. Als der erste Arzt damals nach Hamburg verfrachtet wurde, war niemand beunruhigt. Im Fernsehen war groß und breit zu sehen, wie der Patient in einer hermetisch geschlossenen Glaskiste abtransportiert wurde. Keine Gefahr. Manche Medien berichteten vom so genannten „Marburg-Virus“. Das hieß, wir hatten ihn schon einmal in den sechziger Jahren. Es wurde vermutet, dass die Wissenschaftler ein Anti-Serum hergestellt hatten. Nur für alle Fälle. Und das hatten sie auch. Nur eben der wissenschaftliche Dienst des Militärs, nicht die privaten Pharma-Konzerne. Das war das Problem. Einzig die Kanadier stellten das angeblich experimentelle Serum zur Verfügung. Zunächst erzielte man damit sogar Erfolge und die Quarantänebestimmungen wurden gelockert. Aber es war nur der Auftakt zur Vernichtung, denn das Serum veränderte den Virus und ließ ihn mutieren. Nach der Mutation erfolgte die Infektion nicht mehr allein durch Berührungen und Flüssigkeitstransfer. Das Anti-Serum war wirkungslos, weil es das Virus gegen Sauerstoff resistent machte. Von da an war der Virus über die Luft übertragbar und das war das Ende.

Als in Fuhlsbüttel der Pilot der Maschine, die den Arzt gebracht hatte, ins Krankenhaus kam, mit Fieber und Blut im Stuhl, hatte er auf dem Weg in die Klinik bereits Dutzende an Menschen angesteckt. Und ich Idiot saß zuhause vorm Fernseher, Scotch in der Linken und Fernbedienung in der Rechten, und machte mir immer noch keine Sorgen.

Erst, als die Meldungen aus Amerika kamen, dass dort eine weltweite Pandemie ausgerufen wurde, kamen alle aus ihrer Lethargie. Afrika war so gut wie verloren, Amerika kämpfte verbissen gegen die Seuche. Übrigens auch mit Anti-Seren, die nicht wirkten. Italien, Spanien waren entvölkert, der Balkan so gut wie tot. Der Virus tobte wie ein Flächenbrand. Allein die Chinesen und Japaner hielten sich. Aber nur aufgrund ihrer rigorosen und kompromisslosen Art. Die schossen auf alles, was in ihr Land wollte. Selbst vor zivilen Maschinen, die das Land überfliegen wollten, machten sie nicht Halt. Aber es nützte nicht viel. Als wir hörten, dass der erste Fall in Peking aufgetaucht war, war das Schicksal Asiens besiegelt. Und hier begannen die Plünderungen. Ich hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera. Ging ich hinaus und versuchte, Vorräte zu ergattern, lief ich Gefahr, infiziert zu werden. Blieb ich hier, würde ich hungern müssen. Oder mich zumindest extrem einschränken.

Ich machte an einem Donnerstagabend eine Bestandsaufnahme. 2 Kilo Kaffee, die Tiefkühltruhe dank Mutters Planwirtschaft randvoll. Aber nur 2 Flaschen Jack. Mutter. Ich machte mir Sorgen, sie ging nicht ans Telefon. Allein, um nachzusehen, würde ich meine Festung verlassen müssen. Festung, weil ich von den Plünderungen hörte, jede Nacht. Die Tankstelle gegenüber war bereits geschlossen, die Lebensmittel und Getränke fort. Sogar die Schraubenzieher, die Kuckucksuhr und die Birnen hatten sie mitgenommen. 150 Meter weiter der Netto-Markt. Leer. Sogar den billigsten Fusel hatten die Plünderer mitgenommen. Der Edeka in Gegenrichtung sah bestimmt auch so aus. Nur konnte ich den mit meinem Feldstecher nicht sehen. Ich war aber sicher, dass er einer leeren Garage glich.

Nach 22 Uhr trat eine mörderische Stille ein. Die Zivilisationsgeräusche waren fast vollständig verstummt. Da die meisten Lichtquellen einschließlich der Straßenlaternen erloschen waren, konnte man ein Himmelszelt bestaunen, das ich als kleiner Junge das letzte Mal sehen durfte. Eine Fülle von Lichtern, die ich so schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte. Man sah die Milchstraße. Ich genoss dieses wundervolle Bild der Unendlichkeit, solange ich den Kopf im Nacken halten konnte. Und trotzdem konnte ich hier nicht verweilen. Der Plan war, das Auto aus dem Holz-Verschlag zu holen, ohne den Plünderern in die Hände zu fallen. Dann zu Mutter brausen. Das Problem war: Womit? Aus dem Fenster hatte ich beobachtet, dass meine Kutsche keine Räder und Scheiben mehr hatte, so wie alle Autos auf der Straße.

Mir war vollkommen klar, dass ich mich in Gefahr begab. Und im Grunde hatte ich hier nichts verloren, in einem Krisenfall gehörte ich auf mein Schiff. Aber, und das wunderte mich am meisten, ich hatte noch keinen Anruf bekommen. Ich war Soldat. Also schmiedete ich einen Plan. Was benötigte ich also? Ein Auto, am besten einbruchssicher. Benzin. Nahrungsmittel. Und am besten eine Waffe. Oder zwei. Ich musste Mutter finden, unbedingt. Und vielleicht hatte ich Glück und meine Schwester war schon da.
Der Plan sah folgendermaßen aus: Ich musste zuerst ungesehen auf das Grundstück gegenüber. Feststellen, ob Opa Schmittke noch lebte. Egal ob ja oder nein, ich musste ins Haus, den Schlüssel zum Gartenhäuschen finden. Dort hatte Opa Schmittke eine illegale Schrotflinte versteckt. Beim letzten Straßenfest hatte er mir das nach einem bis sieben Glas Bier erzählt. So bewaffnet konnte ich mich auf den Weg zu Mutter machen. In Opa Schmittkes Garage stand ein Jeep Wrangler von Malte Hansen, einem anderen Nachbarn. Opa brauchte die Garage nicht mehr und Hansen hatte einen guten Unterstellpunkt für sein Ami-Zäpfchen. Aber, und das war der Punkt, die Schlüssel zu dem Monster waren auch bei Opa. Und ich wusste sogar, wo. Denn ich war es, der den Wagen zum Lackierer gefahren hatte. Dann zu Mutter und eventuell zur Schwester. Und dann neu planen. Die Welt war gefährlich geworden.
Ich zog meine schwarze Borduniform an. Nicht aus Gewohnheit. Aus Kalkül. Ich zog sogar eine Gesichtsmaske über, die ich vom Kart- Fahren noch hatte. Die Augenpartie und die Mundpartie schwärzte ich, indem ich einen Teller über eine Kerzenflamme hielt und den Ruß nutzte. Meine einzige Waffen waren eine MagLite und das Fallschirmjäger-Messer und bei Zeus, das war nicht viel, wenn ich an die Strolche dort draußen dachte.
Los ging es. Leise öffnete ich die Tür, nachdem ich mich von Jack verabschiedet hatte. Ich konnte ihn nicht mitnehmen. Sein Maunzen, wenn er mit mir redete, würde mich verraten. Also verschloss ich die Tür nicht hinter mir, sondern ließ Jack gehen. Kein Zweifel, er würde überleben. Seine Instinkte waren voll da. Ein Raubtier bleibt immer ein Raubtier.
Vorsichtig ging ich durch den Flur, die Türen zu den anderen Apartments sorgfältig kontrollierend. Aber nirgendwo schimmerte Licht, alles schien tot. Ich schaffte es bis in den Keller. Ich ließ das Licht immer nur kurz aufflammen, man wusste ja nie. Durch den Fahrrad-Keller gelangte ich ins Freie. Es war unnatürlich still draußen. Die Luft war stickig- schwül und schien schwerer als sonst. Nichts rührte sich. Nicht einmal der Wind schien Lust zu haben, mir eine Brise zu schicken. Alles schien so fremd. Selbst die alte Synagogenstraße, Tausend Mal gesehen und befahren, sah anders aus, als sonst. Was für eine fremde, seltsame Welt. Im Sternenlicht sah der Asphalt fast wie eine trübe Wasseroberfläche aus. Wie ein dreckiger Tümpel oder ein verrottender See. Vorsichtig schlich ich auf Opas Grundstück.
Ein Vorteil war, dass Opa Schmittke, der sich selbst als „alter Nazi“ beschrieb, nicht mehr so gut seine Gartenarbeit erledigen konnte. Früher standen an der Straße Stauden, Büsche und halbhohe Gehölze. Jetzt, nach der Simplifikation, reichte der Rasen bis an den Gehweg. Und auf Rasen konnte man lautlos gehen, das war gut. Ohne die kleine Gatter-Tür zu öffnen (ich wusste, dass sie knarrte), erreiche ich den Rasen hinter dem Haus. Ich erkannte die Terrasse, die im kalten Sternenlicht ebenso befremdlich aussah, wie der Rest der Welt. Eine Kunststoff- Garnitur mit alten, fast verwitterten Polstern. Rot-orange gestreift. Altenheim- Charme. Dahinter die riesengroße Glas-Front. Die Tür eine Handbreit offen. Wohl für Moritz, Opas Katze.
Hinter der Glastür flimmerte es. Offenbar lief der Fernseher. Langsam, auf jedes noch so kleine Geräusch achtend, schob ich die Glastür ein Stück weiter auf. Bis mein Kopf hindurch passte. Und ich sah Opa Schmittke. Und ich sah den Blutregen an der Decke. Und ich sah die Walther in seiner Hand.
Ich trat ein. Opa Schmittke war tot. Er hatte einen großen Schluck Wasser in den Mund genommen und sich eine Kugel in den Mund gejagt. Eine absolut sichere Methode. Auf seinem Schoß lag ein blutverschmierter Notizzettel. „Ich bin gleich bei dir, mein Schatz“ stand dort, mit zittriger Hand geschrieben. Scheiße. Aber immerhin hatte ich jetzt eine Pistole. Gut, eine uralte Walther P 38, aber immerhin 9mm Parabellum. Danke Opa Schmittke. Einen Moment lang empfand ich Trauer. Trauer und Wut. Und auch eine Art Ohnmacht, weil es ja niemandes Schuld war.
Ich musste mich zusammenreißen. Der Schlüssel zum Gartenhaus und den Wagenschlüssel aus der Besteck-Schublade genommen. Dann zum Gartenhaus; dort erwartete mich der erste Schock. Im Licht der MagLite sah ich das heillose Durcheinander. Opa Schmittke hatte das Gartenhäuschen als Rumpelkammer zweckentfremdet. Und doch durfte ich nicht allzu viel Krach machen. Das bekam ich ohnehin nicht mehr aus dem Kopf. Die eingestanzten Worte des Schleifers auf dem Einzelkämpfer- Lehrgang: „Wir bewegen uns schnell, wir bewegen uns leise, denn wir bringen den Tod“
Schnell und so leise wie möglich räumte ich Plastikstühle, Polster, Grill, Tisch, Blumenkübel und allerlei Tand vor das Häuschen. Das Ergebnis war zufrieden stellend, aber nun war der Raum leer. Wo sollte hier eine Waffe versteckt sein? An der Stirnseite war ein kleiner Kamin. Aber da versteckt man doch keine Waffe? Trotzdem leuchtete ich hinein, auch in den Abluftschacht. Nichts. Hatte Opa mich angeschmiert? Es hatte keinen Sinn, ich musste weiter. Beim Verlassen der Laube trat ich auf ein Brett, das nachgab. Nur zwei Millimeter. Aber das reichte. Die Diele hob sich am anderen Ende, ein untrügliches Zeichen. Mit meinem Messer hebelte ich das Brett hoch und konnte es mühelos entfernen. Darunter lag das, was ich mir erhofft hatte. Ein Hohlraum. Kurzerhand hebelte ich noch zwei Dielen aus. Bei der Zweiten verfluchte ich mich dafür, denn die Nägel gaben quietschende Geräusche von sich. In dieser neuen, nächtlichen Stille musste das weithin hörbar sein und das war nicht gut.
Neugierig griff ich in den Hohlraum und förderte ein längliches Paket zum Vorschein. Es sah aus, wie eine Anglertasche. Eine lederne Hülle, mit einer Kordel verschlossen. Heraus kam ein echtes Schmuckstück. Eine Miroku- Bockdoppelflinte, Kaliber 12/76 Magnum, Dreiviertelchoke und Walnuss- Schaft mit bayrischer Backe. Die war nicht billig. Danke Opa Schmittke. Erneut leuchtete ich in den Hohlraum. Noch zwei dieser verpackten Weihnachtsgeschenke und mehrere Packungen Munition. Egal, worauf sich Opa Schmittke vorbereitet hatte, (oder egal wie verrückt er war) er rettete mir gerade als Toter den Hintern.
Im Haus suche ich nach einem Rucksack oder ähnlichem, wurde aber enttäuscht. Einzig eine alte Sporttasche von Adidas fand ich. Dort verstaute ich die Munition, die leider nur für die Schrotflinte passte. 9 mm fand ich nicht. Die Miroku war mit drei Handgriffen zerlegt und verschwand ebenfalls in der Tasche. Dann traf mich der Schlag. Im zweiten Päckchen war eine Benelli Super 90. Eine halbautomatische Schrotflinte italienischer Produktion, die man von Automatik auf Handbetrieb umschalten konnte. Wundervoll. Ich schöpfte Hoffnung, denn mit dieser Ausrüstung konnte wenig passieren. Und doch musste ich an Vater denken. Als ich klein war und meinen ersten Karate-Pokal heimbrachte, platzend vor Stolz und große Reden schwingend, sagte er:
„Junge, denk dran. In jedem Tümpel lauert immer ein noch größerer Fisch“



*1: Ein Trägerverband oder eine Flugzeugträgerkampfgruppe besteht immer aus mehreren Schiffen. Ein Flugzeugträger ist niemals allein unterwegs. Üblicherweise besteht ein Trägerverband (oder CSG=Carrier Strike Group) aus folgenden Teilen:

-Flugzeugträger
-Trossschiff (Versorger für Treibstoff, Lebensmittel und Munition)
-2 Jagd- Uboote zur Unterwassersicherung
-2 Kreuzer (meist Ticonderoga-Klasse) zur Fernsicherung
-2 Fregatten oder Zerstörer (meist Arleigh-Burke- Klasse) zur Nahsicherung und Luftabwehr
-evtl. Sanitätsschiff



Es konnte losgehen. Tief durchatmen. Ich ging an der Garage entlang zum Tor und erschrak bis ins Mark. Stocksteif blieb ich stehen. Mitten in der Auffahrt stand ein Mann. Ich hatte ihn nicht sofort erkannt, weil er, wie ich, ganz in Schwarz gekleidet war. Reglos und stumm stand er einfach da, sah mich an und hielt etwas vor seine Brust. Es war ein Buch. Und als ich im Sternenlicht seinen weißen Kragen erkannte, wurde mir klar, dass dort ein Geistlicher stand. Er sah mich an. Mit starrem Blick, ganz auf mich fokussiert. Ich empfand eine Welle aus Aggression und Zorn in den Blicken. Ich spürte Wut und Verzweiflung. Und Wahnsinn.

Meine Starre löste sich zögerlich, als der Priester im fahlen Licht der Sterne langsam den rechten Arm hob, die Handfläche beschwörend auf mich gerichtet.
„Sünder!“ zischte er mit mühsam unterdrückter Wut. „Sünder! Bereue! Der Herr sagt, du sollst nicht stehlen. Der Herr sagt, du sollst deinen Nächsten lieben. Der Herr sagt, du sollst nicht töten!“

Er wurde immer lauter. Das Zischen wandelte sich zu einem Zetern und dann zu einem Brüllen.
„Sünder, Sünder, Sünder! Bereue! Der Herr wird Pestilenz und Fluch auf dich legen, Sünder! Er wird dich verbrennen im Feuer der Apokalypse, Sünder!“
Er sah lausig aus, im wahrsten Sinne. Sein Haar war dünn, fettig und wirr. Und fiel ihm bis auf die Schultern. Seine Eltern waren vielleicht Bauern; seine groben Gesichtszüge, die roten Wangen und die hellblauen Augen erzeugten den Eindruck, jedenfalls im fahlen Licht der Sterne.
Aber es reichte. Der Spinner brüllte die ganze Gegend zusammen und in kurzer Zeit hätten wir die Plünderer am Hals. Also ging ich zwei schnelle Schritte auf ihn zu.

„Hochwürden! Liebe deinen Nächsten? Stimmt das?“
„Sünder!“ Er spuckte mir mit all seiner Verachtung dieses eine Wort entgegen, als wäre es ein glühender Speer.
„Dann hab mich gern und sei still. Die Tiere sind nachts unterwegs, klar? Tiere immer nachts“
„Möge der Herr, unser aller Va…“ er brüllte nicht mehr, nachdem er den Kolben der Schrotflinte kosten durfte. Haltlos fiel er hintenüber.
Einen Moment lang stand ich starr da. Wer einmal gewisse Geräusche gehört hat, vergisst diese niemals wieder. Das Aufschlagen eines haltlosen Körpers zum Beispiel. Oder wenn auf dich geschossen wird und die Projektile hinter und neben dir einschlagen. Oder eine extrem nasse Frau. Hier war es das Aufschlagen eines Körpers. Es hörte sich an, als wenn man einen Sack mit Holz und Watteresten vom Balkon wirft.

Schnell und rücksichtslos zerrte ich den kranken Pfaffen auf den Rasen vor Opa Schmittkes Haus, öffnete die Garage und sah den Jeep. Unmöglich, die Karre. Aber es gab kein anderes Auto. Alle Reifen waren voll, keine Pfützen unterm Wagen, das musste erst einmal an Überprüfung reichen. Schnell die Zündung an und den Tank kontrollieren. Halb voll, immerhin. Mir fiel ein, dass Opa immer einen Ersatzkanister in der Garage hatte. Nicht des Jeeps wegen, sondern wegen des Rasenmähers und des Trimmers.

Er war nicht schwer zu finden, der Kanister stand hinterm Auto. Immerhin 15 Liter mehr Reichweite. Schnell zurück und meinen Hintern in den Sportsitz geschwungen. Sportsitze in einem Geländewagen. Klar.
Als ich den Schlüssel herum drehte und der Motor nach ein paar widerwilligen Umdrehungen ansprang, fuhr mir der nächste Schock in die Glieder. Die verdammte Karre hatte keinen normalen Auspuff mehr. Nein, der gute Hansen musste auffallen um jeden Preis. Die Abgase kamen so gut wie ungefiltert aus Sidipipes. Der Hall in der Garage tat ein Übriges. Ich hatte das Gefühl, als wäre der Motorenlärm bis nach Helsinki zu hören. Also bloß weg hier. Außerdem rappelte sich der Pfaffe gerade wieder auf und begann zu zetern.
„Sünder, der Herr wird dich mit Höllenfeuer stra…“ murmelte er, erwachend aus seiner Ohnmacht, der Rest ging im knallenden Geblubber des großvolumigen Motors unter. Ich fuhr kopfschüttelnd los. Und hielt wieder an. Verdammt. Verdammt verdammt ich war Soldat. Ich hatte gelernt zu kämpfen. Zu kämpfen für Menschen, die sich nicht selbst wehren können. Also setzte ich gegen jede Vernunft zurück.

„Letzte Chance, Großmaul. Komm mit mir und halt die Klappe oder bleib hier und werde überrannt. Deine Entscheidung, Pfaffe!“
Einen kleinen Moment lang klarte sein Blick auf. Der Wahnsinn verschwand und sein Blick wurde unstet.
„Komm schon, Mann!“ Drängte ich.
Doch irgendetwas passierte im Geist des Pfaffen. Er holte weit aus und warf ein großes Kreuz nach mir. Mit einem dumpfen Schlag traf es den Jeep und fiel klingelnd auf das Pflaster.
„Abschaum! Sünder! Bereue oder stirb für den Herrn, unseren Gott! Ja, oh ja, er kennt dich! Er kennt dich genau, Vater aller Sünden. Du bist die Pest, du bist das Tier, du bist das Verderben. Und ja, Sünder, er wird dich holen!“ Seine Stimme wurde leiser. Er flüsterte nur noch, als er ganz ruhig näher kam.
„Er kommt dich holen, Sünder. Ausgeburt der Verdammnis, Bote des Todes. Verführer. Versucher. Er kommt dich holen…“

Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Der Typ war wahnsinnig. Und doch hatten seine Worte etwas Eindringliches. Sie berührten mich irgendwie, auch wenn mein Verstand sagte, dass ich auf das Gaspedal treten solle.
„Steig ein du irrer Vogel. Ich fahre jetzt“
Ganz ruhig sagte er:

„Du kannst fliehen, Sünder. Flieh, so schnell du kannst. Nur verstecken kannst du dich nicht. Er wird dich finden. Er wird dich finden…“
Ich konnte es nicht ändern. Und wollte es auch nicht, Wer weiß, wozu der irre Priester imstande war. Besonders, wenn es brenzlig wurde. Ich fuhr die Straße herunter bis zur Kreuzung. Dann rechts die Holbeinstraße entlang. Alles ruhig. Es war wie jede Nacht. Eine schlafende, verträumte Siedlung am Rande der Stadt. Und doch spürte ich Blicke. Tausendfache Blicke, die den lauten Wagen mit Grimm verfolgten. Gierig, neiderfüllt. Ich musste auf der Hut sein, denn ich war weit genug zu hören. Das war das Problem. Fuhr ich schneller, konnte ich nicht genau genug die Straße lesen, fuhr ich langsamer, wurde ich angreifbar. Als ich von der Holbeinstraße in den Langschmidtsweg bog, zweifelte ich schon. Es war alles malerisch und friedlich. Keine brennenden Häuser, keine zerfurchten Vorgärten, keine geplünderten Autos. Alles normal. Die Gehwege waren gefegt, die Autos friedlich am Straßenrand geparkt. Die Laternen, die brannten, beleuchteten schlafende Rosenstöcke, gemähte Rasenflächen und geschnittene Hecken. Aber ich spürte, dass das nur eine Fassade war. Eine Illusion. Das hier war nicht die feinste Gegend, aber die Mehrzahl der Hausbesitzer war vermögend. Was auch darauf schließen ließ, dass ihre Vorratskeller gut gefüllt waren und sie Plündereien nicht nötig hatten. Noch nicht.

Nach vier Kilometern war am Kurt Schumacher-Damm Schluss. Hier zeigte sich das genaue Gegenteil zum friedlichen Vorort. Ein paar Autos standen, wohl infolge eines Unfalles, ineinander verkeilt auf der Straße. Davor stand ein Streifenwagen mit eingeschalteten Blaulichtern, die schon matter und langsamer wurde. Das Martinshorn war auch nur noch krächzend zu vernehmen; ein Zeichen, dass der hier schon länger stand. Es war niemand zu sehen. In ausreichendem Abstand hielt ich an, ließ den Wagen aber laufen. Ich stieg aus. Sorgfältig sah ich mich um. In den Fahrzeugen war nichts zu sehen. In den Fenstern der Häuser auch nicht. Es war bis auf die blinkenden Blaulichter keine Bewegung auszumachen. Und doch fühlte ich mich beobachtet. Das Gefühl verursachte beinahe körperliche Schmerzen.

„Schwarzer!“
Ich zuckte zusammen unter dem plötzlichen Schrei. In der Dunkelheit hielt mich wohl jemand für einen Farbigen, weil ich mein Gesicht geschwärzt hatte. Mit einer flüssigen Bewegung zeigte der Lauf der Benelli in die Richtung, aus der ich den Rufer vermutete.
„Schwarzer, nicht schießen, ich komme raus“
Ich antwortete nicht. Mein Herz pumpte schneller. Adrenalin. Ruhig, Alter, ruhig. Regel Nummer eins in Krisensituationen: Ruhig bleiben. Es gewinnt nie der mit der größten Knarre, sondern der mit dem schärfsten Verstand. Und ich glaubte nicht, dass der Typ allein war. Gründe für meine Ahnung hatte ich nicht. Ein reines Instinktgefühl.

Vor den ineinander verkeilten Wagen löste sich ein Schatten aus einem Hauseingang. Knapp 1,75 groß, Glatze, Woodland- Militärhose und sehr zu meiner Überraschung eine Splitterschutzweste. Weiß der Teufel, woher er die hatte. Der Dienstgrad war nicht zu sehen, aber so, wie der Typ sich bewegte, war er es gewohnt, Befehle zu geben. Befehle, die befolgt würden. Todsicher war der nicht allein. Und ich würde Stein und Bein schwören, dass mindestens ein Scharfschütze meinen Brustkorb im Visier hatte.
„Hallo Schwarzer“
Seine Stimme war irgendwie langweilig-neutral. Hörte man sie, vergaß man sie gleich wieder. Nichtssagend war wohl das richtige Wort.
„Leutnant Richter, und sie sind?“
„Oberstleutnant Heinemann. Kommandeur der Einsatzkompanie Tirpitzhafen“
Dachte der, er könne mich veralbern? Ein Sesselpupser war das. Worthengst, Schreibtisch-Seefahrer. Er war Chef der Ausbildungs- Einheit der Einsatzflottille 1.

So weit, so gut. Doch auch wenn er ein Popeldreher war, seine Leute waren es auf keinen Fall. Die Leute der Bordeinsatzkompanie waren gut ausgebildete Spezialisten. Ein zusammengeschweißtes Team, ausgebildet in taktischer Suche. Austrainiert, fit und hell im Kopf. Die BEK hatte die Aufgabe (wie vor Somalia), den Seeraum zu überwachen, Schiffe abzusichern, bewaffnete Eskorten durchzuführen und Schiffe taktisch zu durchsuchen.
Das bedeutete für mich, dass ich auf jeden Fall im Fadenkreuz stand. Ich glaubte auch nicht mehr, dass die Straßensperre zufällig da war. Nur eine BEK konnte das hier taktisch aufbauen. Suchen, sichern, überwachen. Das war ihr Job.
„Herr Oberstleutnant?“ Ich wollte wissen, was er wollte.
„Leutnant Richter, was haben sie vor? Wo ist ihre Einheit und sind sie nicht in der falschen Richtung unterwegs?“ Jetzt wurde es brenzlig.
„Ich bin im Urlaub, Herr Oberstleutnant“
„Ah ja, Seemann, sie sehen auch aus wie ein typischer Urlauber. Wo wollen sie Urlaub machen, in der Ukraine?“
„Nein.“ Ich versuchte, ruhig zu bleiben. „ich sehe nur kurz nach meiner Mutter, dann fahre ich zur Hamburg und nehme meinen Dienst als WSO wieder auf.“
„Ist ihnen bewusst, Soldat, dass ihre Waffe auf mich gerichtet ist?“
Nun hieß es, Farbe bekennen. Entweder ich offenbarte, dass ich den Finger bewusst am Abzug hatte oder ich würde mich fügen müssen. Und spätestens beim zweiten Punkt krampften sich meine Eingeweide zusammen.
„Das ist derselbe Zufall, Herr Oberstleutnant, wie die Tatsache, dass zwei Scharfschützengewehre auf mich gerichtet sind, nicht wahr?“
Mir war nicht klar, wie lange ich das Spielchen durchhalten konnte. Mit den zwei Sicherungsschützen hatte ich ins Blaue graten. Mehr wäre für eine Richtung sinnlos, weniger fahrlässig. Der Fakt, dass ich wohl einen Treffer gelandet hatte, sagte dem Oberstleutnant, dass es eventuell auch Gewehre gäbe, die auf ihn gerichtet wären. Somit stand es patt.

Ich sah ihn an. Der Oberstleutnant war gut im Futter. Seine Einheit hatte ihren Job erledigt. Ich vermutete, dass eine ganze komplette Logistik hinter ihm stand, die er aufgezogen hatte. Aber, und das war der entscheidende Punkt, er agierte nicht in einer Kaserne sondern inmitten der Stadt. Damit hatte er sich hoheitliche Rechte herausgenommen ohne Mandat der Politik. Zu Friedenszeiten nennt man das Besatzung, Rebellion oder schlicht Terrorismus.
„Wir könnten sie hier gebrauchen, Leutnant“ sagte der Mann mit der neutralen Stimme und dem nichtssagenden Gesicht.
„Ich möchte zuerst zu meiner Mutter. Wenn ich dort war, komme ich zurück. Ich muss ohnehin hier durch, wenn ich zum Stützpunkt will, oder?
Der Oberstleutnant dachte nach. Nachdem ich allerdings festgestellt hatte, dass er kein Soldat mehr war, hatte ich Probleme damit, seinen Dienstgrad anzuerkennen. Tat ich es aber, würde er den Braten riechen und ich wäre tot.

„Was ist mit meinen Männern?“ erwiderte ich.
„Die können auch bleiben. Je mehr wir sind, desto größer die Chance.“
„Gut. Und wie komme ich durch die Sperre?“
Der Oberstleutnant drehte sich halb herum und zeigte auf den äußersten, rechten Wagen. Einen demolierten VW Amarok. Ein schwerer Dieselmotor sprang an, ich hörte Kettenglieder rasseln und der VW wurde von einem Bulldozer zurück gezogen.
„Seemann“ eröffnete der Oberstleutnant das Gespräch erneut. Diesmal jedoch in einem versöhnlicherem Tonfall.
„Seemann, wir haben jede Menge Leute verloren. Erwarten sie bitte nicht zuviel. Es sind fast alle tot und nur ganz wenige haben die Seuche überlebt. Wie lange werden sie brauchen?“
„Mal sehen… von hier bis zur Wieland sind es zwei Kilometer. Das Haus durchsuchen, die Schwester. Wenn sie noch leben, bringe ich sie mit, wenn nicht, komme ich allein. Das mag zwei Stunden dauern, höchstens, wenn ich noch ein paar persönliche Dinge mitnehmen möchte“
„Und ihr Leute?“
„Die bleiben in ihrer Deckung, bis ich wiederkomme“
Er hatte den Braten gefressen und nickte. Zu salutieren vor einem Hochverräter fiel mir schwer. Aber wenn ich überleben wollte, durfte ich nichts anderes tun. Röchelnd und knallend sprang der Wagen nach vorn und ich rollte durch die Sperre. Einen Augenblick lang dachte ich, dass gerade jetzt der beste Zeitpunkt wäre, mich abzuknallen. Es passierte aber nichts.

Ein paar Minuten später bog ich in die Wielandstraße ein. Auch diese Siedlung war scheinbar unberührt von den bürgerkriegsähnlichen Tumulten. Alles lag friedlich da. Das war meine Hoffnung. Als der V6 abgestorben war, legte sich eine unheimliche Stille wie ein Tuch über die Ansiedlung. Nicht einmal ein Hund war zu hören, und hier gab es viele Hunde.

Zielstrebig aber doch mit der Flinte im Anschlag ging ich die Rampe zur Garage hinunter. Hinter einer Säulenzypresse war der Notschalter an der Wand befestigt. 1104 war die Geheimzahl. Die hatte jedes Familienmitglied. Quietschend öffnete sich das Tor und das Licht flammte auf. Ich musste unwillkürlich grinsen. Mein alter, schwarzer 3er stand noch genauso da, wie ich ihn abgestellt hatte. Nur staubiger. Ob der wohl ansprang? Mithin war er um Längen schneller als der idiotische Jeep. Und leiser. Und vollgetankt. Das war einer der Dinge, die man beim Militär lernt. Kehrt ein Fahrzeug zurück in den Stützpunkt, ist als allererstes die Einsatzbereitschaft wieder herzustellen. Dazu gehört in jedem Fall, dass das Fahrzeug vollgetankt wird. Außerdem rostet der Tank nicht, wenn er voll ist. Und da soll einer sagen, Militär sei nutzlos.
Über die Kellertreppe stürmte ich hoch ins Haus, nachdem ich abgewartet hatte, bis die Garagentür sich wieder schloss. Alles dunkel.

„Mam? Sabine?“
Keine Antwort. Mein Herz raste. Ich machte das Flurlicht an.
„Mam?“
Nichts. Kein Geräusch, keine Regung. Nur Stille. In der Küche war alles sauber und aufgeräumt. Ein kurzer Blick in den Kühlschrank sagte mir, dass die Plünderer hier noch nicht gewesen waren. Und ich sah auch, dass seit mehreren Tagen niemand den Kühlschrank geöffnet haben musste. Die Alufolien der Joghurtbecher hatten ähnliche Blähungen wie die Milchtüten. Nicht gut. Gar nicht gut. Das Wohnzimmer war bis auf eine Staubschicht ordentlich und aufgeräumt. Auf der Anrichte im Esszimmer steckte ein Briefumschlag hinter der Wählscheibe des antiquierten Holz-Telefons. Ich öffnete den Umschlag.
„Schau bitte nach Vater“ Unterschrift SS. Sonja und Sabine. Vater war seit vier Jahren tot. Er lag auf dem Nordfriedhof. Meine schlaue Schwester hatte Brotkrumen gesät. Cleveres Mädchen.

Im Keller suchte ich so lange, bis ich einen Rucksack fand. Draußen beim Jeep stopfte ich alles, was ich brauchen würde, hinein. Munition, Brot, zwei Tetrapacks Eistee und drei Salami aus Mutters Keller. Da wir uns im Ausnahmezustand befanden, könnte ich wohl auf Kennzeichen verzichten. Ich startete den Motor des alten BMW. Wie gewohnt lief das Triebwerk nach wenigen Sekunden fehlerfrei. Ein Hoch auf deutsche Ingenieurskunst.

Dann fuhr ich los. Weit weniger spektakulär als zuvor. Und da ich nach Norden musste konnte ich die Barriere des Oberstleutnants umfahren. Trotzdem dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis ich am Friedhof war. Auch hier eine, im wahrsten Sinne, Todesstille. Zielstrebig und doch vorsichtig hastete ich zu Vaters Grab. Ein kleiner, verwelkter Blumenstrauß steckte in einer dieser dunkelgrünen Plastikvasen, die man ins Erdreich stecken konnte. Doch die Vase war durch ein Papier gesteckt worden. Ein Prospekt von LIDL. Die Angebote galten für diese Woche, also war der Prospekt eine Woche alt. Ein Lebenszeichen?
Die Frontseite sah ich mir genauer an. Denn der LIDL-Schriftzug war mit einem neonroten Marker bemalt worden. Mir fiel es wieder ein. An irgendeinem Geburtstag, mag es der 40ste oder 41ste gewesen sein, unterhielt ich mich mit meiner Schwester, was ich machen würde, wenn der Krieg ausbräche. Ich sagte:
„Oben im Norden, im Industriegebiet ist die Verteilerzentrale von LIDL. Dort lagern jeden Tag 60 Paletten Kaffee, 60 Paletten Brot, 60 Paletten Getränke und eigentlich alles, was man für ein langes Leben braucht, sofern man es verteidigen kann“

Wir machten uns noch lustig darüber, dass man wohl an jede Ecke des Lagerhauses ein Maschinengewehr anbringen müsste. Dummerweise bräuchte man dafür Leute. Und ich wusste in diesem Augenblick, wohin Sabine mit Mutter geflohen war. Schlaues Mädchen. Und nicht weit weg von hier.
Es dauerte keine zehn Minuten, bis ich im Industriegebiet war. Hier war alles stockfinster. Den Wagen parkte ich in einem Kilometer Abstand zum Lagerhaus. Wer weiß, wer dort noch so alles herumwimmelt. Zu Fuß, die Benelli im Anschlag, schlich ich in Richtung Tor. Als ich es sehen konnte, wurde ich noch vorsichtiger. Irgendetwas sagte mir, dass hier nichts in Ordnung war. Das Fahrzeug-Tor war geschlossen. Zweieinhalb Meter hoch mit Stacheldraht obendrauf. Unbeschädigt. Das Personendrehkreuz jedoch war offen. Sollte ich mich bemerkbar machen? Mein Instinkt sagte: „Nein“.

Mir war klar, dass ich das Gelände nicht umrunden musste, um zu wissen, dass der Zaun lückenlos und unversehrt war. Es nützte nichts, wenn ich auf das Gelände wollte, musste ich durchs Tor, beziehungsweise durchs Drehkreuz. Gottlob quietschte es nicht wie Opa Schmittkes Garage. Nun war ich auf dem Gelände, aber noch nicht an der Halle. Zwischen mir und dem Lager gab es eine endlos weite Parkfläche für LKW. Auf den am weitesten Plätzen links standen ein paar abgesattelte Kühlzüge, deren Aggregate jedoch nicht liefen. Davor standen zwei Solo- Zugmaschinen. Ein Iveco Straelis und ein Mercedes.
Mit gleichmäßigen Bewegungen schlich ich am Zaun entlang, spurtete dann zwischen die Trailer und sah mich lauernd um. Es rührte sich rein Garnichts. Alles mausetot, wie es schien. Da, eine winzige Bewegung auf dem Dach des Lagers! Lange, schwarze Haare glänzten für den Bruchteil einer Sekunde im Sternenlicht. Sabine!

„Flossen hoch, Arschloch!“, herrschte mich eine langweilig-neutrale Stimme hinter mir an, und lass die Kanone fallen.“
Langsam lehnte ich die Benelli an die Stütze des Trailers links neben mir. So ein Scheißkerl. Mein Trumpf war die alte Walther, die vorn in meinem Gürtel steckte und die der Oberstleutnant nicht sehen konnte. Er nicht, aber der Mann mit dem Nachtsichtgerät. Als ich nach der Pistole griff und mich herumwirbeln wollte, erwischte mich die Schrotladung und es wurde endgültig Nacht.


Kapitel 4: Letzte Vorbereitungen


„Hallo Madame“, sagte ich einschmeichelnd. Das Tier beobachtete mich aufmerksam. Und ich spürte keine Gefahr, was mich überraschte. Madame war mit Schwanz, der ein Drittel ihrer Länge ausmachte, fast eineinhalb Meter lang. Ihre Krallen und Zähne hatten mit mindestens fünf Zentimetern Länge den Charakter von Dolchen. Aber sie war dürr, furchtbar dürr. Vielleicht ist es ein Zeichen von Intelligenz, seine Instinkte so zurück zu fahren, dass man sich mit Menschen arrangiert, nur weil sie Futter haben? Ich würde es gern glauben.

Ich musste wahnsinnig sein, denn ich hockte mich ins Gras. Mit sparsamen Bewegungen förderte ich eine Salami aus der rechten Beintasche. Hatte Madame das gerochen? Mit dem Fallschirmjägermesser schnitt ich eine Scheibe ab und warf sie Madame entgegen. Sie kam zögerlich ein wenig näher, beschnüffelte die Salami. Viel zu salzig, mochte sie denken. Aber der Hunger obsiegte. Als ich Madame zusah, wie sie ihren Kopf zur Seite neigte, damit ihre Backenzähne das Fleisch zerteilen konnten, bewunderte ich ihr Fell. Madame sah aus wie eine Mischung aus Leopard und Gepard. Und sie hatte das Beste aus zwei Welten mitbekommen. Die gedrungene, muskulöse Gestalt der Leoparden und die schlanken Beine der Geparden, einschließlich des sehr ähnlichen „Gesichtes“ der Geparden, jedoch ohne die typischen schwarzen Tränenstreifen unter den Augen. Ein wundervolles Tier.

Scheibe auf Scheibe flog zu Madame und landete jedes Mal ein Stück näher bei mir. Ob sie meine Aufregung spürte? Vielleicht. Aber vielleicht würde das ja überdeckt von ihrer eigenen Aufregung? Es dauerte nicht lange und die 15 cm Salami, für ein hungerndes Tier ein Labsal, waren in der Katze. Ein wildes Tier, das, ohne mich anzugreifen, knapp einen Meter vor mir müde wurde und sich, die Pfoten schleckend, niederließ. Es war wie Magie. Madame hatte keine Angst vor mir. Ich war mir nicht so ganz sicher, ob das gut oder schlecht war, aber ich genoss diesen Vertrauensbeweis.

Vorsichtig, um Madame nicht zu erschrecken, stand ich auf. Meinen Rundgang wollte ich heute unbedingt zu Ende führen. Eine Lücke im Zaun durfte ich nicht zulassen. Mein eigenes, kleines Paradies. Adam mit Katze, ein amüsanter Gedanke. Und besonders angenehm, dass ich mir bestimmt keine Gedanken über Ratten und Mäuse machen musste. Ich fragte mich, ob ich den Ast absägen sollte, der ins Gelände hing und mir eine Begleiterin beschert hatte. Ich entschied mich dagegen, auch wenn ich im Zwiespalt war.

Am Ende des Rundganges stellte ich fest, dass das Gelände des Stützpunktes recht sicher war. Zur See hin jedoch nicht. Jeder Depp mit oder ohne Ruderboot könnte herein. Ein Grund mehr, endlich die Hamburg zu kapern.
Abends stellte ich fest, dass ich es paradiesisch getroffen hatte. Hinter dem Offiziers- Kasino stand ein Grillwagen. Ich beschloss, eine Solo-Grillparty zu feiern. Fleisch war genug da und im Lager des Kasinos fand ich kartonweise Whisky. Sehr zu meinem Bedauern aber nur fünf Säcke mit Grillkohle. Aber das störte mich nicht weiter, denn im Kühlhaus des Krankenhauses fand ich ein paar hervorragende Stücke Entrecote.

Als der Duft des Fleisches über das Gelände zog, lockte ich unweigerlich Madame an. Wir teilten das Fleisch brüderlich; sie verzehrte es roh und ich rare. Als ich das erste Glas Jack kostete, das erste seit langer Zeit, empfand ich einen Moment der Wehmut. Mir war bewusst, dass ich allein war. Wenn ich wirklich Pech hatte, war ich der letzte Mensch auf dem Planeten. Ich markierte das Ende einer Spezies. Wenn das nicht ein guter Grund war, noch ein Glas zu trinken, was dann? Vielleicht der Himmel, der sich bewölkte. Aber ab dem dritten Glas war auch das egal.

Madame leckte sich zufrieden die Pfoten. Auch die Katze mit ihren fantastischen Instinkten sah immer öfter in den Himmel. Die zunächst weißen Kumulus-Wolken hatten sich in eine dunkelgraue Wand verwandelt. Weit hinten auf See sah ich vereinzelt Blitze zucken. Nicht gut. Mein Blick fiel auf den Grill und das G36, das unweit an einer Besucherbank lehnte. Der Stützpunkt war sicher und ich wahrscheinlich der Letzte Mensch. Wozu sollte ich ein Gewehr brauchen? Doch dann hörte ich den Geist meines alten Ausbilders wieder.
„Männer, mit Waffen ist es wie mit Kondomen. Lieber eine haben und nicht brauchen, als eine zu brauchen und keine haben!“
Der Oberfeld. Ein integerer Mann. Er nannte uns immer „Nasenbohrer“. Ich erinnerte mich noch gut an meinen ersten Fallschirmsprung. Unwillkürlich schüttelte ich meinen Kopf, was Madame irritierte. Mein Kampfsport, bzw. das harte Training half sehr bei den Übungen. Abrollen, fallen und verletzungsfrei bleiben war für mich kein Drama. Aber der erste echte Sprung machte mir eine Scheiß-Angst. Die alte CH-53 stieg und stieg. Oberfeldwebel Uhlig war auch flau im Magen. Jedenfalls schien es so, denn urplötzlich griff er nach einem Kotzbeutel und reiherte vehement hinein. Der Gruppendynamik folgend, schlossen sich gleich drei meiner Kameraden an. Es stank bestialisch in der Maschine, weil zwei der drei nicht rechtzeitig den Beutel fanden. Fünf Minuten später leckte sich der Oberfeld über die Lippen.

„Hat oana von eich wos z´ Essen dabei?“
Wir fassten es nicht, wie konnte er Hunger haben? Was wir nicht wussten war, dass der Oberfeld das mit jedem Lehrgang abzog. Er hatte am Morgen Fleischsalat in den Kotzbeutel gefüllt und nur so getan, als ob ihm schlecht wäre. Er fischte also das Feldeßbesteck aus der Beintasche, den Beutel aus der anderen, sprach:
„I hob an Hunger!“,
und begann, den Fleischsalat aus dem Kotzbeutel zu löffeln. Das war dann auch der Grund, dass sämtliche Soldaten, mich eingeschlossen, ihr Frühstück nicht zurück halten konnten.
Als wir auf der richtigen Höhe waren und die Ladeluke der CH-53 aufging, rutschte mir das Herz vollends in die Hose. Wir waren zwar an Fangseilen gesichert, so dass der Fallschirm automatisch geöffnet wurde, aber dennoch war mir aus mehreren Gründen übel. Und der Oberfeld brüllte:
„Na los ihr Hunde! Wollt ihr ewig leben?“
Er gab jedem von uns einen Stoß, der uns über die Ladekante stürzen ließ und lachte dabei ein teuflisches Lachen, das ich nie vergessen werde.

Der erste Regentropfen riss mich aus meinen Erinnerungen. Ich musste mich eilen. Schnell das Gewehr gegriffen, den Grill unter die Markise geschleppt und das Besteck in die Küche gebracht. Abwaschen wollte ich morgen, denn wie es aussah, kam ich morgen nicht weit. Als ich in der Halle des Hospitales zurück blickte, sah ich Madame, die sich im Regen nicht sehr wohl zu fühlen schien. Ich öffnete die Seitentür. Der Ozelot sah mich an. Und ich schwöre bei Gott, Madame sah aus, als überlegte sie bewusst, ob sie mir trauen könne. Aber ich ließ ihr die Wahl und blockierte die Tür mit einem Stuhl aus dem Empfangsbüro. So konnte sie herein oder hinaus, wie sie wollte.

Ich zerrte zwei Matratzen aus dem nächst gelegenem Krankenzimmer und brachte sie in den großen Vorraum des Lazarettes. Auf der einen formte ich aus dem Bettzeug eine Art Oval, dass es fast wie ein Nest aussah, auf der anderen Matratze bettete ich mich für eine unruhige Nacht. Als ich schläfrig wurde, hatte der Wind bereits aufgehört, zu hauchen. Er hatte auch das Flüstern hinter sich. Es war ein Zischen und Fauchen, und ich schätzte, dass ein mächtiges Gewitter dabei war, sich über unseren Köpfen zu entladen. Lächelnd sah ich Madame, die sich ins Gebäude getraut hatte. Ein faszinierendes Tier. Und so schlau. Oder ist es so, dass wenn die dominierende Spezies einer Kultur abstirbt, die restlichen Wesen eine Art Quantensprung vollzogen? War das die Evolutionslehre? Ich las irgendwo einmal einen Text von einem begnadeten Autoren, der die Arachnoiden als nächste Lebensform beschrieb. Wenn ich so den Ozelot betrachtete, wären Katzen wohl die bessere Alternative. Schnell, stark, mit unerhörten Sinnen ausgestattet und ganz nebenbei mit dem größeren Gehirn.

In Gedanken ging ich den folgenden Tag durch. Das Unwetter machte mir dabei allerdings einen Strich durch die Rechnung. Ich musste mir, sofern die Rampe nicht wieder zu steil war, die neuen Mantis-Geschütze ansehen; ich hatte keinerlei Erfahrung diesbezüglich. Die Mantis war ein Nahbereichs- Flugabwehr-Verbundsystem. Am Bug, am Heck und jeweils an Back- und Steuerbord war einer der Türme montiert. Zentrales Stück war eine 35 mm Revolverkanone, die bis zu 1000 Schuss pro Minute abfeuern konnte. Das mal vier ergab ein gewaltiges Feuerwerk. Die Mantis war ein Erbstück der Amerikaner. Die Uroma war die gute alte Gatling- Kanone, die später in Vulkan-Geschütz umbenannt wurde. Die Weiterentwicklung der Deutschen hieß: MANTIS. Das stand für: Modular, Automatic and Network capable Targeting and Interception System.
Die Deutschen und ihre Abkürzungen. NBS hätte gereicht. Nahbereichs-Schutzsystem war doch viel eingängiger. Mit diesem Gedanken schlief ich ein.
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******ace Mann
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F 220, Kapitel 5
Kapitel 5: Boarding

Da stand ich nun. Vor knapp Sechstausend Tonnen Stahl. 143 Meter lang, 17,5 Meter breit. Vorn am Rumpf prangte in zwei Meter hohen, elfenbeinfarbenen Lettern: F 220. Ein schönes Schiff. Elegant und schnittig. Mit einem Lächeln sah ich an ihm hoch. Die Radaranlagen und die SMART-L-Antenne waren außer Betrieb. Das verhieß nichts Gutes. Die Hamburg lag vor mir wie ein toter Fisch. Ich hörte auch nichts, das war das Beunruhigendste. An der Mole waren die beiden Antriebsturbinen selbstverständlich aus, so wie die beiden Dieselmotoren auch. Aber die beiden Versorgermotoren hätten laufen müssen, denn ich sah keine Ex-Leitungen in den Rumpf führen. Also musste ich wohl oder übel an Bord, um nachzusehen. Es gab zwei Möglichkeiten, an Bord zu kommen. Über den Wachstand mittschiffs und über das Flugdeck. Der Zugang zum Flugdeck war gesperrt und die Gangway zum Wachstand war schon recht steil.
Ich sah zu meiner Freundin herunter.

„Na Madame? Kommst du mit?“
Und als ob sie mich verstanden hätte, kam ein Grollen aus den Tiefen ihrer Kehle, was wohl Missmut ausdrücken sollte. Ich lächelte sie an, weil ich mich immer noch nicht traute, sie anzufassen. Manchmal, wenn sie gähnte, sah ich ihre messerlangen, blütenweißen Reißzähne. Ein beeindruckendes Arsenal hatte sie da.
„Hey, keine Sorge. Ich komme bestimmt wieder!“

Tief atmete ich ein. Langsam ging ich den Steg empor. Oben angekommen stellte ich fest, dass die Bordorganisation vor der abendlichen Flaggenparade stattgefunden haben musste. Da mich niemand an Bord willkommen hieß, grüßte ich nur die Flagge.

„Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen?“ murmelte ich, aber mir war sehr unwohl und ich fühlte mich nicht wirklich gut. Die Besatzung bestand aus 255 Mann und hier schien alles leblos und tot. Entweder der Kapitän hatte Führungsqualitäten bewiesen und die Soldaten heimgeschickt oder abkommandiert, oder ich würde hier unten eine extreme Scheißüberraschung erleben.
Langsam und beobachtend ging ich auf das Schott zu. Es war ein mit „Y“ gekennzeichnetes Schott. Derart gekennzeichnete Schotten werden nur im Gefechtszustand geschlossen. Jetzt machte ich mir wirklich Sorgen. Wenn Gefechtsalarm war, was im Hafen so gut wie nie vorkam, war es nahezu unmöglich, an Bord zu kommen. Sofern die Mannschaft alle Befehle korrekt ausgeführt hatte.

Ich begab mich zur Brückennock, nachdem ich direkt über dem Wachstand den Backbord-Turm des Mantis-Systemes bewundert hatte. Aber die Brücke war dicht wie ein Schneckenhaus. Einzig das Wartungsschott am Schornstein könnte eine Möglichkeit sein. Und tatsächlich, das Schott war offen. Das war dem Umstand zu verdanken, dass dort ein Soldat das Schließen des Schottes verhindert hatte. Er lag tot zwischen Schott und Bordwand. Ich öffnete das Schott ganz und drehte den Leichnam auf den Rücken. Es war Obergefreiter Hansen, ein Sanitäter. Ich kannte ihn. Hansen war ein stiller Mensch. Er hatte mir einmal erzählt, er würde gern verreisen. Ich fragte ihn, warum, weil er doch an Bord der Hamburg ständig auf Achse wäre.

Aber Hansen meinte, er würde gern mit seiner Frau und dem Hund nach Schottland reisen. Für drei Monate oder länger. Die Berge sehen, die Seen, die Pubs und die Leute dort. Er würde ohne Schuhe und Socken über das nasse Gras rennen, eiskaltes Quellwasser trinken und, auf einem Berg sitzend, den Himmel berühren wollen. Das alles konnte er nun nicht mehr. Alles, was er war, und alles, was er je hätte sein können, war ausgelöscht. Ich wurde wütend. Alles nur wegen einem beschissenen Virus.

Ich musste mich nun fragen, wie es weiterging. Wenn meine Ahnung mich nicht trog, hatte ich hier 255 Tote an Bord. Wollte ich hier leben, musste ich die Leichen entsorgen und, wenn ich konsequent genug wäre, in Ehren bestatten. Immerhin waren das einmal meine Kameraden. Eine Herkules- Aufgabe. Und ich war noch nicht wieder so kräftig, dass ich es bewältigen konnte. Wie zum Teufel sollte das funktionieren? Dazu kam, dass die Schiffsimmanenten Systeme abgeschaltet waren. Ich war verwirrt, wütend und irgendwie hilflos. Ich war allein. Die Leichen, die überall auf dem Stützpunkt lagen und schon fast verwest waren, hatte ich bislang ignoriert oder ausgeblendet. Aber das hier?

Als ich in den Niedergang hinabsah und kein Licht entdeckte, war mir klar, dass ich vor einer beinahe unlösbaren Aufgabe stand. Der Absolutismus, der mich zum Alleinherrscher des Schiffes machte, erschlug mich fast. Was würde ich also tun, wäre ich bei Sinnen? Zunächst eine Taschenlampe organisieren. Die Stromaggregate anwerfen und überall im Schiff Licht anmachen. Dann Raum für Raum vom Bug bis zum Heck jeden verdammten Raum absuchen. Leichen finden, Leichen von Bord bringen, Leichen beerdigen. Eine verdammt makabere Aufgabe. Aber ich musste das Schiff bewohnbar machen. Unvermittelt kam mir in den Sinn, dass ich, bevor ich loslegte, die Leichen von Bord zu schaffen, die Funkanlage in Betrieb nehmen sollte. Vielleicht gab es doch noch Menschen irgendwo. Oder sollte ich das lieber lassen? Vielleicht waren die Reste der Menschheit so verroht und verrückt wie der Oberstleutnant, dem ich es zu verdanken hatte, dass ich hier gelandet war.

Ich hob den Sani auf und wunderte mich. Er war ganz leicht! Hansen musste schon länger hier liegen. Sein eingefallenes, runzliges Gesicht und seine faltige Haut an den Händen bestätigte dies. Und er roch nach Honig. Wildblütenhonig, gemischt mit einer moschusartigen Note. Ich bugsierte Hansen an Deck und stieg den Niedergang hinab. Unten auf dem Arbeitsdeck war es stockdunkel. Nur der scharfe Lichtkegel, der aus dem Niedergang schien, bescherte mir ein wenig Licht. Ich entdeckte die beiden Lynx- Hubschrauber, die zum Schiff gehörten. Sie waren anständig verzurrt. Hinter dem Pilotensitz war eine Taschenlampe, das wusste ich. Unvermittelt wurde mir ein wenig leichter. Immerhin lag hier unten nicht ein Leichnam.

Vorbei an der Kantine der Mannschaften und der Bücherei ging ich zum Maschinenleitstand. Hier war tatsächlich alles ausgeschaltet. Verdammt, ich hatte zwar öfter mal zugesehen, aber das alles selbst zu machen, war eine gänzlich andere Baustelle. Ich ging an den Schaltschränken vorbei. Gut, dass sie beschriftet waren. GTur1, GTur2, ManDies1, ManDies2, BoSpan. Letzteres sollte wohl Bordspannung heißen? Ein handtellergroßer Drehschalter prangte vor mir, mit einem Ausschnitt wie das Segment eines Tortenbodens. Dahinter leuchtete es rot. Daneben stand OFF. Auf der 12 Uhr-Stellung stand: ON. Rechts daneben ein roter Kippschalter, darunter ein Drucktaster mit der Aufschrift: „Start“. Die Aufgabe konnte ich gar nicht verreißen. Also den Drehschalter betätigen, bis der Tortenbodenausschnitt grün wurde. Irgendwo im Schiff lief ein Elektromotor an! Das tieffrequente Säuseln wurde heller und heller, dann den Kippschalter umlegen und den Drucktaster eindrücken. Polternd lief ein Motor an, wohl im Raum nebenan. Als der Diesel rund lief, flackerten die Lichter und wurden rapide heller. Nach ein paar Minuten war der Raum komplett ausgeleuchtet.
Die beiden Hubschrauber sahen aus, wie tote Insekten, die jemand zum Studium festgezurrt hatte. Mir war schlagartig klar, dass auch die beste und ausgefuchsteste Technik ohne Menschen nichts wert war. Gottseidank lagen hier keine Leichen herum. Ich atmete tief durch. Erst einmal hoch zur Schreibstube, Papier besorgen. Dann vom Mast bis zur Bilge alles absuchen.

Bestandsaufnahme, was das Personal anging. Dann eine Bestandsaufnahme, was Füll-Zustände anging. Treibstoff, Nahrungsmittel, Trinkwasser. Ich schätze, auf eine Matrosendusche (*) konnte ich zukünftig verzichten. Der Vorteil der Stromversorgung war, dass die Wasseranlage arbeitete, die Funkanlage, die Lenzpumpen, die Computer und die elektrischen Schott-Entriegelungen. Ich schätzte, beim öffnen der Kühlschränke würde ich eine fiese Überraschung erleben… Jedes Käsebrot hätte wahrscheinlich zig Junge bekommen und eine intelligente Lebensform gebildet.

Ich brauchte drei Wochen. Drei verdammte Wochen. Insgesamt waren vierzehn Leichen an Bord. Der Erste, der Kapitän, der Antriebsoffizier, der Bordarzt und die zehn toten Kameraden im Bordlazarett. Einer war wohl so schnell gestorben, dass er ein nostalgisches Buch in Händen hielt. „Liebeslust amor vitae. Erzählungen. San Guedoro, Lodovica“

Wenigstens ist er nicht schmerzvoll gestorben. Die Leichname waren alle sehr leicht. Und es stank auch nicht, was mich sehr wunderte. Vor vielen Jahren war in der Wohnung neben meiner Großmutter einmal ein Mann in seiner Wohnung verstorben und lag dort sechs Monate lang unentdeckt. Den Gestank vergisst man niemals. Die Hausbewohner dachten (oder wollten denken), dass der üble Geruch aus der Biotonne kam und hielten das aus. Aber nach einer gewissen Zeit nimmt man wohl auch das nicht mehr wahr. Oder, wie im Falle meiner Oma, man legte nachts feuchte Handtücher vor den Türschlitz. Erst wenn der Besuch sich naserümpfend bis kreidebleich beschwerte, musste man handeln. Und so kam es, dass ich den Nachbarn zu sehen bekam. Er sah genau so aus, wie die Toten an Bord. Der Gestank kam nach sechs Monaten aus der Toilette, aus dem Kühlschrank, dem Aquarium und den Mülleimern. Bestialisch ist weit untertrieben.
Nach drei Wochen hatte ich vierzehn Leichen in ihre besten Uniformen gezwängt und nebeneinander auf einem Rasenstück unweit des Baumes gebettet, auf dem Madame zu mir gefunden hatte. Ich hielt den Ort für malerisch und meiner toten Kameraden würdig. Madame hielt sich übrigens fern von mir. Ihr war das alles nicht geheuer, wie mir schien.

Mich selbst für verrückt haltend, zog ich meine Uniform an, die ich an Bord des Schiffes im Schrank hatte, besorgte ein paar Kanister Benzin und ein Zippo aus der Schiffskantine.
„Kameraden. Ich stehe hier vor euch“, meine Stimme wurde brüchig, „und möchte euch danken. Ein paar von euch kannte ich, die anderen nicht. Trotzdem finde ich, dass es das Schicksal mit euch gut gemeint hat. Ihr seid jetzt tot und habt irgendwo, irgendwann eine neue Zeit vor euch. Ich aber bin verdammt zu leben. Und gerade jetzt wünschte ich mir, ich wäre bei euch. Wir würden Bier trinken, einen Film schauen oder wie damals in Singapur, sämtliche Weiber flachlegen, die nicht schreiend abgehauen waren.“

Ich stockte. Die Erinnerungen kamen alle zurück. Mir wurde schlecht, wenn ich daran dachte, dass ich vielleicht wirklich der letzte Mensch war.
„Ihr Lieben… jetzt, wo ich auf mich allein gestellt bin, vermisse ich euch umso mehr. Das Leben hat euch kein gutes Blatt beschert, aber meines ist beschissen. Und doch werde ich euch in Erinnerung behalten. Egal, wie lange ich lebe.“
Die Benzinkanister waren schnell geleert. Die Flammen schossen meterhoch in den stahlblauen Himmel. Ich musste ein paar Meter weit zurückweichen und setzte mich mit dem Rücken zur Straße auf den steinernen Absatz des Zaunes.
Tränen rannen über mein Gesicht. Nie war mir meine Lage deutlicher als gerade jetzt. Der Mensch ist wohl nicht zum Alleinsein geschaffen. Mein Atem ging mühsam, ich bekam eine Gänsehaut. Als ob Madame das spürte, kam sie näher. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Wie albern, eine Katze weiß gar nicht, was das ist. Aber Katzen spüren. Mehr als wir. Sie kam näher und näher und ich staunte. Keine zehn Zentimeter vor mir setzte sie sich auf die Hinterläufe und sah mich an. Aus großen Katzenaugen. Langsam und behutsam streckte ich eine Hand aus. Sie reckte ihren Kopf leicht nach vorn und schnüffelte an meinen Fingern. Dann geschah das Wunder. Madame rieb ihren Kopf an meiner Hand. Ich lächelte und freute mich, dass die Katze mich aus meiner Traurigkeit gerissen hatte. Und ich hatte sie berührt. Und war erstaunt, wie struppig und rau ihr Fell war. Von Jack kannte ich das anders. Sein Fell war seidig und glatt und schmeichelte in der Hand.

Wie von einem elektrischen Schlag durchfahren stand Madame urplötzlich auf ihren Beinen. Sie war flach wie ein Dachs, ihre Ohren waren nach hinten gelegt, sie riss das Maul mit ihren blitzenden Zähnen auf und fauchte. Innerhalb einer Sekunde war mein Kreislauf mit Adrenalin durchflutet, mein Herz raste und ich begann augenblicklich, zu schwitzen. Aber Madame fauchte nicht mich an. Ihr Blick ging an mir vorbei zur Straße. Siedend heiße Wellen fuhren über meinen Rücken, denn eine Waffe hatte ich nicht zur Beerdigung mitgenommen. Ein Riesenfehler.
„Sünder!“ zischte es hinter mir und mir wurde übel.




(*) Matrosendusche: Nass machen, Wasser aus. Einseifen, Wasser an, abspülen, fertig. Die Meerwasserentsalzungsanlage liefert 20 Kubikmeter Wasser pro Tag für 255 Leute, das ist verdammt wenig.



Kapitel 5B: Gefechtszustand



Ich stand auf und drehte mich herum. Da stand er, der Prediger, den ich bereits kannte. Aber er hatte sich verändert. Sein schütteres, ehemals fettiges Haar war nur noch rudimentär vorhanden. Bräunliche Flecken zierten seinen Kopf, aus denen noch ein paar letzte Haare wuchsen. Die Augen lagen in tiefen Höhlen, was den starren, flackernden Blick verstärkte und ihm etwas Dämonisches verlieh.

War der Prediger vor meinem Koma bereits labil, so hatte ihn der Wahnsinn nun vollends erwischt. Er war unerhört dünn. Seine Soutane zerrissen, fleckig und mit getrocknetem Blut befleckt, der Kragenspiegel gelblich-braun. Er stank zum Himmel nach Schweiß, Kot und Urin.
„Sünder, du bist es! Der Hölle entronnen…“, er sabberte beim reden. Da ihm eine ganze Reihe Zähne fehlten, hörte es sich an, als ob er lispelte. Die verbliebenen Zähne waren nunmehr schwarze Stümpfe und mussten stark schmerzen.
„Die Wölfe werden bei den Lämmern schlafen und die Parder bei den Böcken liegen! Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und Glaube, Sünder, hörst du? GLAUBE der Gurt seiner Hüften und die göttliche Lyrik wird einem Feuersturm gleichen!“

„Du bist ja nicht ganz dicht, Alter!“
Meine Stimme war nicht sehr kräftig. Zu tief saß der Schock. Ausgerechnet der idiotischste Spinner überlebte die Seuche? Wahrlich, das mochte ein schaler Witz Gottes sein.
„Ich? Nein, Sünder. Mich schickt der Allmächtige Vater, zu tilgen den Unrat von seiner Schöpfung. Zu widerstehen dem Teufel und seine Dämonen zurück in die Hölle zu jagen. Hörst du Sünder? Vernichten werde ich dich und deine Brut. Ich werde das Werk des Vaters vollenden, Sünder!“
Diesmal wurde er nicht lauter, sondern leiser, je mehr er sich aufregte. Ganz dicht trat er an den Zaun. Seine Augen schienen zu brennen; hasserfüllt starrte er mich an als Inkarnation des Bösen.

„Pass nur auf, du irrer Vogel, gleicht krachts!“
Prompt legte er die Hand an den Zaun und bekam einen elektrischen Schlag, der ihn rückwärts taumeln ließ. Er strauchelte und fiel unbeholfen auf den Hintern. Ich musste unwillkürlich lachen, denn es sah aus wie damals bei den Geschichten mit Dick und Doof. Aber der Irre rappelte sich wieder hoch, kam auf mich zu. Er blutete aus einer Schürfwunde an der linken Hand.

„Brennen wirst du beim Gehörnten, Sünder. Tilgen werde ich dich von der Erde“
Ich starrte ihn nur an. Mir war, wie früher auch, vollkommen unklar, wie es geschehen konnte, dass sich Menschen so sehr verändern konnten. War er auf Opa Schmittkes Rasen schon durchgedreht, was ich im Anbetracht der Lage gut verstehen konnte, hatte sich sein Geist nun vollends vom Acker gemacht.
Er war wieder am Zaun. Hob die Rechte, die die mittlerweile zerfledderte Bibel umkrampfte.

„Komm mal klar, Alter. Merkst du eigentlich nichts? Alle Menschen sind tot. Vielleicht sind wir die Letzten, und du willst mich rösten?“
„Kain erschlug Abel, weil Abel sich dem Teufel zugewandt hatte. Er war ein Sünder, eben wie du!“
Eine recht eigenwillige Darstellung, fand ich.
„Egal wie, du kannst hier nicht herein“
„Der Herr wird mich leiten“, setzte er an, „sein Stecken und Stab wird…“
Er ließ die Bibel fallen und griff mit beiden Händen in den Elektrozaun. Die Spannung ließ ihn konvulsivisch zucken, aber er ließ nicht los. Abgehackt und stotternd stieß er die Worte hervor.
„Ich werde im Namen des allmächtigen Gottes Furcht in dein Herz tragen, Sünder…“
Blut und Schaum quoll aus zwischen seinen fauligen Zähnen hervor, er zuckte und bebte und dann sackte er bewusstlos zusammen mit glühendem, loderndem Hass in den Augen.

„Scheiße“
Meine Stimme klang fremd und grotesk in der Stille. Eigentlich hätte ich ihn versorgen müssen. Andererseits würde ich den Teufel tun, mir die Pest auf den Stützpunkt zu holen. Die Logik sagte mir, dass der Prediger bereits tot war. Er hatte nur vergessen, umzufallen. Der Mensch in mir hatte Mitleid und hoffte, dass er bei guter Versorgung vielleicht noch gerettet werden könnte. Aber der Skeptiker in mir riet zur Vorsicht. Der Typ war vor Monaten schon verrückt und jetzt war es nicht besser geworden. Ich sah kurz hinter mich. Madame war längst weg, sie konnte ich nicht fragen.

Andererseits… wenn der Verrückte hier überlebt hatte, bestand eine gute Chance, dass es noch mehr geschafft hatten. Das Dumme war nur, dass ich beim besten Willen nicht einschätzen konnte, ob der Rest der Menschheit mir wohlgesonnen war, oder nicht.
Ich wandte mich ab. Ab sofort war mir klar, dass ich regelmäßig Streife laufen musste. So verrückt der Prediger war, so getrieben von tödlichem Hass war er. Eine gefährliche, haarige Mischung. Und wenn ich so darüber nachdachte… wenn ich auf den Stützpunkt wollte, würde ich es auch schaffen. Draußen bei den Zivilisten gab es so gut wie alles. Von der Holzleiter über Steigeisen bis hin zu Baggern, Radladern, Kränen und Sprengstoff. Und wenn man so vom Hass getrieben wurde wie der Prediger, entwickelte man zwanghafterweise unkonventionelle Ideen. Ich musste sehr auf der Hut sein.

Sehr viel später beobachtete ich aus guter Deckung, wie der Prediger aufwachte. Ansatzlos setzte er sich auf. Mit irrem Blick sah er sich um und bewegte sich wie eine Maschine. Dann stand er auf, als wenn nichts geschehen wäre und ging weg. Nach weniger als fünf Minuten sah ich ihn nicht mehr. Da ich Gegenwind hatte, blieb nicht mehr zurück als ein ekelhafter, beißender, leicht fischiger Geruch. Aber ich war sicher, er würde zurückkommen. Todsicher. Das Schiff wurde wichtiger denn je. Dort konnte ich mich einigeln. Dort war ich sicher.
Deshalb verbrachte ich den Rest des Tages damit, die Kombüse klar zu machen. Ich schaffte so viel Lebensmittel wie möglich an Bord. Morgen würde ich dann Kraftstoff bunkern, Wasser und alles, was ich an Waffen und Munition an Bord schaffen konnte. Der verrückte Prediger konnte mir überall auflauern. Ich war mir nicht mehr sicher, ob er nicht bereits auf dem Gelände war, und das verlieh mir Flügel.

Als ich am Ende meiner Kräfte war, beschloss ich, die Kapitänskajüte zu beziehen. Er brauchte sie sowieso nicht mehr. Der geräumigste Raum an Bord. Dennoch sah ich mich respektvoll um. Der Kapitän hatte einen Schreibtisch. Darauf lag das Logbuch. Handgeschrieben. Gedankenverloren blätterte ich darin herum. Und blieb hängen.

11.Dezember 2013: Heute war die Abschlussbesprechung mit dem Amis. Sie waren hochzufrieden mit der Kooperation der Hamburg. Ich erwarte ein großes Hafenkonzert, wenn wir wieder zuhause sind.
Einer der Hubschrauber funktioniert nicht. Keiner weiß, warum. Auch der HEO (*1) nicht. Das Ding macht mich verrückt, jedes Mal, wenn ein Defekt repariert ist, tritt ein neuer auf. Ich beantrage beim Materialamt, dass ein anderer geliefert wird. Es ist unglaublich. Wäre der Hubi eine Frau, wäre sie eine Schöampe.
Peer rief heute an. Er ist in Guinea und meint, dass er heim möchte. In einem Dorf unweit seines Krankenhauses ist ein Soldat an Ebola erkrankt. Ist aber noch nicht bewiesen.
23. März 2014: Im westafrikanischen Guinea sind laut einem Radiobericht etwa 60 Menschen an Ebola gestorben, es gibt fast 100 Infizierte. Peer sagte mir, dass rückblickend die Experten davon ausgingen, dass es schon im Dezember 2013 erste Erkrankungen in der Region gab. Ich betrachte das alles als unangenehm, aber aufgrund der Distanz für uns eher unerheblich. Nur Peer tut mir leid, er steckt mittendrin.
25. März 2014: Es gibt keinen Ersatzhubschrauber. Das Materialamt hat entschieden. Vom Chef weiß ich aber, dass ich nach der nächsten Wahl noch einmal versuchen kann, einen Heli zu beantragen. Sind wohl wahlpolitische Gründe, die da zum Tragen kommen. Könnte kotzen. Heute habe ich Fähnrich Pedersen Urlaub gewährt, obschon er keinen mehr hat. Seine Frau kommt nieder und man ist ja kein Unmensch.
Von Peer habe ich gehört, dass die Krankheit wird auch in Liberia nachgewiesen wurde, mindestens fünf Menschen sind zu dem Zeitpunkt bereits in Liberia daran gestorben. Peer hat eine Scheißangst vor der Seuche.
26. Mai 2014: Heute haben die Umbauten begonnen. Das neue Flugabwehrsystem ist der Hammer. Vier Geschütztürme, die in der OPZ gesteuert werden. Sie feuern alles vom Himmel, versprach mir der leitende Ingenieur. Nächste Woche geht’s in den Nordatlantik für erste Tests.
Übrigens hat die WHO heute bekannt gegeben, dass die Epidemie Sierra Leone erreicht hat. Fünf Menschen sind dort schon an dem Virus verstorben. Das Land hat die Grenzen geschlossen. Ich weiß gar nicht, warum mich das Thema so beschäftigt. Es sind viele Hundert Kilometer Distanz. Ist es wegen Peer? Heute habe ich noch nichts gehört von ihm.
23. Juni 2014: Nach vier Wochen sind wir heute zurück im Stützpunkt. Das Mantis-System war ein voller Erfolg. Allein das Nachladen gefällt mir nicht. Es müssen Kartuschen aufmunitioniert werden und an Deck von Hand in die Türme geladen werden. Die Amis haben das besser gelöst, die haben Trommelmagazine, die mit fertigen Gurten befüllt werden, das geht automatisch. Ich werde mal einen Verbesserungsvorschlag anfertigen und einsenden. Was zum Teufel nützt ein System, das pro Minute 4000 Schuss verfeuert, aber 1 Stunde zum nachladen braucht?
Seit fast einem Monat kein Lebenszeichen von Peer, allmählich mache ich mir richtig Sorgen. Peers Frau rief mich heute Morgen an, auch sie hat keinen Kontakt.
Aus den Nachrichten weiß ich, dass die Seuche sich weiter ausbreitet. Der Ebola- Virus wütet in über 60 Orten in Guinea, Liberia und Sierra Leone.
20. Juli 2014: Der Umbau der OPZ ist heute beendet worden und um eine Feuerleitzentrale erweitert worden. Die Radar und Sensoren-Einheiten sind feingetunt und es gibt eine weitere Neuerung. Eine gyroskopische Waffenstabilisierungsanlage. Sie gleicht Rollen, Krängen, Stampfen und Gieren aus. Der Test steht ab morgen an.
Wir haben nun Gewissheit. Peer ist tot. Seine Frau rief mich heute an, die WHO hat seinen Tod bestätigt. So ein Mist. Ein defekter Handschuh war schuld. Ein Loch von der Größe eines Stecknadelkopfes hatte gereicht, Peer den Tod zu bringen. Da fährt man Tausende von Kilometern nach Afrika um zu heilen und zu helfen und stirbt selbst. Ist das Gottes Gerechtigkeit? Ist das FAIR? Ebola hat Nigeria erreicht. Ein Liberianer bricht Medienberichten zufolge bei seiner Ankunft am Flughafen von Lagos zusammen und wird ins Krankenhaus gebracht. Zwei Tage später stirbt er. Das Land versetzt seine Sicherheitskräfte an Flughäfen, Seehäfen und Landesgrenzen in höchste Alarmbereitschaft. Kam heute vom Marinekommando.
28. Juli 2014: Der einwöchige Schießtest in der Ostsee ist perfekt abgelaufen. Die Waffenstabilisierungsanlage arbeitet fehlerfrei. Ein Hoch auf unsere Ingenieure. Wenn die an dem Ding rumfummeln können, sind sie glücklich. Heute kam einer auf die Idee, eine Art Schutzschirm zu generieren. Nicht wie bei Käptn Kirk aus unsichtbaren Strahlen, einen Schirm aus Abwehrfeuer. Ein Knopfdruck würde genügen und das Schiff wäre rundum geschützt, auch unter Wasser. AUV nannte er das. Allumfassender Verteidigungszustand. Alle Systeme würden auf Automatik arbeiten und etwaige Ziele selbständig bekämpfen. Auf meine Frage, ob das schwierig zu realisieren wäre, zuckte er die Achseln und meinte lakonisch: „Ist ne Software-Frage, Käptn“.
Das machte mich Neugierig und ich ließ mich einweisen. Schade, dass der WSO nicht da ist, das hätte ihn interessiert. Aber wenn er zurückkommt, wird er informiert sein. Ich hinterließ eine Depesche in seiner Kajüte.
Rita schrieb mir heute eine Mail. Ebola wird zum Thema für Deutschland. Im Eppendorfer Universitätsklinikum ist der erste Patient aus Deutschland angekommen. Sein Name ist Sheik Umar Khan, einen der wichtigsten Ebola-Experten in Sierra Leone. Er hatte sich mit Ebola infiziert. Wie, ist noch unbekannt.

Verdammt. In meiner Kajüte hatte ich die Depesche zwar gesehen, aber nicht weiter beachtet. Wie dumm. Ich nahm mir vor, nach dem Lesen des Logs sofort die Depesche zu lesen. Aber jetzt musste ich einfach weiterlesen. Weltweite Ereignisse aus der Sicht des Kapitäns. Ich ließ die Bord-Ereignisse weg und konzentrierte mich auf die Geschichte einer Seuche.

29. Juli 2014: Der Arzt Sheik Umar Khan stirbt. Er ist nicht der erste Mediziner, der dem Virus erliegt. Doch sein Schicksal gibt der Epidemie ein Gesicht. Genau wie Peer. Ich vermisse ihn.
4. August 2014: Der nigerianische Arzt, der mit dem ersten eingeschleppten Ebola-Fall betraut war, erkrankt selbst. Zwei weitere Menschen, die Kontakt zu dem Reisenden hatten, zeigen ebenfalls Symptome. Die Seuche hat damit auch im bevölkerungsreichsten Land Afrikas Fuß gefasst. Die Verteidigungsministerin hat mit der Truppenleitung und einem Tropenmediziner einen Notfallplan erarbeitet. Für unsere 173 Kameraden in Mali und im Senegal, beide Länder grenzen an die infizierten Gebiete. Es kann sein, dass wir auslaufen. Gerüchten zufolge soll aber die Cap Anamour vor Ort sein. Es beruhigt mich aber nicht.
5. August 2014: Erstmals wird ein bisher nur an Tieren getestetes, kanadisches Medikament zur Behandlung von Ebola eingesetzt. Der US-amerikanische Arzt Kent Brantly und seine Kollegin, die Krankenschwester Nancy Writebol, erhalten die experimentelle Therapie. Beide hatten sich bei ihrer Arbeit in Liberia mit Ebola infiziert. Zugleich werden weltweit die Hilfsmaßnahmen verstärkt. Die Weltbank stellt 200 Millionen Dollar zur Finanzierung von Fachpersonal und medizinischer Ausrüstung zur Verfügung. Als ob das helfen würde!
7. August 2014: Der erste Ebola-Patient ist in Europa eingetroffen. Der 75-jährige katholische Priester Miguel Pajares hatte sich in Liberia bei der Hilfsarbeit angesteckt und soll nun in Madrid behandelt werden. Die WHO-Experten beraten in einer Krisensitzung mittlerweile sogar darüber, ob Ebola zur internationalen Krise ausgerufen werden soll.
8. August 2014: Die WHO stuft die Ebola-Epidemie als internationalen Gesundheitsnotfall ein. Alle betroffenen Länder sollen - soweit noch nicht passiert - den nationalen Notstand ausrufen, Krisenstäbe einrichten und die Grenzen kontrollieren. "Alle Maßnahmen sind darauf gerichtet, eine weitere internationale Ausbreitung zu verhindern", sagte WHO-Generaldirektorin Margaret Chan. Das Problem ist aber, dass man so große Menschenmassen nicht kontrollieren kann. Was zum Teufel machen die da?
12. August 2014: Die WHO wagt einen heiklen Schritt. Sie empfiehlt, auch nicht zugelassene und noch nicht an Menschen getestete Medikamente gegen Ebola einzusetzen. Derzeit gibt es kein einziges erprobtes Mittel. Am gleichen Tag wird bekannt, dass die Zahl der Todesopfer über 1000 geschritten ist. Überall auf der Welt sind Mediziner in Alarmbereitschaft, wie bei uns in einer Isolierstation der Berliner Charité.
24. August 2014: Zum zweiten Mal wird ein infizierter Europäer - ein Brite - zur Behandlung in sein Heimatland geflogen. Die Demokratische Republik Kongo meldet bestätigte Ebola-Infektionen. Der Ausbruch soll unabhängig von dem in Westafrika sein.
27. August 2014: Nun wird tatsächlich ein erster Patient nach Deutschland gebracht. Der erkrankte Mitarbeiter der WHO wird im Universitätskrankenhaus in Hamburg-Eppendorf behandelt. Er hatte sich in Sierra Leone angesteckt. Ich bin verärgert. Die Israelis haben einen infizierten Patienten, die Spanier, die Engländer, die Kanadier und die Amerikaner. Und nun wir auch. Jeder nur einen. Misstrauen befällt mich. Kann es sein, dass hier keine Hilfe angeboten werden soll? Kann es sein, dass die Wirte des Virus Väter der Antikörper sein sollen? Kann es sein, dass biologische Waffen gefertigt werden sollen? Ich bin zutiefst beunruhigt!
28. August 2014: Die WHO veröffentlicht eine düstere Prognose: Noch etwa neun Monate müsse die Welt mit der Seuche leben. Die Zahl der Infizierten könnte auf 20 000 steigen. Von den 240 Ärzten und Pflegern sind 120 bereits tot, ein großer Teil ist erkrankt. Die soziale und wirtschaftliche Lage in den betroffen Ländern verschlechtert sich. Durch Quarantänemaßnahmen, Reise- und Transportbeschränkungen kommt es zu Unruhen, Panik-Käufen, steigenden Preisen und Nahrungsmittelknappheit. Und Landesflucht. Zahlreiche, auch Infizierte, verlassen die betroffenen Länder auf Schleichwegen. Erster Ebola-Fall im Senegal. Die WHO hat beschlossen, dass das experimentelle Mittel „ZMapp“ auch ohne klinische Tests verwendet werden darf. Peers Frau, ebenfalls Ärztin, sagte mir am Telefon, dass MAPP Biopharmaceuticals Tabakpflanzen zur Gewinnung der Antikörper nutzt. Scheiße ich habe erst vor 3 Jahren mit dem Rauchen aufgehört! Angeblich haben die globalen Pharma-Konzerne kein Gegenmittel. Angeblich aus kommerziellen Gründen. Zu wenig „Opfer“, um eine Forschung dahingehend zu rechtfertigen. Ich bin aber ganz sicher, dass alle militärischen Einrichtungen ein Gegenmittel haben. Nur: Beweise das mal.
1.September 2014: Es ist passiert! Aus Quebec werden 124 Tote durch Ebola gemeldet. Alle innerhalb eines Tages gestorben. Die WHO meldet, dass die Übertragungswege nun nicht mehr konventionell gelten. Ebola wird nicht mehr allein durch Blut oder Schleimhautkontakt übertragen. Der Virus ist mutiert. Jetzt wird er durch die Luft übertragen. Diese Idioten haben dran rumgefummelt und wir alle bekommen jetzt die Quittung! Ich werde die Besatzung nicht zurückrufen. Im Gegenteil. Wir bunkern jetzt alles bis Oberkante Unterlippe und dann versiegeln wir das Schiff. Mal sehen, wer den längeren Atem hat!
4.September 2014: Meine Tochter hat Geburtstag. Gestern habe ich sie angerufen und meiner Frau gesagt, sie soll sofort herkommen. An Bord sind wir vorerst sicher. Habe aber den Kontakt verloren. Ich hörte von Plünderungen in den Großstädten. Aber die Nachrichten kommen nicht ganz an. Vermutlich hat die Regierung einen Filter auf den Nachrichten. Bastarde!
6.September 2014: Ich könnte verzweifeln. Keinen Kontakt zu meiner Familie. Auch die paar Leute, die noch an Bord sind, haben keinen Kontakt zu ihren Familien. Was zum Teufel ist bloß los hier?
13. September 2014: Tot. Sie sind alle tot. Der Stützpunkt ist hermetisch abgeriegelt, aber Wachen und Personal sind weg und nur ein paar letzte Recken sind noch da. Aber sie sterben, einer nach dem anderen. Ich sehe es durch die Bordkameras. Sie sterben unter Qualen. Sie bluten aus den Augen, aus den Nasen, aus den Ohren. Ihre Hosen sind durchtränkt mit Blut und sie kotzen Rotz und grünen Schleim und Blut bevor sie einfach umfallen und sich nichtmehr bewegen. Ich habe das Schiff unter ABC-Konditionen gestellt. Es ist zum verzweifeln. Irgendwann müssen wir an Deck und Luft holen. Es wird nichtmehr lange dauern, schätze ich. Laut WHO sind wir alle infiziert. ALLE! Restlos die gesamte Menschheit hat Ebola. Nur ein paar Wenige haben eine natürliche Resistenz gegen den Virus. Sie werden nicht krank, aber sie können das Virus dennoch weitergeben. Wahnsinn.
14. September 2014: Heute ist es passiert. Obergefreiter Hansen ist durchgedreht und hat ein Schott geöffnet. Ich habe ihn erschossen. Und ich bin ein Idiot. Um meine Sachen zu holen bin ich ohne nachzudenken in meine Kajüte gerannt. Mir ist schwindelig und ich habe Gliederschmerzen und Magenweh. Für den Fall, dass ich infiziert bin, verlasse ich das Schiff. Hoffentlich habe ich niemanden angesteckt. Ich werde meine Familie suchen. Das ist meine letzte Eintragung als Kapitän der F 220 Hamburg, dem besten Schiff der deutschen Marine. Möge das Schicksal uns allen gnädig sein. Und mögen die Überlebenden dafür sorgen, dass eine bessere, klügere und menschlichere Rasse entsteht.


Ich konnte es nicht verhindern, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Der Kapitän war ein guter Mann, ich hatte ihn gern. Aber seine Aussage, dass alle Menschen infiziert waren, machte mich unruhig. So, wie ich es sah, waren wir noch zwei Personen. Der verrückte Prediger und ich. Eine intakte Menschheit würde daraus kaum entstehen. Irgendwo im Discovery-Channel sagte einmal jemand, dass man mindestens 32 Personen bräuchte, die nicht familiär-genetisch die gleiche Abstammung hätten, um einen gesunden, genetischen Pool zu gewährleiten.

(*1) HEO=Hubschrauber-Einsatzoffizier



Kapitel 5C „Raubtiere“



Geschmeidig wie eine Raubkatze schleiche ich im Schutz der halb zerschossenen Mauern, immer auf Deckung bedacht, durch das Hafengebiet, welches an den Stützpunkt anschließt.
Die wenigen Leute, die Gottes Strafgericht über die Menschheit überlebt haben, sind zumeist brandgefährlich und gut bewaffnet. Es geht ihnen um die verbliebenen Ressourcen und schon wieder beginnen sie, eine ungerechte Weltordnung zu erschaffen. Wenige Starke haben alles, die anderen Schwächeren kaum etwas.
Sie haben nicht gelernt, nichts erkannt, nichts bereut, wollen nicht büßen und sich läutern für eine neue gerechtere Welt – im Gegenteil.

Ich habe nichts mehr außer dieser Mission, die mich am Leben hält und dem Ganzen noch einen Sinn gibt. Die tödliche Seuche Ebola hat mir alles genommen.
Der Prediger, mein Vorbild an Erleuchtung und Weisheit hat mich ausgesandt. Er meinte zu mir, es gäbe einen weiteren Überlebenden, einen Kämpfer, auf diesem Stützpunkt. Einer jener Sünder, der verantwortlich für alles sei und welcher zu unser aller Wohl bereuen und büßen müsse, damit diese Apokalypse von uns genommen werde und wir wieder Gnade vor dem Angesicht unseres Herren fänden.

Ohne Widerspruch gehorche ich den Worten des Predigers, er ist mein Mentor, der mich in höchster Not aufgenommen und mich vor dem Tode gerettet hat – ich verdanke ihm alles.
Kaum noch erinnere ich mich an mein Leben bevor der Zorn Gottes über uns kam.
Eine unbescholtene Hausfrau war ich, von meinem Mann, auch so einem Sünder, sitzengelassen. Mit meinen diversen Putzjobs kamen meine beiden Kinder und ich einigermaßen über die Runden.
Für Nachrichten, Geschichten und Lyrik hatte ich nie viel Zeit. Deshalb kam das Sterben um mich herum plötzlich und unerwartet. Ich verstehe nicht, warum gerade ich verschont wurde und meine Kinder nicht überleben dürften.
Meine Seele ist einen schrecklichen Tod gestorben und dank dem Prediger als gerechte unbarmherzige Waffe für alle weiteren Sünder wieder auferstanden.
Alles werde wieder gut, spricht er, wenn erst der letzte Sünder vom Antlitz dieser Erde getilgt sei.

So habe ich mich von einer harmlosen Frau in eine Tötungsmaschine gewandelt, weil es sein muss. Der Prediger selbst ist zu schwach und zu alt zum vollstrecken.
Er stärkt mich mit seinen Worten.
Gefühllos erledige ich meinen Job und mähe die wenigen übrig gebliebenen nieder, die nicht freiwillig bereuen und büßen wollen.
Dann muss ich eben diese Entscheidung für sie treffen!
Bei der Wahl meiner Mittel bin ich flexibel, ich nehme, was ich gerade finde, vom Steigeisen über Messer bis zum Baseballschläger. Doch nicht Hass sondern der Wunsch nach unserer Erlösung treibt mich an.
Ich bin eine Gerechte wie der Prediger. Ich vollstrecke die Todesurteile schnell.

Widerlicher fischiger Geruch steigt in meine Nase und ich versuche meinen Würgereflex unter Kontrolle zu halten. Der letzte Fang verrottet auf dem Fischkutter vor mir. Herrenlose Hunde und verwilderte Katzen balgen sich um die ekelerregende Beute. Ganz vorsichtig schleiche ich geräuschlos weiter.
Ich habe meine Kleidung mit altem Maschinenöl eingerieben, damit mich, die zu Fressfeinden gewordenen ehemaligen Haustiere nicht wittern, und nähere mich nun dem Objekt meiner Begierde.
Vor mir liegt der Sündenpfuhl, das Schiff, welches der Prediger mir beschrieben hat. Ich muss es schaffen, diesen hohen Stacheldraht, vom Sünder ungesehen zu überwinden, ihn gefangen nehmen und dafür sorgen, dass er büßt.

Aus meiner Deckung heraus sehe ich den Sünder, er schleppt Lebensmittel vom Stützpunkt an Deck. Ich muss verhindern, dass er sich auf dem Schiff verschanzt. Suchend husche ich am Zaun entlang und suche nach einer Schwachstelle.
Da, der Herr meint es gut mir mit und hat meine Mission gesegnet - ein Loch im Maschendraht – groß genug für mich.
Ich zwänge mich hindurch und wucherndes Unkrautgestrüpp verbirgt mich vor seinen wachsamen Augen. Tief geduckt und geräuschlos robbe ich vorwärts. Doch irgendetwas hat seine Aufmerksamkeit erregt, denn er späht nun in meine Richtung. Ich presse mich noch fester an den Boden und erstarre.
Nicht nur aus Angst von ihm entdeckt zu werden, sondern auch, weil unmittelbar vor mir etwas kleines Haariges liegt, ein Wildkatzenbaby, ein Ozelot?
Es wundert mich nicht wirklich, denn der letzte Wärter öffnete die Tore des Zoos, damit die Tiere eine Überlebenschance hätten.
Alle Arten von Raubtieren durchstreifen nun die Stadt.

Ängstlich maunzt das Kleine und blickt mich aus großen Augen an. Ein todgeglaubtes Gefühl regt sich in mir. Doch unvermittelt höre ich knurrendes und bedrohliches Fauchen hinter mir und spüre den heißen stinkenden Atem der Bestie in meinem Nacken.
Hätte ich mir ja denken können, dass die Mutter in der Nähe ihres Jungen ist! Adrenalin flutet meine Adern. Ich atme kurz durch und werfe mich von meiner Bauchlage blitzschnell herum, um der Gefahr für meine wichtige Mission, mein Messer in den Leib zu rammen.
Doch was ich sehe, verschlägt mir den Atem.

Der Sünder steht mit einem Maschinengewehr im Anschlag über mir und zielt auf mich. „Na du Schlampe, du kommst mir gerade recht…“
spannend!
Ihre Krallen sind tödliche Waffen, gegen ihre Wildheit (ist?) kein Kraut gewachsen.

Fehlt da ein "Ist"...oder täusche ich mich?

Grüße
Alf
eyes002
******ace Mann
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F 220, Kapitel 6 + 7
Kapitel 6: Abwehr

Wie gelähmt tappte wie ich wie ein Geist durchs Schiff. Schott für Schott ging ich ab. Nur zur Sicherheit. Ich durfte es auf gar keinen Fall riskieren, dass der verrückte Prediger an Bord kam. Ich durfte nicht einmal riskieren, dass er auf den Stützpunkt kam. Vor allen Dingen musste ich sofort alle Waffen sichern. Typen wie der Prediger würden sie ohne zu zögern benutzen.

In meiner alten Kabine angekommen, riss ich die Depesche auf, nachdem ich kraftlos in den Stuhl gefallen war. „Sie haben etwas verpasst, WSO“ stand handschriftlich auf dem Umschlag.
Innen viele Seiten Papier. Programmieranleitungen, technische Pläne, Anleitungen und technische Zeichnungen. Und eine DvD.
Ich muss lange gelegen haben. Die Unterlagen zeichneten das System als Manits NBS C-Ram 1A3 aus. Also die dritte Ausbaustufe. Jetzt war ich neugierig geworden. Hastig blätterte ich die Unterlagen durch. Und frohlockte. Die Jungs von Rheinmetall hatten alles richtig gemacht. Nicht nur, dass die Sensoreneinheiten mit einem Rundsuchradar ausgerüstet war, das in 20 Km Entfernung noch eine Möwe orten konnte, ich hatte das neuwertigste Zielverfolgungsradar, das es gab, mit den leistungsfähigsten Recheneinheiten. Ein Infrarot-Folgeradar inklusive Infrarot-Zielradar, Laser-Entfernungsmesser, hochauflösende TV-Kameras mit Bildstabilisator und Null-Lumen Nachtsichtgeräte. Das bedeutete, dass ich auch in stockfinsterster Nacht alles sehen konnte. Dazu kam ein Wärmebildsensor. Eine unglaubliche Maschine. Dazu kam, dass die Ingenieure eine automatische Freund / Feind- Kennung eingebaut hatten, das nicht nur nach Funkleitstrahlen funktionierte, sondern auch auf Sicht. Der Hintergrund war, dass viele Terroristen, das hatten sie aus 9/11 gelernt, die Transponderkennungen der Maschinen einfach abschalteten. Das bedeutete aber auch, dass man das System frei mit Bilddaten füttern konnte. Die A2-Stufe hatte bedeutet, dass die 24 Schuss-Kartuschen, die man so umständlich von Hand laden musste, durch eine automatische Gurtzuführung ersetzt worden war. Jedes Magazin, das ein Deck unterhalb der Türme installiert worden war, hatte 14 000 Schuss 30mm Munition. Und das alles frei programmierbar.

Mich hielt nichts mehr. Ich begab mich augenblicklich in die BFZ, die neben der OPZ angebracht war. Alle Systeme waren auf Stand by, das sah ich auf dem Monitor des Waffentechnik- Offiziers. Dort blinkte einiges. „System Stand by“ blinkte grün hinterlegt und ohne zu zögern nutzte ich die Maus, um das System scharf zu schalten. Einen Augenblick lang flackerte das Licht, als die SMART anlief, die beiden Sensoreneinheiten und die vier Geschütze ihre Gurtzuführungen rattern ließen. Ich war begeistert.

Auf den beiden Monitoren links und rechts des Hauptleitstandes sah ich die Umgebung. Zeit zu spielen. Ich benutzte alles. Die Kameras waren fantastisch. Selten hatte ich so eine Auflösung gesehen, selten so klar und scharf gezoomt. Und vor allen Dingen: So verwackelsicher.
Am Ufer entdeckte ich Madame. Ich grinste. Der Ozelot lag im Gras und döste vor sich hin. Den ganzen verdammten Stützpunkt konnte ich abtasten. Und hätte ich Idiot nicht verträumt auf den Ozelot geschaut, wäre mir der blinkende Monitor der Wärmebildkamera nicht entgangen.

So aber suchte ich die Programmierung der zu bekämpfenden Ziele. Die Standardprogrammierung wies nicht viel aus. Die Freund-Kennungen waren klar hinterlegt. Vage erkennbare Ziele waren ausgezeichnet mit „Fire on demand“. Also die ganzen MIGs, Suchois und Tupolews, die die östlichen Länder auch an andere Staaten abgegeben hatten. Sämtliche Raketen waren hinterlegt, und, was mich überraschte, eine Vielzahl an Drohnen. Ich war wirklich lange weg. Deutschland hatte mittlerweile auch Drohnen? Aha. Hatte sich Flinten-Uschi also doch durchgesetzt.

Rechts unten auf dem Monitor entdeckte ich eine Art Uhr, die rückwärts lief. Als ich sie anklickte, wurde mir klar, dass es sich hier um eine automatische Rundumsicherungs-Aufzeichnung handelte. Sie zeichnete automatisch die letzten 48 Stunden auf. Ich musste grinsen. Nach kurzer Zeit hatte ich eine Aufzeichnung vor mir. Die Bordkameras hatten eine Wärmequelle, das Beerdigungs-Feuer, entdeckt und sich automatisch aufgeschaltet. Jetzt hatte ich sogar ein Bild vom Prediger. Ich schnitt die Figur aus und schob sie in den Ordner: „Feindsignaturen“. Dort rechts anklicken und im Kontextmenü wählen: „Automatisch Feuer eröffnen nach Zielerkennung“. Ich grinste fast im Kreis. Sollte das ernsthaft funktionieren? Im Hauptmenü schaltete ich Turm Alpha, Bravo, Charlie und Delta scharf.

Über das Flugdeck ging ich an die frische Luft. Komisches Wetter. Die Wolkendecke schien immer gleich. Gleich dick, gleich kalt, gleich grau. Am Heck angekommen, lehnte ich mich auf die Reling. Madame lag im Gras des Ufers. Sie bemerkte meine Blicke. Und hoffentlich bemerkte sie auch, dass ich sie sehr mochte. Ich dachte schon immer und denke nach wie vor, Tiere spüren das.

Madames Kopf ruckte hoch. Sie witterte etwas. Auch ich spürte ein ungutes Gefühl, dachte aber, dass das wohl an meiner Reaktion auf das Tier lag. Madames Schwanz peitschte hin und her, ihre Ohren waren nach hinten eng an den Kopf angelegt. Sie fauchte, drehte sich um und verschwand mit langen, eleganten Sätzen zwischen den Büschen. Vielleicht kündigte sich ein Wetterumschwung an? Bei Jack konnte ich mir da sicher sein. Der spürte ein Gewitter eine Stunde vor den Nachrichten.

Es nützte nichts, ich musste etwas tun. Aus dem Log des Kapitäns wusste ich, dass die Bunker alle voll waren. Blieb nur, die Lebensmittel, Waffen und Munition an Bord zu bringen. Eine Herkules-Aufgabe. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Ich blieb stehen. Tat so, als binde ich mir die Schnürsenkel. Dann langsam weiter. Wieder diese Bewegung oben am Schiff über den Hangartoren. Langsam drehte ich den Kopf und mir rutschte das Herz in die Hose. Ich blickte in die Mündung einer 30 Millimeter Schnellfeuerkanone. Der Delta- Turm. Scheiße. Das System stand auf Automatik. Und wenngleich ich nicht als Ziel zur Bekämpfung hinterlegt war, verfolgte mich das Zielfolgesystem unerbittlich. Verdammte Axt, daran hätte ich denken müssen. Mir war nicht sehr wohl bei dem Gedanken, dass ich ständig vor einer Waffenmündung herumturnte. Aber es ließ sich nicht vermeiden. Auf jeden Fall musste ich mein Bild in die „Freund-Kennung“ verfrachten. Ungeheuerlich. Nicht auszudenken, wenn mal eine Optik dreckig wäre. Hier offenbarte sich der Schwachpunkt des Systems. Und ich musste auf jeden Fall Madame eingeben! Nicht auszudenken, wenn das einzige Wesen nicht mehr da wäre, mit dem ich Kontakt hatte und mich nicht in die Hölle wünschte.

Flugs eilte ich zurück an Bord, nachdem ich das Schott sorgfältig verschlossen hatte. Wenn man erst einmal die Funktionsweise des Abwehrsystems kapiert hatte, war es nicht mehr schwer zu handhaben. Ich suchte, wie zuvor beim Prediger, aus den 48-Stunden Aufzeichnungen ein Bild der großen Katze, und schob es in den entsprechenden Ordner. Mein Blick fiel auf die Wärmebildkamera.

Das sind fantastische Dinge, die da abliefen. Die Fenster des Krankenhauses waren nachts orange-rot, weil die Wärme des Hauses dort ins Freie gelangte. Blau bedeutete: Kalt. Und je roter ein Objekt wurde, desto wärmer war es. Das Krankenhaus sah aus wie ein bunter Käfig. Ich schwenkte die Kamera weiter, und jetzt staunte ich nicht schlecht. Ich sah drei rote Objekte auf dem Monitor!
Einen der Signaturen erkannte ich sofort. Es war Madame, die sich um eine Gruppe Bäume und Gebüsch schlich. Offenbar war sie auf der Jagd, sie war flach wie ein Toastbrot und in Lauerstellung.

Weiter unten in Ufernähe jedoch ein weitaus kleineres Objekt. Auf diese Entfernung sah es aus, wie ein Baby in Fetalhaltung. Seltsam. Ich zoomte heran und erkannte tatsächlich ein Baby. Ein Katzenbaby! Madame war eine Mutter! Ich musste lächeln. Ich freute mich für die Katzenmami.
Als ich den Bildausschnitt wieder verkleinerte, sah ich das dritte Objekt. Es war weit draußen am Rande des Stützpunktes und kauerte hinter dem Zaun, der den Stützpunkt zur See hin abschloss. Ich konnte es nicht wirklich erkennen und vergrößerte den Ausschnitt wieder. Aber es war zu spät, das Lebewesen hatte tatsächlich ein Loch entdeckt, war durchgeschlüpft, glitt ins Wasser und tauchte ab. Damit war es für mich unsichtbar. Verdammt. Ein Seehund vielleicht? Eine Robbe, ein Fischotter oder war es der Prediger? Nun, ein Bad würde ihm guttun.
Dreißig Meter weiter tauchte ein rotes Objekt mitten im Wasser wieder auf. Fast hätte ich es nicht gesehen, weil beim tauchen die Oberflächentemperatur absinkt. Es war kein Tier. Ein menschlicher Kopf. Es war nicht der Prediger. Der trug keine Creolen, das hatte ich deutlich vor Augen. Meinen Augenblick des Jubels, weil es garantiert nicht der Kopf des Predigers war, hielt nicht lange an. Wenn jemand den Stützpunkt entern wollte, und kam nicht wie jeder offizielle Gast an die Vordertür, sondern schlich sich hinten herum herein, führte er etwas im Schilde. Also musste ich das als Invasion einstufen. Und nun? Es wäre sehr einfach, die Wärmebildsignatur in den „Feind“-Ordner zu verschieben. Das System würde die Gefahr innerhalb einer einzigen Sekunde aus der Welt schaffen. Aber durfte ich das? Ohne zu fragen? Ohne zu wissen, wer und warum mich da „besuchen“ wollte? Mein Gewissen würde mich zu Tode quälen. Nein. Außerdem war ich viel zu neugierig. Ich musste wissen, was los war. Also fasste ich einen Entschluss.

Wenige Minuten später verließ ich das Schiff, um mir einen Gabelstapler zu schnappen. An der Versorgungsrampe lud ich zunächst Lebensmittel auf eine Palette, die nicht ins Kühlhaus gehörten. Dosen, Nudeln, Reissäcke und Gewürze, Kaffee, Tee und Kakao, und natürlich EPA. Einmann-Packung. Furchtbatres Zeug, aber im Notfall unentbehrlich. Und was sollte es hier? Ich fuhr den Stapler zum Schiff und begann, die Palette zu entladen. Dabei achtete ich sorgsam auf die Uferböschung. Madame war nicht zu sehen. Das Gras jedoch sehr wohl, denn es war sehr lange nicht gemäht worden. Und auch, wenn die Person, die sich dort anschlich, alle Mühe gab, vorsichtig zu sein, eine Grasnarbe, die sich entgegen der Windrichtung bewegte, war mehr als eindeutig.

Nach dem dritten Gang aufs Schiff spurtete ich in Richtung Bug, schlug einen Haken nach links und rannte, die Gebäude als Deckung nutzend, in einem großen Bogen um den Stützpunkt. So gelangte ich über eine freie Fläche hinter der Trafostation in den Rücken meines Besuchers. Langsam und vorsichtig näherte ich mich dem letzten Punkt, an dem ich die bewegten Grashalme sah.
Plötzlich schoss Madame an mir vorbei. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie ins Gras. Ihr Fell stand vom Körper ab, ihr Schwanz war aufs doppelte verdickt und sie fauchte Gift und Galle.

Ein paar schnelle Schritte, das G36 entsichert.
Vor mir im Gras lag ein Etwas. Es war lang, es war dünn und es war nass und es war dreckig. Es hatte lederne, schwarze Sachen an und es hatte eine Reihe unterschiedlichster Messer am Gürtel und über den Rücken waren gekreuzte Kurzschwerter angebracht, die wie Schmetterlinge aussahen. Das Gesicht dreckig, beinahe wie Tarnschminke, die Haare wild und zerzaust.
Das Schlimmste aber waren die Augen. Abscheu drückten sie aus. Ekel und Widerwillen. Zugleich aber auch Wut und Enttäuschung. Faszinierend, denn hinter dieser Kulisse aus Emotionen stand ein gänzlich anderer Ausdruck. Nämlich Angst. Nur unwillig gestand ich mir diese Zäsur ein. Weil es mir Angst machte. Weil es eine menschliche Regung bedeutete. Weil es mich weich machte. Oder drohte, zu machen. Das galt es, zu verhindern.

„Na du Schlampe, du kommst mir gerade recht…“, eröffnete ich die Ansprache, „hast du gedacht, du kannst mich überraschen? Erst einmal zurück. Zurück, sagte ich! Weg vom Baby!“
Sie kroch rückwärts zwei Meter zurück. Madame fackelte nicht lange, sie trug ihr Kind im Maul wie der Wind davon.
„Jetzt zu dir…“, wandte ich mich der mageren Frau zu.
„Sünder“, warf sie mir entgegen und spuckte vor mir auf den Boden. Jetzt war die Sache glasklar. Ich hob die Mündung des Gewehres.

Mein gestreckter Zeigefinger tastete sich zum Abzug. 30 Patronen im Kaliber 5,56mm warteten darauf, das hasserfüllte Gesicht der Frau in eine breiige Masse zu verwandeln. Und doch hemmte mich etwas.
Es waren die Augen. Und die Logik. Seit langer Zeit traf ich einen Menschen und wollte ihn umbringen? Selbst wenn sie mich gerade überrumpeln und töten wollte, ich hörte ja, wer sie angefixt hatte. Und wenn der verrückte Prediger schon diese Frau für sich gewinnen konnte, hätte er noch mehr auf Lager, als das. Und das musste ich herausfinden. Allein schon wegen Madames Kind.
„Aufstehen. Aber langsam. Mach keinen Blödsinn, hörst du? Ich will dich nicht töten, aber wenn es sein muss, werde ich ein echt schlechtes Gewissen haben. Willst du, dass ich mich schlecht fühle?“
„Du wirst gerichtet werden, Sünder!“
„Hör mit dem Gequatsche auf und werd wach. Der Prediger hat dich unter seinen Fittichen gehabt, oder etwa nicht?“
Sie schwieg und starrte mich nur hasserfüllt an. Was zum Teufel hatte ich ihr getan? Der Prediger ging mir allmählich auf die Nerven.

„Umdrehen“, sagte ich ruhig, „Und jetzt geh. Langsam und vorsichtig. Flucht ist zwecklos, so wie du aussiehst, holt dich jeder Achtjährige ein.“
Ich musste sie klein halten. Außerdem: Sie wollte mich töten, warum also höflich bleiben?

Sie stand auf. Ganz entfernt erinnerte sie mich an Emma Peel, nachdem sie in einen Gulli geplumpst war. Die eng anliegenden Lederklamotten hätten mich bei entsprechender Figur bestimmt irgendwie angemacht, aber jetzt, wo ich hinter ihr herlief, bemerkte ich, dass sie nicht einmal einen Arsch in der Hose hatte. Von den Spaghetti-Beinen einmal abgesehen, zeichneten sich ihre knöchernen Schulterblätter deutlich unterm Leder ab. Die Frau war total unterernährt. Die Frage war, ob das ein Dekret des Predigers war oder das Resultat einer fehlenden Strategie.

„Halt die Hände seitlich vom Körper weg, ich will keine Überraschungen erleben!“
Ich wurde immer leiser. Wer mich kannte, wusste, dass das ein untrügliches Signal war. Je stiller ich wurde, desto ernster wurde es.
Sie ging in einem leichten Bogen zum Schiff, wollte wohl an Bord.
„Halt“, sagte ich und trat einen Schritt näher.
„Schau nach rechts hoch. Siehst du die beiden Hangar-Tore?“
Sie nickte. Hatte wohl beschlossen, mich mit Schweigen zu strafen.
„Darüber ist eine Art Geschützturm, siehst du ihn?“
Wieder nickte sie.
„Mach drei Schritte nach vorn und beobachte den Turm. Und dann denk an Gandalf!“
Sie machte drei zögerliche Schritte und beobachtete, wie der Geschützlauf ihr folgte.
„Gandalf?“, fragte sie, den Kopf zur Seite drehend, um mich zumindest aus den Augenwinkeln sehen zu können.
„Du kannst hier nicht vorbei!“, sagte ich. Es war der letzte Film, den ich im Kino gesehen hatte.

„Der Turm und noch drei andere bekämpfen vollautomatisch alles, was sich nähert und nicht im System als Freund gekennzeichnet ist. Hast du das verstanden? Du kannst dort nicht hinein.“
Ihre Schultern sackten zusammen. Offensichtlich war das wohl der Plan.
„Geh nach links, zum Krankenhaus.“
Ein Militärkrankenhaus sollte einen sicheren Raum haben. Ich wollte sie nicht im Wachgebäude in die Arrestzelle stecken, weil das Wachgebäude zu dicht an der Straße lag und sie den Verrückten vielleicht rufen könnte. Als ich auf der Suche nach Lebensmitteln durch das Lazarett lief, hatte ich ein Fixierbett samt Immobilisierungsgurtsystem gesehen. Das wäre ab sofort ihr neue Heimat. Und zwar bis ich herausgefunden hatte, was der Prediger im Schilde führte.
Nur widerstrebend fügte sich die Frau. Als sie das Gurtsystem erblickt hatte, wurde ihr Körper starr und sie blieb stehen.

„Na los Schätzchen, es gibt keinen Ausweg“, sagte ich so ruhig wie möglich. Aber ich ahnte, was nun kommen würde, deswegen trat ich einen Schritt zurück. Prompt schleuderte sie ihren Körper herum, in der linken Hand ein blitzendes, kleines Messer. Weiß der Teufel, woher sie das hatte. Aber dank meines Schrittes ging der Angriff ins Leere. Sie verlor das Gleichgewicht und mein Gewehrkolben schlug krachend an ihre Schläfe. Licht aus.

Sie war federleicht. Unglaublich, ich schätzte die Frau auf um die 40 Kilo. Mit Klamotten. Die Fixierung war nicht schwer, aber so dürre Körper waren wohl nicht im Sinne des Erfinders. Hände, Füße, Oberschenken und Hüfte wurde festgebunden. Dann trat ich einen Schritt zurück und betrachtete das Werk.
Sie stank. Nicht so schlimm wie der Prediger, aber es war schlimm genug. Ich hätte die Killerbraut auch ausziehen und abschrubben können, aber wozu? Für einen sauberen Tod? Aber diese Mischung aus Schweiß und Dreck war auch nicht gerade heimelig. Irgendwie empfand ich dieses Wesen als Fremdkörper. Sie gehörte hier nicht hin. Sie war die Vorbotin des Verderbens. Und sie hatte eine Schwachstelle entdeckt.

Ich wandte mich ab, schaltete die Lampe auf dem Schreibtisch an und löschte das Neonlicht. Weiß der Teufel, warum ich so nachsichtig war. Eilig verließ ich das Lazarett und suchte die Waffenkammer auf. Handgranaten und ein dünnes Drahtseil aus dem Kompanietrupp-Zimmer sollten reichen. Die Nachmittagssonne strahlte dunkler werdend übers Wasser. Eigentlich ein Anblick des Innehaltens, der Besinnlichkeit und des „Einswerdens“ mit der Natur. Die schwarzen Eierhandgranaten in meinen Händen sprachen jedoch eine andere Sprache.
Das Loch im Zaun war merkwürdig. Kreisrund. Die Enden der Drähte sahen aus, als wären sie geschmolzen. Weder aufgerissen, noch aufgeschnitten oder gehebelt, wie manche Kampfmesser es können. Sorgfältig beobachtete ich die Umgebung. Fatal, wenn mich jemand beobachten würde. Mit dem Rücken zu dem kreisrunden, merkwürdigen Loch grub ich mehrere kleine Löcher in verschiedenen Abständen zum Zaun. Ein paar stabile Äste eingegraben, die Handgranaten dahinter eingeklemmt, die Drähte so an den Zündringen befestigt, dass sie sich leicht lösen ließen. Dann Erde aufschütten und festpressen. Gras und Blattwerk über den „Baustellen“ verteilen. Dann vorsichtig die Drähte in verschiedenen Abständen um das Loch im Zaun drapieren und am Ende am Zaun selbst befestigen. Die Höhe war wichtig. Sieben Zentimeter vom Boden wäre perfekt. Wenn jemand auf den Draht latschte, wurde der Zünder ausgelöst. Wenn jemand in den Draht lief, ebenfalls. Lag der Draht zu tief, konnte er unter einen Stiefel geraten, lag er zu hoch, hob er sich zu stark vom Untergrund ab. Der Schwachpunkt war, dass man die Falle ruck zuck entschärfen konnte. Einer Gefahr zu entkommen bedeutet zunächst, sie zu erkennen. Also musste Plan B her. Hastig lief ich zum Schiff und gab folgende Programmsequenz in die Feuerautomatik der BFZ. „IF Movement @#Sector #14 Size>80=Autofire:No Movement“.

Damit würde bei Bewegungsalarm auf alles gefeuert werden, das höher als 80 cm wäre. Und zwar solange, bis sich nichts mehr bewegt. Alles, was größer als ein Rottweiler war, käme hier nie lebend durch. Madame und ihr Baby waren sicher. Ich atmete auf. Es schien, als wäre ich wieder Herr der Lage. Zeit fürs Abendessen. Als ich in die Kombüse wollte, fiel mir ein, dass ich ja einen Gast hatte. Verdammt.

Grübelnd wandte ich mich, wieder im Lazarett, in Richtung der Küche. Und erst als ich vor dem Kühlhaus stand, wurde mir bewusst, dass ich im Begriff war, der Schlampe etwas zum Essen zuzubereiten. Zuckerbrot und Peitsche? Eher Eier und Gewehrkolben. Dabei wunderte ich mich immer wieder, dass die Stromversorgung noch nicht zusammengebrochen war. Schulterzuckend machte ich mich ans Werk. Roastbeef statt Rosinenbrot. Ich riss eine vakuumverpackte Kunststofftüte auf. Die ersten sieben cm, die ich abschnitt, legte ich auf einen Teller. Dann dachte ich, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, eine weitere Portion zu spendieren. Immerhin musste Madame für Zwei fressen. Dann brachte ich den Teller vor die Tür. Ich pfiff kurz durch die Zähne. Bildete mir ein, Madame wüsste, dass ich etwas Feines hier hätte. Und tatsächlich, es raschelte im Unterholz und die große Katze kam zu mir. Es schien immer noch, als sähe sie mich argwöhnisch an. Aber vielleicht fragte sie sich auch nur, wo das stinkende Weibchen geblieben war. Nach ein paar Augenblicken des Zögerns und Witterns hatte sie wohl beschlossen, dass von mir keine Gefahr ausging. Sie näherte sich mit eingezogenem Nacken und nach hinten gelegten Ohren. Noch nie hatte ich so ein schönes Tier gesehen, das so wild und doch so gelehrig war. Vorsichtig biss sie in das erste Roastbeef und trug es eilig weg. Ich war sicher, dass sie das andere gleich holen würde. Zeit für mich zu sorgen. Für uns.

Knapp eine Stunde später betrat ich das Krankenzimmer. Sie lag so da, wie ich sie verlassen hatte. Augen geschlossen und immer noch eine Glocke üblen Geruches um sich. Aber etwas stimmte nicht. Ihr Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell für eine Schlafende. Und ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
„Du kannst damit aufhören. Ich weiß, dass du wach bist“.
Sie öffnete die Augen. Hass, Abscheu und Angst standen in ihren Blicken.
„Du bist so gut wie tot, Sünder!“, fauchte sie mich an.

„Für eine, die fixiert ist und wie ein Pissoir stinkt, sind das gewaltige Worte“, grunzte ich und hatte gute Lust, das Tablett mit den Köstlichkeiten selbst zu essen. Eigentlich musste sie es riechen, das frische Sahnegemüse, das Roastbeef und das frische Brot. Ich hatte es abgedeckt mit einem Tuch. Ich trat ans Bett und legte das Tablett ab. Das Besteck klapperte und die Frau krümmte sich in den Fixierungen zusammen. Sie war unter der Dreckschicht wachsweiß geworden. Was dachte sie, ist unter dem Tuch? Folterwerkzeug? Ich grinste breit.
„Du wirst mir deinen Namen sagen. Du wirst mir erzählen, was der Prediger im Schilde führt. Du kannst dich wehren, zappeln, zetern, schreien, mich verfluchen und mir androhen, was immer du willst. Aber du wirst es mir sagen. Es mag sein, dass du dein Herz dem Prediger geschenkt hast, aber hier und jetzt gehört dein Arsch mir!“


Kapitel 6b „Dämonen“



Das erste was ich spüre, als ich wieder zu mir komme, ist der unglaubliche Schmerz in meinem Schädel - bohrend und pochend zugleich.
Der Gewehrkolben, den der elende Sünder gegen meine Schläfe geschlagen hat – ich erinnere mich.
Meine Gesichtsmuskeln zucken und ich spüre getrocknetes Blut an meiner Wange. Vorsichtig versuche ich, mich zu bewegen, doch zwecklos, ich bin mit meinen Hand- und Fußgelenken auf der Liege fixiert.
Blendend und schmerzhaft hell fällt grelles Licht von oben durch meine noch geschlossenen Lider und verstärkt den heftigen Schmerz noch. Elend ist mir, hilflos und gefangen genommen von meinem schlimmsten Feind bin ich, in die Falle getappt - wie eine Anfängerin!
Verzweifelt und zugleich wütend auf mich selbst, zerre ich wild an meinen Fesseln.

Ich muss nachdenken, wie ich hier herauskomme. Schließlich habe ich eine Mission zu erfüllen, die unbedingt erfolgreich sein muss – um jeden Preis.
Gott vergibt, der Prediger nicht!
Er verzeiht weder Fehler noch Schwächen. Das wichtigste für ihn ist der Erfolg seiner Sache! Das Training und die Schulungen, die meine Mitstreiter und ich durchlaufen haben, waren militärisch hart gewesen. Einige aus der Gruppe waren daran gescheitert – der Prediger hat sie bereits als Vorhut unserer gerechten Sache auf ihren blutigen Weg zum Herrn geschickt. Wir Übrigen mussten dabei zusehen - als Warnung, um uns der Konsequenzen eines etwaigen Misserfolgs gewahr zu werden.

Mein Magen knurrt erbärmlich, der Prediger verlangt vor einer Mission von uns ein mehrtägiges Fasten, um den Geist zu stärken.
Meine Lederkleidung ist durchnässt und ich zittere vor Kälte.

Verdammte Katze! Durch ihr Fauchen ist er erst auf mich aufmerksam geworden. Doch dieses kleine haarige Etwas, das mich mit großen glänzenden Augen so herzerweichend angeblickt hat, hat mir ein vergessenes Gefühl zurückgebracht – Mitleid.
Der Prediger hat versucht, es in tagelangen und schier endlosen Sitzungen aus meinem Kopf und Herzen zu vertreiben. Bis dato war er damit erfolgreich gewesen.

Diese Raubkatze ist eine bessere Mutter als ich, hämmere ich mir selbst ein, denn diese hat ihr Kind besser beschützt und auch gerettet. Ich habe als Mutter versagt, denn meine Kinder sind vor mir und unter furchtbaren Qualen gestorben.
Nichts, was ich versucht habe, hat geholfen.
Ich habe sie nicht retten können.
Angefleht habe ich den Herrn, mich doch auch zu sich zu holen, doch der Allmächtige verschmäht mich bislang.
Bilder aus glücklichen Tagen steigen als zusätzliche Qual vor meinem inneren Auge auf – ein gemütliches Sonntagsfrühstück mit dem voller Stolz präsentierten selbstgebackenen Rosinenbrot meiner Tochter, ausgeblasene Geburtstagskerzen auf einer Torte, Kinderlachen…
Alles ist wieder da - Trauer, das Leid und alle Selbstvorwürfe, die ich für eine Weile verdrängt habe.
Diese Zäsur ist derart schmerzhaft, dass es mir wie ein Stich mit stumpfer Messerklinge in mein Herz vorkommt.

Dann die Erinnerung an ihre kleinen toten Körper. Leicht, fast schwerelos waren sie gewesen – diese Szene steht mir so klar vor Augen als sei sie erst gestern gewesen.
Es war keiner mehr da, der meine Kinder hätte beerdigen können. So hatte ich sie einzeln auf meinen Armen in den Hof getragen und einen Scheiterhaufen errichtet.
Danach saß ich wie zu Eis erstarrt vor der noch glimmenden Asche.
Innerlich tot, vollkommen leer und nur noch mit dem einen Wunsch beseelt – ebenfalls zu sterben.
So hatte der Prediger mich vorgefunden. Er hatte die Totengebete für meine Kinder gesprochen, redete danach von einer neuen Weltordnung, die er erschaffen wolle, von Mitstreitern, die er suche und von den Sünden der Menschheit, die durch strenge Buße und unbarmherziges Läutern getilgt werden müssten.
Er hatte mich gesegnet und mich als Erste in seinen Unterschlupf mitgenommen.
Mit mir begann er sein Werk.

Du wirst meine Hand sein, die das Schwert gegen die Sünder führt. Du wirst meine Gerechtigkeit und meine Botschaft in die Welt tragen! Du wirst meine Lösung für diesen Fluch sein! waren seine Worte gewesen, die mein Leben in eine andere Bahn lenkten.

Schritte – ich hörte schwere Schritte auf dem Gang vor dem Zimmer, die mich aus meiner Erinnerung reißen. Ich spanne meinen Körper an, der Sünder kommt.
Wird er mich nun töten oder schlimmer noch - foltern?
Ich beschließe, mich zunächst noch bewusstlos zu stellen um mehr Zeit zu gewinnen.

Ich fühle seinen lauernden Blick auf mir, höre wie er etwas klirrend abstellt. Was hat er mit mir vor? Es kann nur etwas furchtbares sein, der Prediger hat mich vorgewarnt.
Dieser Sünder sei schlimmer als alle, die ich bereits erfolgreich geläutert habe. Er sei ein Dämon in menschlicher Gestalt und er würde mich im Falle einer Gefangennahme schrecklich quälen. Er hat mir eingeschärft, nichts zu verraten.

„Du kannst damit aufhören. Ich weiß, dass du wach bist“.

Verdammt, er hat mich durchschaut! Diesem Helfer Satans kann man nichts vormachen! Wut und indoktrinierter Hass flutet und erwärmt mich.
Ich öffne die Augen. Abscheu und eine Restangst stehen in meinen Blicken. Er antwortet verletzend und mit ebensolcher Abscheu auf meine verächtliche Reaktion.
Er verlangt meinen Namen zu erfahren! Wozu soll das gut sein?
Außerdem – welchen Namen meint er denn?
Meinen ursprünglichen Namen, den mir meine Eltern gaben oder den Namen, den der Prediger mir nach Abschluss des Drills in einer Art Taufzeremonie verliehen hat?

Hasserfüllt starre ich ihn an und mein Blick fällt auf das abgedeckte Tablett. Folterwerkzeuge – unter dem Handtuch müssen welche sein - Messer, Spritzen, Wahrheitsserum? Obwohl darauf vom Prediger vorbereitet, habe ich schreckliche Angst. Nicht vor dem Tod, sondern vor dem langen peinvollen Weg dorthin.

„Deinen Namen – na los, ich warte!“ sein Ton ist schneidend.

Ich sammele meine letzte Spucke im Mund und speie ihm verächtlich vor die Füße, gleichzeitig verrät mich mein laut knurrender Magen an den Feind.

„Ich kann warten“, meinte er lapidar und dann „ wenn du ihn mir verrätst, bekommst du etwas zu essen – gutes Happahappa!“ lockt er.

„Eher verhungere ich, als mit dir zu reden!“ ätze ich ihm entgegen.

„Süße, du hast doch gerade mit mir gesprochen!“ meint er süffisant.

Mistkerl!
Mein Körper schreit mit jeder Faser nach Nahrung, doch mein Wille muss fest bleiben! Er nimmt das Tuch ab und ich sehe wahre Köstlichkeiten auf dem Tablett.
Keine Folterwerkzeuge, nur wundervolles leckeres Essen.
Ich erinnere mich nicht, wann ich das letzte Mal so ein Festmahl genossen habe.
Das Wasser läuft in meinem Mund zusammen, und es erscheint mir als ob kleine Schmetterlinge in Vorfreude auf Speis und Trank in meinem Magen herumflatterten.
Hart bleiben – Nein! beschwört und ermahnt mein Geist das elende schwache Fleisch. Der Prediger hat Recht! Dieses sündige gierige Fleisch ist unser aller Schwachpunkt und Verderben.

„Ich kann dich auch in einen Käfig sperren und dich mit einem Dankesbriefchen für deine Hilfe an den Prediger zurückschicken!“ droht der Sünder nun.

Oh Gott im Himmel, dann würde ER glauben, ich hätte ihn und seine Sache verraten. Er würde mich grausam hinrichten! Ich spüre, wie das Blut aus meinen oberen Hautschichten weicht. Das ist die Wahl zwischen Pest oder Cholera!

Verzweifelt bin ich! Mein Auftrag, meine Mission, ich kann und darf doch nun nicht aufgeben! Vielleicht sollte ich so tun, als würde ich mitspielen, um Zeit und vielleicht sogar sein Vertrauen zu gewinnen?
Dann könnte ich vielleicht doch noch diese Mission erfolgreich beenden.

„Deinen Namen – jetzt – frank und frei!“ befielt er.

„Ich bin die erste Vollstreckerin von Gottes Armee!“ erwidere ich tonlos.

„Die erste? Das heißt, es gibt noch andere?“ bohrt er interessiert nach, "wie viele hat der verrückte Kerl um sich geschart? Sag es mir!“

„Ich bin die erste Vollstreckerin von Gottes Armee!“ wiederholte ich stur während mir der himmlische Essensgeruch in die Nase steigt.
Tantalusqualen – der Prediger hat Recht gehabt, er foltert mich mit diesen Gerüchen!

Der seltsame Dämon blickt mich nun aus tiefblauen Augen an. In ihnen steht kein Hass, eher Güte und Mitleid, auch so etwas wie Bewunderung?
Seit wann haben die Kreaturen Luzifers Gefühle?
Hat sich der Prediger womöglich geirrt?
Ist das hier nur ein Mensch, der – wie ich – überlebt hat?
Ich will den Gedanken nicht zulassen und zu Ende denken!
Er MUSSS ein Dämon sein so wie alle anderen!

„Du bist stur, verdammt stur, aber auch tapfer, Emma Peel – ja wirklich! Du scheinst eine Kriegerin zu sein und ich weiß selbst nur zu gut, was das bedeutet.
Du würdest also lieber verhungern als etwas preiszugeben?“ sein Kopf liegt fragend etwas in der Schräge.
Das gibt diesem Teufel etwas verflucht Sympathisches.

„Närrin!“ höre ich des Predigers Stimme in meinem Kopf hallen, „er lullt dich ein, fall ja nicht auf ihn herein!“

Störrisch nickte ich, aber Vehemenz sieht anders aus, ich merke es selbst. Verdammter schwacher Leib!
Er nimmt ein feuchtes Tuch, setzt sich an meine Seite und wischt damit sachte das getrocknete Blut auf meinem Gesicht fort.

„Du könntest auch eine heiße Dusche und trockene Kleidung vertragen!“ stellt er fast beiläufig fest.

Seine ausstrahlende Körperwärme ist so wohltuend an meinem frierenden Körper. Seit wann strahlen Dämonen Wärme aus? Der Stahlring um mein vereistes Herz bekommt einen weiteren Riss.

„Doch ich bin überzeugt, du würdest lieber erstinken und erfrieren als das zuzugeben?“ seine Stimme ist mit einem Mal so sanft.
Er spricht mit mir wie mit einem kleinen Kind. Geduldig und warmherzig.
Wieder nickte ich widerborstig, doch noch etwas schwächer als zuvor. Eine heiße Dusche, Seife und saubere Kleidung, dazu ein voller Magen – das kommt für mich nahe an das Paradies heran.

„Sag mir deinen Namen – bitte“, flüstert er nun, „ich verrate das auch niemanden. Lass mich dich zivilisiert ansprechen. Meine Wenigkeit heißt Thomas."
Er lächelt mich fast entwaffnend an.

„Welchen Namen willst du hören?“ hauche ich.
Geschwächt von Hunger, Durst und schrecklicher Müdigkeit bin ich und es ist so schrecklich kalt. Dieses Wesen scheint mir nicht durch und durch schlecht zu sein. Meine Abwehr, ihm meinen Namen zu nennen befindet sich in Auflösung.

„Du hast mehrere?“ erstaunt zieht er seine Augenbraue nach oben.

„Ja, einen aus dem alten und einen aus dem neuen Leben.“ antworte ich leise.

„Beide, ich möchte beide wissen.“

„Vor der Apokalypse hieß ich Claudia, nach meiner Berufung zur Vollstreckerin taufte mich der Prediger auf den Namen Judith, nach der Gerechten aus dem alten Testament, die mutig zu Holofernes ging und ihn im Schlaf enthauptete, um ihr Volk zu retten.“

Meine Stimme bricht und mein Bewusstsein schwindet.


Kapitel 7: Katzen


Zwei Namen? Ich schüttelte den Kopf. Da passte nicht in mein Weltbild. Früher gab man sich im Internet Nicknames, das war Gang und Gäbe. Das verhalf zur Anonymität und man konnte sich auch als kleiner, hutzeliger, magersüchtiger Vertreter einer asozialen Rednerliste der antialkoholischen Magermilchbewunderer den Namen Herkules oder Colossus geben. Aber Judith war bewusst ausgesucht worden. Es zeigte mir nicht nur die Methodik des Predigers, sondern auch, dass er nicht so harmlos und spinnert war, wie ich dachte. Menschen, die aus Angst und Verzweiflung zu Gott beten und Linderung erflehen, sind eine Sache. Leute, die den Glauben missbrauchen, um letztendlich doch sich selbst nützen und Macht erlangen wollen, eine gänzlich andere.

Das Ganze bekam zusätzlich eine pikante Note. Claudia sackte einfach weg, nachdem sie ihre Namen verraten hatte. Und das war kein Angstreflex oder ein Schwächeanfall. Das war eine geistige Konditionierung. Systeme abschalten bei Fehlfunktion. Emergency shutdown. Gibt es auch bei den neuen Geschützen. Es soll verhindern, dass Folgeschäden auftreten. Wie immer gab es mehrere Möglichkeiten. Die Richtige, die Falsche, die Übliche und Meine. Die Richtige wäre, sie zurück zu konditionieren. Quasi Freiheit für den Geist mit vollkommen freier Entscheidungshoheit, wenn der Zustand erlangt ist. Die Falsche wäre, sie zu inhaftieren. Sie würde Widerstand leisten, wo immer sie konnte, würde versuchen, ihren Auftrag auszuführen und wo sie konnte, mein Leben sabotieren. Die Übliche Methode wäre, es kurz und schmerzlos zu beenden. Jetzt, im Zustand des „shutdown“, wäre es sogar Gnadenvoll, weil sie nichts davon merken würde. Dagegen sprachen allerdings zwei Argumente. Erstens wäre meine einzige Informationsquelle weg und zweitens hätte der Prediger einen Grund mehr, seine Leute gegen mich aufzubringen. Was ich dem Spinner nur getan hatte? War ich nicht eindringlich genug? Hatte ich ihm nicht mehrfach, wider besseres Wissen, angeboten, mit mir zu kommen? Hatte nicht er es in der Hand?

„Idiot!“, schimpfte ich laut.
Ich sah mir die Frau genauer an. Sie sah friedlich aus, so entspannt und erschlafft. Jetzt entdeckte ich auch, woher sie das kleine Messer hatte! An ihrer Gürtelschnalle waren links und rechts Faustmesser versteckt. Eines fehlte bereits und das andere entfernte ich sofort. So ein Biest. Wer weiß, was sie sonst noch bei sich trug? Ich würde sie auf jeden Fall untersuchen müssen. Aber sie stank erbärmlich.

Tief atmete ich durch. Es wäre ein leichtes, sie kurzerhand unter eine „Heiliger Geist“- Dusche (*1) zu stellen. Aber auch davor schreckte ich zurück. Sie war konditioniert, aber nicht Entrechtet. Sie war ein Mensch. Fehlgeleitet, geschickt, vor einen Karren gespannt. Weiß der Teufel, was die Frau für eine Vergangenheit hatte. Doch viel schlimmer wäre es, wenn sie eine Freiwillige wäre. Mit Extremisten hatte ich so meine Probleme. Vielleicht wäre es eine gute Idee, sie mit Respekt aber doch größter Vorsicht zu behandeln.

Mein Blick blieb an ihrer Schläfe haften. Eine mächtige Beule hatte ich ihr da zugefügt. Das Hämatom war dunkelblau angelaufen. Aus einer der zahlreichen Schubladen nahm ich Mull und Desinfektionsspray. Vielleicht hilft die Kühlende Wirkung beim abschwellen. Ein wenig Voltaren draufgeschmiert. Nicht schön, aber hoffentlich hilfreich. Ich hatte es wohl übertrieben. Aus einem Impuls heraus nahm ich ein weiteres Stück Mull, befeuchtete es und nahm einen Tropfen Seife aus dem Spender hinzu, der über dem Waschbecken angebracht war. “Ostsee-Brise” stand auf dem Spender. Toller Witz an der Nordsee. Sorgfältig reinigte ich ihr Gesicht. Und sieh an, da waren ja tatsächlich weibliche Konturen zu erkennen. Vor ihrer Transformation war sie bestimmt eine hübsche Frau.

Es ging los. Sie kam wieder zu sich. Ich erkannte ihre Verwirrung, die Desorientierung, als sie versuchte, ihr Milieu zu sondieren. Sie sah sehr hilfsbedürftig aus und ganz und gar nicht garstig und bockig. Dann aber kam die Konditionierung durch und ihr Blick und das Gesicht verwandelten sich in die altbekannte, angewiderte Fratze, die sie so unsympathisch machte. Es schreckte mich total ab und ich bemerkte, wie ich innerlich starr und hart wurde. Der Tanz begann.
„Hunger?“, fragte ich knapp. Sie nickte stumm. Als ich das Besteck zur Hand nahm, zuckte sie zusammen. Was, verdammt, hatte die erlebt?
Der erste, mittlerweile erkaltende Bissen Roastbeef wurde argwöhnisch beäugt, als ob ich sie vergiften wollte. Fast widerwillig öffnete sie den Mund.
Es war amüsant zu sehen, wie der Widerspruch offenbar wurde. Einerseits war sie total unterernährt und würde am liebsten den ganzen Teller am Stück verputzen, andererseits hasste sie mich. Irgendwie war ich für sie und zwangsläufig den Prediger der Teufel in Menschengestalt. Sie schloss einen Moment lang ihre rehbraunen Augen. Genießerisches Innehalten. Bissen auf Bissen verschwand in der Frau, doch ich war mir nicht klar, ob sie mir vorspielte, sich zu sozialisieren, um Kraft für den nächsten Angriff zu sammeln, oder ob sie tatsächlich darüber nachdachte, ob ich harmlos sei.

„Ich möchte selbst essen!“, eröffnete sie mir bestimmt.
„Nein, ich kann dir nicht trauen.“
„Dann möchte ich nichts mehr essen“, kam es trotzig zurück.
„Schau mal, wie du aussiehst. Wenn ich dich hier rauswerfe bist du ohnehin bald an Unterernährung gestorben und ein Fressen für die Geier. Und erzähl mir nicht, dass du keinen Hunger hast. Und erzähl mir nicht, dass du dich wohlfühlst in deiner Dunstglocke. Meine Güte, bei dem Gestank fallen die Fliegen tot von den Wänden.“
Ihr Blick schien sich zu verdunkeln, ihr Hass sich zu verstärken. Ich lachte sie an.
„Dein zweites Gürtelmesser habe ich entfernt. Trägst du noch mehr Mordwerkzeuge mit dir rum?“
„Nein“
„Ich glaube kein Wort“
„Dann sieh doch nach!“
„Das mache ich auch. Ich habe nur Angst, dass ich eine Gasmaske brauche, wenn ich nachsehe. Sehe ich das also richtig, dass du fertig und satt bist?”
Ihr Blick veränderte sich. Hass wich Taxierung. Ekel wurde zum Lauern. Sie hatte garantiert noch eine Waffe in Petto. Ich musste wachsam bleiben.
“Nein. Aber ich will nicht gefüttert werden wie ein zweijähriges Kind!”
“Eines wollen wir doch festhalten, Stinketante. Du hast hier rein gar nichts zu wollen. Du kommst her, schleichst dich auf den Stützpunkt, starrend vor Waffen, erschreckst meine Katze, willst mich umbringen, bist selbst dazu zu doof und willst noch etwas? Ernsthaft?”
“Deine Katze ist längst weg.”
“Bestimmt nicht.”
“Bestimmt doch, oder hast du das Loch im Zaun geflickt?”
“So ähnlich”, grinste ich, “da kommt keiner durch, ohne irgendwo draufzutreten. Und dann heißt es: Adios Muchachos.”
“Ach, du Superheld, und was ist, wenn einer raus will? Oder etwas?”
Verdammt. Ich war zu blöde. Wenn Madame oder ihr tapsiges Junges auf die Drähte… die Sorge um das einzige Lebewesen, das mir nicht an die Kehle wollte, schnürte mir den Hals zu. Hastig überprüfte ich den Sitz der Gurte und wandte mich zur Tür.

“Hey! Wo willst du hin?”
“Weg”, antwortete ich lakonisch. Jedoch war ich mir sicher, dass sie sowohl meine Sorge, als auch einen Schwachpunkt in meiner Mauer ausgemacht hatte. Ich hätte sie gleich umbringen sollen.
“Bleib hier du Schwein, ich muss pinkeln!”, rief sie mir nach.
“Ziehs hoch und spucks aus. Oder mach dir ins Hemd, so wie du stinkst, fällt das sowieso nicht mehr auf!”
Dann verharrte ich. Drehte mich um und ging langsam zurück. Trat an ihr Bett und sah sie an.
“Du hast wahrscheinlich gerade Madame gerettet.”
“Das Vieh heißt Madame?”
“Die Einzige Madame, die auf der beschissenen Welt diesen Titel verdient.”, spie ich ihr verächtlich entgegen, “Dafür, dass du mich gewarnt hast, bekommst du nachher eine Belohnung. Du wirst duschen, du darfst aufs Klo. Und wer weiß, vielleicht fällt mir noch etwas ein.”

Dann verließ ich den Raum endgültig. Aus den Lagern der Nachschubkompanie holte ich eine Rolle Stacheldraht, Pflöcke, dicke Lederhandschuhe, einen Seitenschneider und einen schweren Hammer. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen war. Atemlos erreichte ich das Loch im Zaun. Die Drähte für die Handgranaten waren schnell durchgeknipst, die Granaten wanderten in die Beintaschen.

Tief schlug ich die Pflöcke ins Erdreich und befestigte den Stacheldraht daran.
Als ich fertig war, plumpste ich total verschwitzt ins Gras. Als mein Atem wieder ruhiger wurde, stand ich auf und begab mich ruhigen Schrittes in Richtung Lazarett. Rechts von mir hörte ich das leise Sirren der Richthydraulik. Es ist schon ein komisches Gefühl, von einem Kanonenrohr verfolgt zu werden. Aber dennoch musste es irgendwie sein. Gedanken machte ich mir jetzt über das Wasser. Judith hatte es auch ohne Seepferdchen geschafft, die Zäune zu umschwimmen. Das schafften auch andere, so schwer war das nicht. Es bedeutete, dass ich taktische Maßnahmen ergreifen musste. Letztendlich konnte man von See her auf das Gelände gelangen. Hielt man sich flach am Boden, wäre das Mantis-System ausgeschaltet. Man konnte sicherlich auf das Schiff gelangen und das war die Gefahr. Ob man bei ABC-Verschluss durch elektrisch gesicherte Schotten konnte, wenn man den sechsstelligen Code nicht kannte, war eine andere Sache. Aber jeder, der es an Bord schaffte ohne mein Einverständnis erlangt zu haben, war einer zuviel. Und ich wollte nicht bis zum Frühling warten, hier weg zu kommen. Das Problem war, dass man ein so großes Schiff nicht allein fahren konnte. Man brauchte mindestens einen Kapitän oder Entscheidungsträger, einen Smutje für die Verpflegung, einen Navigator, der uns sagte, wohin wir steuerten, einen Rudergänger, der das ausführte, einen Radarmann, der Hindernisse erkennen und etwaige Gegner ausmachen sollte, einen Maschinisten für Ersatzteilbeschaffung und Reparatur der Bordsysteme und einen Waffensystemtechniker für die Abwehr. Allein die Operationszentrale brauchte 7 Mann. Das Ganze mal 3, wenn man einen effizienten Dreischichtbetrieb erhalten wollte. Das waren Minimum 25 Leute. Schön wäre ein Arzt, ein Beikoch, Maschinenpersonal, Hubschrauberbesatzung und allgemeines Personal bis hin zur Wäscherei. Aber hier war keine Wunschzeit. Alles, wofür die Menschheit je gestanden hatte, war vorüber. Ob es nun rassistische Auseinandersetzungen waren, Politik, humane Hilfe oder ganz profane Dinge wie Mardi Gras, Spring Break oder Oktoberfest, alles war auf Anfang. Und dieses Stück wurde gespielt von mir, einer Furie, einem verstrahlten Prediger und zwei Katzen. Wäre das ein Zug, würde ich jetzt gern umsteigen. In eine strahlende, einfache und glückliche Zukunft.

Ich schüttelte den Kopf. Warum wollte ich eigentlich an Bord des Schiffes? Um Kommunikation herzustellen! Ich Idiot! Warum hatte ich das noch nicht getan? Breitbandfunk war seit 2006 im Rahmen der Streitkräftegemeinsamen taktischen Feuerunterstützung immer auf denselben Frequenzen vorhanden. Die Frage war, ob die Satelliten noch intakt waren. Aber ich war zuversichtlich, denn immerhin hatte der Stützpunkt noch Strom. Warum also sollten die Satelliten nicht funktionieren?


Kurz bevor ich so grübelnd durch den Eingang des Lazarettes eilen und mein Versprechen wahr machen wollte, drehte ich mich um und marschierte zur Standortverwaltung. Dort lagerten jede Menge Klamotten. Versprochen war versprochen. Diese Tür war allerdings verschlossen. Die Zivilisten hier hatten es wohl gut gemeint, aber ich musste das Schloss aufschießen.
Eine Salve aus dem G36 löste das Problem. Ich konnte es nicht fassen, wie laut das Gewehr war. Ein paar Sekunden lang war ich taub. Dann piepten meine Ohren, dass es schmerzte. Wenn ich irgendwann einmal einen überlebenden Filmemacher finde, der den Leuten weismacht, dass man beim abfeuern einer Waffe innerhalb eines Gebäudes keinen Hörsturz davon tragen würde, würde ich ihn hemmungslos verprügeln. So aber brauchte ich ein paar Minuten, bis ich wieder klar denken konnte. Aber ich wurde entschädigt. Ich wurde fündig, und wie.

Ich schätzte die Frau auf 1,70 m und knapp über 40 Kilo. Größe 36 sollte passen. Schuhe waren immer das Problem. Sie hatte typisch frauliche, kleine Füße. Also auf keinen Fall mehr als 37 0der 38. Falls es nicht passt, könnte man ja wechseln. War ja genug da.
Ich packte alles in einen Seesack und machte mich auf den Weg ins Lazarett. Mit meiner Beute trat ich ins Freie und stockte. Ich sah über das Gelände. Es war alles wie sonst. Oder doch nicht? Etwas stimmte nicht, etwas war anders. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht; ich konnte es nur nicht greifen. Ein Puzzleteil im Bild fehlte. Ein diffuses Gefühl der Gefahr ergriff Besitz von mir. Wenn ich nur wüsste, was…

Grübeln half nicht, ich musste weiter. Ich war zwar schon ein paar Tage lang wach, aber der Anblick der vielen Leichen rings um mich herum war immer noch erdrückend. Ein Obermaat, zwei Schwestern, die sich umklammerten, als ob sie im Liebestanz wären, ein Zivilist mit dem Gesicht am Boden. Und überall das getrocknete dunkelrote Blut aus den Körpern der Opfer. Ein Soldat, der auf dem Bauch lag. Seinen linken Oberarm zierte eine weiße Binde mit der Aufschrift “Feldjäger”. Die deutsche Version der Militärpolizei. An seinem Gürtel entdeckte ich interessante Sachen. Ein Etui mit Handschellen und ein Bündel Kabelbinder. Beides nahm ich an mich. Der MP brauchte es sicherlich nicht mehr.

Eine weitere Idee kam mir beim Laufen und ich beschloss, sie direkt in die Tat umzusetzen. Wenngleich ich mich einen Narren nannte, weil meine Gedanken viel zu viel um diese Frau kreisten. Dieses dürre, dreckige Ding. In den Spinden des weiblichen Krankenpersonales fand ich noch viele Dinge, die eine Frau so benötigte, als die Welt noch zivilisiert war. Ich fand Deo-Roller, Puderdosen, Mascara, Lippenstifte, Haarfärbemittel, Binden und Tampons und erstaunlicherweise Kondome. Letztere ließ ich liegen.

Ich suchte direkt neben den Umkleidekabinen des Personales einen Duschraum, breitete die Sachen aus, überprüfte, ob die Fenster gut verschlossen waren und verriegelte die Nebentüren. Zufrieden machte ich mich auf den Weg, meine Gefangene in einen Menschen zu verwandeln. Ein sanftes Lächeln zog über meine Gedanken. Vielleicht würde sie sehen, dass es hier gar nicht so schlecht und ich nicht der Teufel war? Immerhin wären wir so etwas wie Adam und Eva. Ich schüttelte mich. Nein, das ging zu weit.

Als ich durch die Tür treten wollte, sprangen sofort alle meine Sinne an. Das Bett war leer. Ich war eine Sekunde lang in Schockstarre, und das reichte. Ein großer, roter Feuerlöscher kam aus dem Nichts und traf mich mitten auf die Brust. Pfeifend entwich der Atem aus meinen Lungen und ich taumelte rückwärts. Verdammtes Biest. Claudia sprang hinter der Tür hervor, nahm Maß und sprang mich wie eine Katze an. Mord funkelte in ihren Augen. Kein Zweifel, sie wollte mich töten. Auf gar keinen Fall hätte ich ihr soviel Kraft und Eleganz zugetraut. Sie bewegte sich wie ein Schatten. Flog auf mich zu mit geballten Fäusten. Unglaublich.

Jeden normalen Kerl hätte sie zweifellos ausgeknockt. Und ich war heilfroh, dass ich eine so gute Ausbildung genossen hatte. Auch vor dem Militär schon. Der erste Schritt, einer Gefahr zu entrinnen ist, sie zu erkennen. Und ich wusste, was sie vorhatte. Sie wollte mich mit Wucht an die Wand rammen. Mit ein wenig Glück würde ich mir den Kopf stoßen, einen Moment lang benommen sein und sie könnte den Sack zumachen. So aber blieb nur noch, instinktiv zu verhindern, dass sie ihren Plan erfüllte. Ansatzlos hob ich mein rechtes Bein und traf sie im Flug mitten in den Magen. Sie schien in der Luft stehen zu bleiben. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich von dieser irren Wut in Erstaunen. Und doch fiel ich rückwärts auf den Hintern von der Wucht ihres Angriffes. Jedoch war ich schneller auf den Beinen als sie. Claudia lag japsend auf dem Boden und kotzte das Roastbeef aus. Ohne zu zögern drehte ich ihr den Arm auf den Rücken und stieß sie zurück in den Raum.

“Du blöde Kuh”, stieß ich hervor, “jetzt stinke ich genau wie du, da ist ja eklig! Ist das der Dank?”
“Der Prediger sagt, Gott wird seinen Kindern das Lamm schenken. Er sagt, Gott wird den Rechtschaffenen die Welt zu Füßen legen. Er sagt, das geht nur, wenn die Sünde stirbt!”, dabei spuckte sie wieder auf den Boden, “und das bedeutet, dass du sterben musst, Sünder, denn du bist die Pest, du bist der Tod, du bist die Sünde, du bist die Passage ins Himmelreich für die anständigen Menschen!”
“Was du nicht sagst”, stöhnte ich und hielt mir den Brustkorb, “und steht nicht in den 10 Geboten, dass man nicht töten soll?”
“Das steht da, Sünder, das steht da, ja. Aber du bist der Tod, du bist der Zerstörer der Welten. Und den zu töten, ist das kleinere Übel und die Pflicht der Rechtschaffenden!”
“Aber damit wirst auch du zum Sünder! Idiotin, merkst du nichts?”
Ich konnte nicht weiterreden. Mir blieb die Luft weg. Sie hatte mich schwerer getroffen, als ich zu zeigen bereit war. Mein Brustkorb brannte wie Feuer und ich hatte Mühe, zu atmen. Dumme Nuss.

“Ausziehen”
“Was?” Ungläubiges Erstaunen.
“Rede ich spanisch? Runter mit den Klamotten aber dalli!”
“Nicht im Traum”
Das Gewehr ruckte in meinen Händen, als die Garbe halbkreisförmig über ihr in die Decke schlug. Putz, Gips und Farbe regneten zu Boden. Messinghülsen tanzten zu einer klingelnden Melodie. Und ich hatte endgültig die Geduld verloren.
“Du kannst mir glauben, hier ist Schluss. Ende. Kannst es dir aussuchen. Ducken oder bluten, was willst du?”

Sie fixierte mich. Ihr Blick hatte einen beinahe hypnotischen Ausdruck angenommen und ich fragte mich ernsthaft, ob mein Plan nicht völlig sinnlos wäre. Die Konditionierung des Predigers hatte schon vor Monaten begonnen. Das war wohl eine Schlacht, die ich nicht gewinnen konnte. Eine Sekunde lang war ich bereit, abzudrücken. Ich war nicht imstande, alle Kastanien aus dem Feuer zu holen. Doch sie schien das zu spüren. Langsam, mich nicht aus den Augen lassend, öffnete sie den Reißverschluss der Lederjacke, zog sie aus und schleuderte sie mir vor die Füße. Es folgte das ehemals weiße T-Shirt. Jetzt starrte es vor Dreck und Schweiß. Auch darunter nichts als Schmutz. Und sie war magerer, als ich angenommen hatte. Deutlich waren ihre Rippen zu erkennen. Erstaunlich, wie viel Kraft in diesem schmächtigen Körper wohnte.
Sie drehte sich um, als sie begann, die Hose zu öffnen. Jetzt sah ich ihren Rücken. Mein Gott...

(*1) Als „Heiliger Geist“ bezeichnen Soldaten eine Art… Verhaltenskorrektur an Kameraden. Wenn ein Soldat sich weigert, zu duschen und seinen Leuten damit auf den Nerv geht, wird er während des Schlafes kurzerhand samt Bett und Matratze von den Kollegen unter eine kalte Dusche gestellt und zwangsweise gewaschen. Ein C-Schlauch der Feuerwehr taugt auch.
Der Heilige Geist kommt übrigens immer nachts.


Kapitel 7B „Scham“


Das Blut in meinen Adern kocht vor Wut und Hass. Wie kann es dieser elende Sünder nur wagen, mich zu zwingen, meine Kleidung abzulegen?
Mich…Judith – die Reine vor dem Herrn, die sich unter schrecklichen Qualen von allen ihren Sünden mit Hilfe des Predigers geläutert hat, die ihrem früheren Leben und dem schwachen Fleisch abgeschworen und ihren unbedingten Willen über den grausamen Schmerz gestellt hat.
Wie wird sich dieser Satan gebärden, wenn ich nackt und schutzlos vor ihm stehe? Sich mit mir gegen meinen Willen gotteslästerlich vergnügen, mich für seine Lust benutzen und dann, wenn sein Trieb gestillt ist, meinen geschändeten Körper dieser Madame-Raubkatze zum Fraß vorwerfen?

Ich wage nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Alles wäre umsonst gewesen – das Training, der Drill, die Schmerzen und meine Hoffnung auf einen Neustart in einer besseren, von aller Schuld gereinigten Welt, zu leben – alles umsonst.
Ich höre wieder die Stimme des Predigers in meinem Kopf hallen, dass alle Sünder ihrer gerechten Strafe durch einen geweihten Vollstrecker zugeführt werden müssen, dass es vorher keine Chance auf Erlösung gibt.

Der Warnschuss schlägt knapp über meinem Kopf in der Decke ein und ich sehe in seinem Gesicht wilde Entschlossenheit. Die nette aufgesetzte Maske der vorgetäuschten Menschlichkeit von vorhin ist verflogen. Die sündige Kreatur zeigt ihr wahres Gesicht.
In seinem irren Blick funkeln nun seinerseits unbändiger Zorn und Ekel. Sein Körper ist angespannt und er wartet nur darauf, dass ich mich falsch bewege. Er ist nur einen Wimpernschlag davon entfernt, mich mit unerfüllter Mission vor meinen Schöpfer zu schicken, sollte ich nicht augenblicklich gehorchen.
Wie in Zeitlupe registriere ich, wie sich sein Finger gen Abzug krümmt.
So kann ich nicht vor den Allmächtigen treten, gescheitert und in Schande. Meine unsterbliche Seele ist in höchster Gefahr, ich habe schreckliche Angst vor den unüberschaubaren Konsequenzen meiner Sturheit, doch nicht vor dem Sünder selbst sondern vor dem Gottes Gericht.
Ich habe Angst vor dem Höllenfeuer, das mich erwartet, wenn ich scheitere.

Ich spanne meinen Körper in Erwartung der Exekution an. Lieber bin ich tot als nackt vor diesem Monster zu stehen und die Schändung meines Leibs durch ihn zu ertragen!
Doch in allerletzter Sekunde gewinnt die indoktrinierte Pflichterfüllung meinen inneren Kampf. So lange ich noch atme, kann die Mission noch erfüllt werden!

Mit hasserfülltem Blick werfe ich ihm meine Lederjacke vor die Füße. Nach einer kurzen Pause und einem tiefen Seufzer ziehe ich das dreckstarrende T-Shirt über den Kopf und lasse es achtlos zu Boden fallen. Überrascht blickt mich das Tier an.
Jawohl – ich trage keinen BH! Wozu auch?
Meine Brüste sind klein und fest, sie stehen von allein und benötigen keinen künstlichen Halt. Mein Dekolleté hat sich seit meinem Titelgewinn zur „Miss Mieder“ bei irgendeinem dämlich dekadenten Oktoberfest im früheren Leben nicht groß verändert, doch dies war Claudia nicht Judith.
Claudia ist schwach, Judith dagegen ist stark!

Meine Stiefel und Socken streife ich langsam ab. Tränen der Scham rinnen aus meinen Augenwinkeln als ich den Reißverschluss meiner Hose öffne. Himmel bitte – ich ertrage es nicht, dass dieses Tier mich die ganze Zeit über anstarrt!
Ich weiche seinem bohrenden Blick aus.
Womöglich regt es sich bereits erwartungsvoll in seiner Körpermitte!
Mir ist so übel bei diesem Gedanken, dass ich zu würgen beginne, doch es ist nichts weiter mehr in meinem Magen, was ich ausspeien könnte, nicht einmal mehr bittere Galle.
Um wenigstens etwas Privatsphäre zu haben, drehe ich ihm den Rücken zu, als ich meine Beinkleider abstreife, schließlich fällt noch das letzte Stück meiner Schutzhülle, mein Slip. Ich denke sehnsüchtig an das Karambit im Rucksack.
Wie gerne hätte ich es nun in meiner Hand, um dieser lüsternen Schlange hinter ihr, die Kehle durchzuschneiden. Wo ist der Rucksack nur?
Während ich mich zu erinnern versuche, wo ich ihn das letzte Mal gesehen hat, fließen meine Tränen nun in einem steten Strom über meine Wangen und tropfen auf den kalten Granitboden.

Jetzt bin ich nackt. Mit dem letzten Rest Stolz drücke ich meinen Rücken durch und ätze ihm entgegen:
„Siehst du Sünder, ich habe die Wahrheit gesagt – keine weiteren Waffen.“

Ich wundere mich, dass von dem Satan in Menschengestalt gar nichts kommt, weder eine verächtliche noch eine zotige Bemerkung. Stattdessen höre ich seinen Atem geräuschvoll entweichen. Meine Oberarme verbergen meine Brüste und meine übereinanderliegenden Hände schützen mein Allerheiligstes. So stehe ich angespannt da, mit dem Gesicht zur kahlen Wand, und warte.

„Wer war das? Wer hat dich derart grausam misshandelt? Etwa dieser elende Schweinepriester? Hat er dir diese schlimmen Striemen zugefügt?“ höre ich die entsetzte Stimme meines Peinigers.

„ Der gütige und gestrenge Prediger hat mich geläutert, er hat seit dem Frühling mein schwaches Fleisch und meinen Geist gestärkt, damit ich sein gerechtes Werkzeug sein kann, Sünder!
Gerettet hat er mich, mit jedem einzelnen seiner brennenden Peitschenhiebe, aber ich erwarte nicht, dass eine so niedrige Lebensform wie du, den höheren Zweck des Ganzen versteht!“ entgegne ich ätzend.

Gänsehaut überzieht meinen Körper, ich friere so schrecklich, alles tut mir furchtbar weh und die Erinnerung an die entsetzlichen Schmerzen der Läuterung stehen frisch - wie gerade erst geschehen – vor meinem inneren Auge.
Schweig Claudia! zischt Judith unhörbar.

„Dieses miese Schwein! Sag mal, weißt du eigentlich, was für ein dummes Zeug du daher redest Mädel?
Hast du noch sowas wie ein Gehirn oder ist das bei deiner zu heißen Gehirnwäsche auf Erbsengröße eingelaufen? Ich geh mal eben in die Ersatzteilbeschaffung und hol dir ein Neues! So ein verdammter Unsinn!
Eins sag ich dir: Wenn euer Himmel aus Peitschenhieben und Schmerz besteht, dann will ich lieber mit Freuden in der Hölle feiern!
Also nix gegen ein bisschen Haue ab und an, das kann ja ziemlich anregend sein – aber doch nicht so extrem wie bei den Sklaven im alten Rom!
So und jetzt Abmarsch unter die Dusche, aber hurtig! Ausgezogen stinkst du noch schlimmer als in den Klamotten!“
Der Dämon in Menschengestalt redet sich in Rage. Das unterdrückte Wesen Claudia nickt innerlich und stimmt ihm zu.

Sein echauffierter Ton fordert die Judith in mir geradezu zu einer entsprechenden Reaktion heraus, doch mit einem vehementen:
„ Klappe Nacktfrosch! Im Moment stehst du nicht auf meiner Rednerliste!“
verbietet er mir kurzerhand den Mund und treibt mich mit dem Lauf seiner Waffe zwischen meinen Schulterblättern auf den Gang hinaus. Zähneknirschend füge ich mich.

Krampfhaft suche ich nach einer Gelegenheit zur Flucht, im Notfall auch nackt. Ich stelle mir vor, wie er auf meinen Po starrt und möchte am liebsten im Boden versinken. Ich war noch nie sehr freizügig, was das körperliche angeht. Selbst vor meinem Ehemann hatte ich Scham, mich hüllenlos zu zeigen, und nun sieht mich nicht nur ein Fremder so, sondern auch noch ein verdammter Sünder!
Meine Reinheit wird sich in Wohlgefallen auflösen und dass, wo mir doch der Prediger versprochen hat, mich mit einem Getreuen unwiderruflich zu verbinden, wenn alle Sünder erledigt sind.
Damit es wie im Paradies einen neuen Anfang für die Menschheit gibt, aber diesmal einen ohne Sündenfall - dank künstlicher Befruchtung.
Als Eltern, die den moralisch reinen Nachwuchs im Sinne des Predigers erziehen, werden wir uns wertschätzen und achten, mehr nicht.
Sex ist allen Übels Anfang und deshalb tabu, das mussten alle in der Bruderschaft bei ihrem Leben versprechen.

Je länger der Weg zum Waschraum dauert, desto mehr komme ich zu der Erkenntnis, dass das Tier hinter mir, mich sicher nicht vor meiner Körperreinigung zu nehmen gedenkt. Etwas Zeit verbleibt mir also, einen Plan zu entwickeln.
Doch jetzt muss ich dringend aufs Klo, wirklich sehr dringend! Hoffentlich darf ich das wenigstens allein. Dann stehen wir vor einer Tür.

„Öffnen, aber gaaanz langsam!“ bellt es hinter mir.
Er schubst mich in den steril gekachelten Raum hinein.
Ich warte darauf, dass er die Tür hinter mir schließt und draußen wartet, doch mitnichten.

„Ab mit dir aufs Klo und dann unter die Dusche! Frische Kleidung liegt hier…“, er deutet auf einen Stahlrohrhocker.
Hm, den könnte ich als Waffe benutzen…

„Denk nicht mal im Traum daran, Killerkätzchen!“ poltert er.
Sch…, kann dieser Kerl etwa meine Gedanken lesen?
„Na los, mach schon und bedanken darfst du dich auch gerne!“ befiehlt er ungehalten.

„Für was soll ich „Danke“ sagen?“ erwidere ich bockig. „Dafür, dass du mich hier demütigst und beleidigst? Vielleicht für die Schmerzen und Wunden, die du mir zufügst? Aber sicher! Danke sehr für deine widerwärtige Anwesenheit und den Pesthauch der Sünde, mit der du mich beschmutzt!“

„ Eine ziemlich dicke Lippe, die du hier riskierst, Süße! Du darfst dich für meine Menschlichkeit dir gegenüber bedanken. Echt jetzt - für eine „Gerechte“ und „Auserwählte“ hast du ziemlich miese Manieren, ich glaube, ich muss dich bei Gelegenheit mal ordentlich übers Knie legen und dir deine Frechheiten austreiben!“ meint er kühl und fügt nach einer kleinen Pause hinzu „mir erscheint, da stehst du drauf!“

Kräftig schlucke ich und schon wieder laufen meine Tränen. Verdammte Schwäche, was ist denn los mit mir? Wann habe ich mir das letzte Mal erlaubt, so viel zu weinen? Meine widerborstige Fassade bröckelt eben kräftig. Die Claudia in mir beginnt, sich Stück für Stück ihrer mentalen Fesseln zu entledigen und überrennt die dominierende Judith mit einem massiven Gefühlsansturm. Sie gewinnt verlorenes Terrain zurück.

Ich fühle mich so allein und verletzlich. Er steht da wie ein Fels und betrachtet mich aus eiskalten blauen Augen, die zu schmalen Schlitzen verzogen sind. Mit Hass und Widerborstigkeit erreiche ich bei ihm gar nichts. Vielleicht, wenn ich an seine Instinkte appelliere?

„Ich kann nicht, wenn einer zuschaut, bitte, ich möchte allein sein“, flehe ich und versuche ein schüchternes Lächeln.

„Antrag abgelehnt! Auf deinen Honigkuchenblick falle ich nicht rein, Schätzchen. Du wirst schön alles vor meinen Augen erledigen, ob es dir passt oder nicht. Du kannst ja dabei die Augen schließen.“ Kalte Süffisanz durchdringt seine Worte.

Verdammt! Ich muss mich überwinden, denn das Bedürfnis ist zu dringend, um es weiter zu ignorieren, doch ich hasse ihn unermesslich dafür, dass er mich derart erniedrigt. Dafür wird er bezahlen!
Sobald ich eine Chance sehe – Judith ist wieder am Zug!
Würde sich doch nur ein Abgrund unter mir öffnen und mich verschlingen, doch dieser Gefallen wird mir leider nicht erwiesen.

Ich verrichte mit zusammengebissenen Zähnen mein Bedürfnis und betrete zögerlich die Dusche, drehe vorsichtig das Wasser auf. Eiskalt wie die Ostsee im Winter schießt es aus der Brause! Ich schreie vor Pein auf und dieser Mistkerl lacht sich schier über mein Leid kaputt. Ich kann es nicht erklären, denn obwohl ich mehr als sauer auf ihn sein müsste, falle ich in sein Lachen mit ein.
Es ist so befreiend und ich spüre, wie sich meine Lebensgeister rühren. Endlich – es wird wärmer und schließlich hat es die richtige Temperatur. Wie lange hatte ich das nicht mehr? Eine heiße Dusche und Seife! Frische Kleidung! Die Aussicht, meine Zähne zu putzen…

Sündige Gedanken und DAS in meinem Kopf! Verflixte Claudia, sie wird immer stärker!
Ich stelle das Wohl meines Körpers über das meiner Erziehung durch den Prediger! Ich gehöre auf der Stelle bestraft! Ob sich hier wohl ein passendes Instrument finden lässt? denke ich mir voller Abscheu über mich selbst und genieße trotzdem seufzend und mit geschlossenen Augen diese Wohltat. Noch immer schäme ich mich meiner Nacktheit, aber mittlerweile bin ich fast vollständig in heißen Dampf eingehüllt und damit fast unsichtbar für meinen Bewacher.
Noch immer steht er in sicherem Abstand an der Tür und bohrt seine Blicke in meinen Rücken.

Ein lautes Geräusch lässt mich vor Schreck zusammen fahren. Wie Trommelfeuer! Auch er zuckt alarmiert zusammen.
„Ende
eyes002
******ace Mann
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F 220, Kapitel 8 + 9
Kapitel 8: Der Angriff

Ich träumte. Der Anblick der Frau entließ mich kurz aus der Realität. Frauen waren nie ein großes Thema in meinem Leben. Außer meiner Mutter und meiner Schwester, aber die hatte ich weiland nie beim duschen beobachtet. Ansonsten stand eigentlich immer das schnelle Vergnügen im Vordergrund. Einfach, schnell und ohne Konsequenzen. Frauen ließen sich nicht auf mich ein, offenbarte ich ihnen meinen innersten Kern.

Ich schüttelte den Kopf. Dieser dunkle Punkt meiner Vergangenheit sollte im Dunkel bleiben, wie in einem Tabernakel. Und doch taumelte ich zwischen Wut und … ja, was? Erregung? Ich hasste mich dafür. Die Narben auf ihrem Rücken waren frisch. Striemen und Schlagmale in allen Farben und Formen. Und nicht nur auf dem Rücken. Oberschenkel, Oberarme und ihr Hintern war ein einziges, grün-gelb schillerndes Hämatom. Sie tat mir leid. Unendlich leid. Das arme Ding war auf den Teufel gestoßen und von innen nach außen gekehrt worden. Wie grausam doch die Menschen sein konnten. Ich schwor mir, dass ich den Prediger richten würde. Und passte das nicht sogar zu meinem Namen? Ich, der Richter. Dieser verdammte Bastard. Wer weiß, was er noch mit ihr angestellt hatte, um sie so zu verblenden? Ich mochte es mir gar nicht vorstellen.

Claudia war zwar nach wie vor darauf bedacht, so wenig Haut wie möglich preiszugeben, aber dennoch schien sie das Wasser und die Seife zu genießen. Es sah schon sehr sinnlich aus, wie sie ihre Haut mit der Seife bedachte. Fast schien es, als streichle sie sich. Ich mochte mir das einbilden, denn es könnte auch schmerzbedingt sein, dass sie so behutsam vorging. Und da sie ihre Füße kaum bewegte, die in einer großen Pfütze aus heißem Wasser und Seife standen, vermutete ich auch unter den Schuhsohlen Foltermale. Unglaublich. In diesem Ausmaß konnte es nur bedeuten, dass der Prediger anstatt eines Bußgürtels den Körper der Frau misshandelt hatte. Abtötung des Fleisches, Buße für die Sünden, Sühne für Fehler. All das war im tiefsten Mittelalter normal. Und, der Schmerz sollte dem Probanden ermöglichen, trotz und ob der großen Schmerzen sich auf Gott, Gebet und Andacht zu konzentrieren. Eine Gehirnwäsche der Besonderen Art. Diese Frau war ein Rätsel. Und doch bemerkte ich die kleinen, versteckten Blicke, die sie mir zuwarf. Sie suchte nach wie vor eine Möglichkeit, mich zu überrumpeln. Und das machte den Zauber des Augenblickes wertlos.

Meine Brust schmerzte. Garantiert hatte ich mir eine Rippe oder mehrere zumindest angebrochen. Aber zeigen würde ich ihr das nie! Das wäre mein Todesurteil. Plötzlich hämmerten die Geschütze der Hamburg los. Das stakkatohafte Bellen der 35mm Revolverkanonen war typisch. Mindestens zwei Türme feuerten da, aber auf was?
“Der Prediger!”,dachte ich und mir lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter, “er will sein Mädchen holen”

Und ich machte mir Sorgen um Madame und ihr Baby.
“Ende des Wellnessprogramms, Claudia. Anziehen, aber zackig!”, bellte ich sie an. Dann der Widerstand. Und bot sie mir an, mit mir zu kämpfen? Mistkröte, ich durchschaute das. Es konnte doch nur der Prediger sein. Da musste sie schon raffinierter ran, um mich zu täuschen.

Quälend langsam zog sie sich an. Die kleine Ratte wollte ihrem Prediger Zeit verschaffen. Obschon ich das nicht wirklich glaubte, denn der Prediger war irre, aber feige. Aber wer weiß, vielleicht hatte er seine Leute geschickt? Ich ahnte es ja schon länger. Aber Gefühlsduselei konnte ich mir nicht leisten. Ich hob das Gewehr, um dem dämlichen Spiel ein Ende zu setzen.

“Na los, auf den Flur. Hopphopp! Ja los, lauf. Rennen, sage ich! In dein altes Zimmer. Links rein, zack. Und wage es nicht, mich zu verarschen!”
Claudia spurte wie ein Rekrut. Schwer atmend stand sie im Raum, sah auf das Bett mit den Riemen und Gurten. Mit gehetztem Blick drehte sie sich um:
“Nee, oder?”
“Doch, doch”, zischte ich, “und jetzt mach! Ich muss raus!”
Sie ergab sich ihrem Schicksal und legte sich quälend langsam aufs Bett.

“Kannst du nicht einmal aufs fesseln verzichten?” säuselte sie mich an. Ich wollte gerade auf die komplette Fesselung verzichten, doch dann sah ich ihre Male, die Hämatome, die kleinen Verbrennungen an den Unterarmen und ihre ausgemergelte, klapperdürre Figur. Und kam vom Wege ab. Gegen ihren Widerstand und unter lautstarkem Getöse inklusive Todeswunsch legte ich ihr die Segufix- Gurte an und verschloss sie mit der magnetische Kappe. Sie fluchte und verwünschte mich, die spie Gift und Galle, als ich meine Arbeit verrichtete. Dann wieder bat und bettelte sie, flehte und weinte, die undankbare Ziege. Allzu offensichtlich boten sich mir die zwei Seelen dar, die in ihr wohnten. Die hinterhältige Attentäterin Judith und die ganz normale Claudia. Eine von beiden würde stolpern, früher oder später. Ich war mir nicht ganz sicher, ob mir das Ergebnis gefallen würde.

Ich schüttelte den Kopf.
“Hey!”, eröffnete ich meine Ansprache, “hör zu! Ich gehe jetzt da raus und bringe deinen Prediger um, hast du das verstanden? Dieser Typ geht mir gewaltig auf die Nüsse und ich werde jetzt ein Hühnchen mit ihm rupfen. Er will ins Paradies? Kann er haben. Wenn der wildgewordene Eber nicht mehr da ist, wirst du wohl zugänglicher sein”
Ich grinste sie an.
“Und damit du alles mitbekommst”, dabei stellte ich die Rückenlehne auf, so dass sie aus dem Fenster sehen konnte, “viel Spaß mit dem Logenplatz”
Fassungslos sah sie mich an, als ich das Magazin des G36 wechselte. Dann ruckelte ich vorsichtshalber noch einmal an den Fesseln und stürmte aus dem Raum. Verfolgt von den allerbesten Wünschen einer Killerziege. Die meisten dieser Flüche waren nicht mehr jugendfrei.
*
Vorsichtig verließ ich das Gebäude durch den Keller, nachdem ich mich so leise wie möglich durch diverse Fahrräder und Mofas gezwängt hatte. Das Licht in Claudias Fesselraum hatte ich gelöscht und die Tür verschlossen. Eine Nachttischlampe sorgte für ein wenig Licht, gerade genug, um den Raum halbwegs überschaubar zu machen und dunkel genug, zu schlafen, wenn man wollte.

Sorgfältig beobachtete ich noch von der Kellertreppe aus das Gelände. Keine Bewegung, aber das bedeutete nichts. Langsam und geduckt um die Gebäudeecke spähend, sah ich die Geschützläufe, dem hell leuchtenden Mond sei Dank. Leichter Rauch kräuselte aus den Mündungen und verflüchtigte sich ein paar Zentimeter darüber. Aber, und das war das Erstaunliche, die Mündungen zeigten aufs Wasser. Ich folgte den Geschützläufen mit den Augen und entdeckte Trümmer auf dem Wasser. Ein Boot, wahrscheinlich aus Holz oder die Reste eines Schlauchbootes. Egal, was dort war, falls es Überlebende gab, würden die es sich demnächst zweimal überlegen, auf dem Seeweg einzudringen. Aus dieser Richtung wähnte ich mich sicher.

Plötzlich erfasste die Automatik ein neues Ziel. Sirrend ruckten die Läufe herum und zeigten jetzt in die Nähe des neu installierten Stacheldrahtes. Aber es wurde nicht gefeuert. Ich sah nur, wie die Kanone ganz leicht hin und herruckte, so als ob sie das Ziel nicht eindeutig ausmachen konnte.
Verbissen starrte ich in die Dämmerung. Und tatsächlich, da war Bewegung! Vor dem Zaun kroch etwas durchs Gras. Etwas in Tarnkleidung. Etwas mit metallischen Gegenständen in der Hand. Wenn ich jetzt nur ein Doppelfernglas hätte! So musste ich näher heran. Ich fasste es nicht! Jemand hatte einen tragbaren Schweißbrenner mitgebracht und schnitt ein Loch in den Zaun! So also machten die das. Es gab also doch noch Menschen. Schade, dass es Strolche waren.

Ich nahm das Gewehr von der Schulter, entsicherte es und legte an. Der erste, der seine Nase durch den Zaun streckte, würde dort liegen bleiben und das Loch direkt wieder verschließen. Doch dann die Überraschung. Als das Loch fertig war, zog sich die Person zurück. Aber warum? Was kam jetzt? Und egal, wer es war, die Tarnung war gut. Bereits nach wenigen Sekunden konnte ich niemanden mehr ausmachen, so flach waren die Typen im hohen Gras verschwunden. Ich beschloss, abzuwarten, vielleicht warteten die auf den Chef? Das wäre ein Fest, den Prediger vor die Flinte zu bekommen!.

Es dauerte nicht lange, da sah ich es. Das Gras war auf breiter Front in Bewegung. Die hatten tatsächlich ausbaldowert, dass die Geschütze nur feuerten, wenn eine Minimalhöhe gegeben war. “Na, wir wollen doch mal sehen, wie schreckhaft ihr seid!”, dachte ich, hob das Gewehr und zielte knapp sechs Meter hinter das neue Loch im Zaun, wo ich den vordersten Angreifer vermutete. Ich verteilte ein paar kurze Feuerstöße und sah Dreck aufspritzen. Gleich darauf verließ die Disziplin den ersten Eindringling und ein paar weitere sprangen auf, um zu flüchten. Der Revolverkanone kann man aber nicht entkommen. Die Geschütze hämmerten los, ihr Feuer klang wie ein Inferno in der nächtlichen Stille. Die 35mm Geschosse gruben den ganzen Bereich jenseits des Zaunes um. Dreck spritzte hoch, Laub, Gras und… Dinge. Ich konnte nur ahnen, was es war. Innerhalb kurzer Zeit hatte der Turm die ganze Rotte ausgelöscht. Ein Massaker. Feuerdisziplin Fehlanzeige. Das waren keine Soldaten.

Dann sah ich den eigentlichen Schaden. Die 35mm Geschosse hatten ebenfalls den Zaun pulverisiert. Die verbogenen, glühenden Reste sahen aus wie das Kunstwerk eines irren Bildhauers.
Sirrend richtete Turm Beta plötzlich den Geschützlauf auf den Eingang des Stützpunktes. Oh nein, nur das nicht. Eine zweite Front! Wenn die Kanonen jetzt losfeuerten, würden sie den Eingang samt Toren und Zaun ebenfalls komplett in Schutt und Asche legen. Ich begann, eine Taktik zu vermuten, denn die Automatisierung der Schiffsgeschütze richtete sich jetzt gegen mich! Völlig unklar war, wie viele Leute der irre Prediger zur Verfügung hatte. Falls ich die nächste Stunde überleben sollte, würde ich meine Killerziege ernsthaft verhören müssen. Es tat mir leid, besonders, weil ich ihren geschundenen Leib gesehen hatte, aber wollte ich überleben, musste ich Härte zeigen.

Ich musste mich beeilen. Da die Infrarot-Kameras mich erkennen würden und ich nicht als Ziel zur Bekämpfung eingegeben war, wäre die Feuerautomatik außer Kraft. Theoretisch zumindest. Das stellte mich vor erhebliche Probleme, denn ich war auf so eine komplexe Programmierung nicht vorbereitet und bei Rheinmetall und seinen Ingenieuren konnte ich schlecht anrufen.
Rennend und außer Atem erreichte ich den Eingang des Stützpunktes. Niemand war zu sehen. Ich stellte sicher, dass mein Gesicht von der Infrarot-Kamera eingefangen wurde, indem ich immer wieder zum Schiff, bzw zur Sensoreneinheit schaute. Und richtig, sie feuerten nicht. Vorerst.

An der Ecke des Wachgebäudes sondierte ich aufmerksam das Gelände. Irgend etwas musste die Sensoreneinheit ausgemacht haben. Ich zwang meinen Atem zur Ruhe. So angespannt war ich kein guter Beobachter, denn es kam mir vor, als schnaufte ich wie ein altes Schlachtross. Es dauerte viel zu lange. Ich war auf einem guten Weg aber noch weit von guter Fitness entfernt. Ich musste das hier schnell beenden. Aber wie? Verdammt, ich hatte die Handgranaten noch!
Die erste Granate warf ich hoch über den Zaun, weit auf die Straße hinaus. Einundzwanzig, Zweiundzwanzig, Dreiundzwanzig. Es krachte. Dreck und Asphaltsplitter spritzten umher. Wenn man gelernt hatte, dem Reflex zu wiederstehen, die Augen zu schließen, konnte man bei Detonationen etwas ganz Erstaunliches sehen. Und zwar eine rein weiße, kugelförmige, perfekte Glocke aus verdichteter Luft. Die Druckwelle, die den eigentlichen Schaden anrichtet. Eine Tausendstel Sekunde lang war sie zu sehen, bevor sie sich verlief. Immer wieder faszinierend.

Die nächste Granate versuchte ich in den Straßengraben zu werfen, der auf der anderen Straßenseite verlief. Dort vermutete ich, hatten sich die Typen versteckt. Krachend stoben diesmal erheblich mehr Dreck und Laub, Wasser und Steine davon. Und dann raschelte es erheblich im Unterholz des angrenzenden Wäldchens. Zur Sicherheit, und um die Kameraden ordentlich zu motivieren, warf ich eine dritte Granate so weit ich konnte, ins Gehölz. Ob das einen Effekt erzielte, bekam ich nicht mehr wirklich mit.

Weitere 10 Minuten wartete ich, und überlegte, wie ich der kleinen Kratzbürste am besten beikommen könnte. Grinsend ging ich los, mir war eine Idee gekommen. Schnurstracks ging in zu dem großen Loch im Zaun, das die Geschütze gerissen hatten. Vorsichtig, um keinen Schlag zu bekommen, pirschte ich auf das Gelände. Es war ein furchtbarer Anblick. Mindestens ein Dutzend Menschen lag hier. Teilweise in militärischer Tarnkleidung, teilweise in dunklen Overalls, die entfernt an Blaumänner erinnerten. Alles war nass und klebrig. Das trocknende Blut sah im spärlichen Mondlicht unheimlich aus. Fast so, als würde eine Schicht aus glänzendem Zuckerguss die Leichen bedecken. Grausam entstellte Körper glänzten im Mondlicht, abgerissene Gliedmaßen lagen herum. Ich sah Beine in Stiefeln, ich sah sogar Köpfe. Mir wurde schlecht. Den Würgereiz konnte ich kaum unterdrücken. Der Anblick, der leichte Geruch von Karbid, verbranntem Fleisch und dem metallischen Geruch von frischem Blut und Innereien konnte ich kaum aushalten. Ich musste mich beeilen, sonst bliebe mein Mageninhalt ebenfalls hier. Am Ende des Ackers fand ich eine Leiche, die aussah, wie ein schmalbrüstiger Jugendlicher. Ich warf ihn mir über die Schulter und verließ den Totenacker so schnell wie möglich. Hier gab es nichts mehr für mich.
Zweimal musste ich absetzen, bevor ich den Körper ins Lazarett geschleppt hatte. Als ich schwer schnaufend mit meiner Trophäe durch das Foyer stampfte, fiel mir auf, dass ich blutrote Spuren hinterließ. Ich sah an mir herunter. Ich war mit Blut bedeckt bis zu den Knien. Ekelhaft. Aber, und das war ein unbeabsichtigter Teil des Verhöres: Es würde meinen Zorn, meine Skrupellosigkeit und meine Entschlossenheit untermauern.
Also setzte ich ein letztes Mal ab und lehnte den Körper an die Wand. Atem beruhigen, Puls beruhigen, Geist beruhigen. Was jetzt kommen musste, war unausweichlich. Ich durfte keine Schwäche zeigen. Deshalb durfte ich auf keinen Fall außer Atem oder röchelnd vor die Frau treten, wolle ich etwas erfahren. Im Gegenteil, es musste wirken, als wäre das eine ganz leichte Übung gewesen. Also noch kurz die Glieder ausschütteln, den Leichnam geschultert und die restlichen paar Meter zurück gelegt, auch wenn mein Magen rebellierte und ich unter einem Schwindelanfall litt. Hoffentlich bemerkte sie das nicht, sonst wäre die Maskerade beim Teufel.

Scheinbar siegessicher stampfte ich in Claudias Domizil. Warum zum Teufel wunderte ich mich nicht, sie ungefesselt in den Schubladen wühlen zu sehen? Ich verfluchte mich für meine Nachlässigkeit und wurde stinksauer und schlug mit der Faust auf den Lichtschalter. Achtlos klatschte der leblose, blutverschmierte Körper auf die weißen Fliesen. Erst jetzt, im kalten, blauen Licht der Neonröhren sah ich, dass es sich um eine junge Frau handelte. Vielleicht 22 Jahre alt mit einer modernen Kurzhaarfrisur und jeder Menge Blech im Gesicht. Sie war einmal schlank, aber nicht so hager wie Claudia. Feingliedrige Finger, die nicht auf harte Arbeit schließen ließen, ein graziler Hals, der nun in einem Winkel vom Körper abstand, der kein Leben mehr verhieß. Sie hatte keinen direkten Treffer abbekommen. Die 35mm Schrapnell-Munition hatte ihren schlanken Leib perforiert wie einen Rehrücken. Das Geschoss muss vor ihr detoniert sein, nachdem es auf den Körper eines ihrer Kameraden getroffen und durch ihn hindurch gesaust war. Waffen zu bedienen, sie zu erfinden, zu testen und damit zu üben, ist eine Sache. Die Auswirkungen dieser Tötungsinstrumente, und nur dazu waren sie geschaffen worden, live und wahrhaftig vor sich zu sehen, eine gänzlich andere.
“Sieh an, was dein Prediger angerichtet hat! Kennst du sie? Ist das eine Freundin von dir? Jetzt wohl nicht mehr, schätze ich.”


Kapitel 8b „Erkenntnis“


Die Judith in meinem Wesen flucht lautstark wie ein Müllkutscher. Noch ist es mir nicht gelungen, mich in sein Vertrauen einzuschmeicheln. Ich besinne mich auf Claudias Eigenschaften, sie ist so lieb und entwaffnend unschuldig in ihrer Art. Ich könnte, nein ich muss sie benutzen, denn Judith wird er nie trauen. Claudia kann an seine Schutzinstinkte appellieren und ihn unvorsichtig werden lassen. Zum anderen hat er eine Schwäche für diese Ozelot-Dame und ihr Baby. Dieses Wissen wird sich doch irgendwie verwerten lassen. Zugegeben, das Baby hat selbst mich einen Moment ins Wanken gebracht.
Zumindest hat Sünder sich eines Besseren besonnen und mich doch nicht im Waschraum eingesperrt. In dem Lazarettzimmer finde ich eher etwas zum verteidigen als dort. Aber erneut hat er mich auf dieser verdammten Liege mit diesen Scheißgurten fixiert, obwohl ich doch die schweren Tränen- und Flehgeschütze aufgefahren habe. In meinem heiligen Zorn schreie ich ihm den Satz hinterher, den ich sonst wie ein Gebet vor der Vollstreckung spreche: „Noch lebst du, bald bist du ein Weiland (Gewesener)“ * Er lacht nur hämisch und knallt die Tür hinter sich zu. Verflixt, jetzt muss ich auch noch zittern, dass dieser Mistkerl nicht anderweitig erledigt wird!
Verzweifelt versuche ich mich in den Riemen zu bewegen, es muss doch eine Möglichkeit geben, sich hier heraus zu winden? Die Gurte geben kaum nach. Ich befürchte, so leicht wird das Ganze nicht. Während ich dennoch nicht nachlasse, die breiten Riemen irgendwie zu dehnen, scannt mein Blick den schwach erleuchteten Raum. Etwa einen Meter neben mir mache ich auf dem Boden einen Gegenstand aus. Was zum Teufel ist das? Es muss schon vorher dort gewesen sein, den ich habe nicht gehört, dass etwas auf den Boden gefallen ist. Ich zwinge mich zur Ruhe, kneife meine Augen zusammen, um besser fokussieren zu können. Erflehe die Hilfe des Allmächtigen zu meiner Rettung. Es hilft, denn da liegt genau so ein Magnetdings, wie jenes, mit dem Sünder meine Riemen verschlossen hat. Hoffnung flutet mein Bewusstsein. Ich muss runter auf den Boden. Doch wie soll ich das nur anstellen?
Nachdenklich wandert mein Blick zum Fenster, von dem aus ich einen guten Blick über das Gelände des Stützpunkts bis zur „Hamburg“ habe. Draußen ist es zwar bereits dunkel, doch das helle Licht des Vollmonds lässt mich fast jede Einzelheit da draußen gut erkennen. Was war das denn? Meine scharfen Augen nehmen nicht nur Bewegungen im Wasser auf Höhe des Schiffsbugs wahr, sondern auch an dem Elektrozaun. Aber - warum treffen die Geschütze an dieser Stelle nicht bzw. warum bekommen diejenigen am Zaun keinen Stromschlag? Der Elektrozaun scheint außer Betrieb zu sein und die Gegend um den Bug herum liegt vermutlich in einem toten Winkel. Ich sehe das Ganze mit gemischten Gefühlen.
Einerseits, wenn es „meine“ Leute sind - und das wäre durchaus möglich - wäre es nicht gut für mich, dass der Sünder, für dessen Ableben ich die alleinige Verantwortung trage, eben noch an selbigen ist. Das würde bedeuten, dass ich schmählich versagt hätte und dies wiederum würde mein qualvolles Ende bedeuten. Wenn es nur eine marodierende Bande wäre, die lediglich auf die Ressourcen des Stützpunkts aus ist, dann hätte ich zumindest eine fifty/fifty Chance zu überleben, doch ich könnte auch nicht mehr zu meiner Bruderschaft zurück, da ich wieder unrein wäre. Ich habe nicht wirklich eine Wahl.
Doch das sind äußerst wertvolle Informationen, von denen ich Kenntnis erlangt habe - nicht nur für den Prediger, sondern auch für den Teufel in Menschengestalt. Ich könnte diese gezielt einsetzen, um sein Vertrauen zu gewinnen. Ich werde mich jetzt von dieser Liege befreien, mir eine Waffe organisieren und dann aus diesem Raum verschwinden. Aus dem Grund, weil Sünder dies von mir erwartet. Ich werde sein Klischee von Judith bedienen und Claudia einsetzen, wann immer es nötig ist, mein Ziel zu erreichen!
Wie eine Berserkerin werfe ich mich von rechts nach links und bringe damit die Liege zum schwanken. Ihre Füße hängen auf der einen Seite bereits für Bruchteile von Sekunden in der Luft. Nicht nachlassen! Himmel ist das anstrengend, doch das Adrenalin in meinem Körper verleiht mir die nötigen Kräfte. Die Schmerzen ignoriere ich, ganz so, wie ich es beim Prediger gelernt habe. Dein Körper ist vergänglich, dein Wille ist dein Tabernakel, in dem die Schwäche deines Fleisches eingeschlossen wird und dich ständig mahnt, zu widerstehen. Dieses Mantra des Predigers wiederhole ich in meinem Geist bis der Schmerz ausgeblendet ist. Ebenso wie der Schweiß, der mir vor Anstrengung, aus allen Poren rinnt und bereits eine Pfütze unter meinem Rücken bildet.
Noch ein wohldossierter Schubser in die richtige Richtung und die Liege neigt sich über ihren Schwerpunkt hinaus zur Seite. Krachend kippt sie mit mir um. Noch halten mich die Gurte einigermaßen in der Schräge, doch die Schwerkraft lässt meinen Körper ein winziges Stückchen nach unten in Richtung Boden sinken und gibt dadurch meiner unten liegenden Hand ein Itzchen mehr Spielraum. Das Magnetteil liegt quasi neben mir und mit meinen langen Fingern kann ich es sehr langsam nah genug an das Schloss meiner Handfessel heranholen, so dass es aufspringt. Der Rest ist für mich ein Kinderspiel. Dankbar schicke ich ein stummes Gebet gen Himmel und an den Prediger. Ihm verdanke ich meine Zähigkeit und den unbedingten Willen, niemals aufzugeben und nie das schwache Fleisch gewinnen zu lassen.
Meine Glieder sind wie eingerostet und ich komme nur schwerfällig auf die Beine. Diese ständige Fesselei geht mir gehörig auf den Zeiger und die Entbehrungen der letzten Tage zeigen allmählich Wirkung. Etwas gehässig bemerkt Claudia in einer Ecke meines Geistes, dass es wohl doch nicht ohne den vermaledeiten Körper geht. Stolpernd bewege ich mich zu einer der Kommoden, auf der einige Petrischalen und ein Blutdruckmessgerät liegen, während ich mir schwöre, mit diesem Mistkerl, wenn er denn in einem Stück zurückkommt, ein gewaltiges Hühnchen zu rupfen. Meine Informationen werde ich so teuer wie möglich verkaufen! Hektisch ziehe ich die Schubladen auf, auf der Suche nach etwas, das ich als Waffe benutzen könnte. In einem Lazarettzimmer sollte doch ein Skalpell zu finden sein, aber ich wäre auch mit einem Schraubenzieher zufrieden. Doch was finde ich außer Unmengen von Verbandsmaterial? Ein Modell-Mofa in einer Geschenkpackung, auf der steht „Für dich mein Liebster, zur Erinnerung an unsere Anfänge, In Liebe Moni“ und daneben sind lauter Herzchen gemalt. Einen kurzen Moment verschleiern Tränen meine Augen, eine Millisekunde trauert Claudia um diese beiden Menschen. Dann ist Judith wieder am Zug und schleudert das wertlose Ding fluchend an die Wand.
Ich muss mich beeilen, sicher wird demnächst einer hier auftauchen, entweder der Sünder oder die Angreifer. Hastig durchwühle ich die Schubladen als die Tür geräuschvoll auffliegt und schwungvoll gegen die Wand kracht. Verdammt!
Sein Adrenalin getriebener Blick spricht Bände als er mich über eine Schublade gebeugt und darin kramend erwischt. Es ist so wie von mir vermutet, dass er nicht wirklich überrascht wirkt, mich von den Gurten befreit, vorzufinden. Er hält ein blutiges Bündel Mensch in seinen Armen und wirft es mir vor die Füße. Hasserfüllt schreit er mich an, ob ich sie erkennen würde, ob sie gar meine Freundin wäre. Dabei richtet er eine Waffe auf mich. Er ist voller Blut, sein eigenes oder das der Fremden? Der Prediger hat so Recht, er ist ein Teufel! Ich bin auch erschrocken, denn wir haben tatsächlich einige wenige Frauen in unserer Bruderschaft und ich kann ihr Gesicht unter dem ganzen Blut nicht besonders gut erkennen. Im Geiste gehe ich die Gesichter durch. Doch passt schon ihre äußere Erscheinung nicht so recht in unsere Bruderschaft. Sie ist schlank, aber nicht abgezehrt und trägt eine, mir unbekannte Uniform.
„Ich weiß nicht, ob ich sie kenne. Ich sehe ihr Gesicht nicht richtig“, erwidere ich aufsässig, denn diese Reaktion erwartet er von Judith.
„Ok, Houdina, dann greif dir einen von den Lappen und mach ihr Gesicht sauber, aber schön langsam und keine falsche Bewegung, kapiert!“ bellt die Kreatur gereizt.
Ich agiere wie mir befohlen und reinige, neben dem toten Körper kniend, ihr Gesicht. Mein Gott, so jung! Mit jedem Wisch wird der Kloß in meinem Hals dicker. Fast noch kindhafte Gesichtszüge kommen unter all dem Blut zum Vorschein. So junge Kämpferinnen haben wir nicht in unseren Reihen. Claudia schließt die Lider ihrer gebrochenen Augen, deren Farbe grün war. Der Tod hat sie schnell ereilt, sie hat nicht gelitten. Ein etwas überraschter Gesichtsausdruck ist wie auf ihrem Antlitz eingefroren. Da hat dieses Mädchen diese schreckliche Seuche überlebt, um dann von einem wahren Schrapnell-Hagel durchlöchert zu werden. Was für eine grausame Welt! Tränen der Bestürzung rinnen über mein Gesicht als ich tief bewegt zu ihm hochschaue.
„Ich kenne diese Frau nicht“, flüstert das Wesen Claudia.
„Lügnerin! Du willst eine Gerechte sein? Schon mal was von den zehn Geboten gehört? Du sollst nicht lügen, du sollst nicht töten und so weiter?“ ätzt er. „Ich glaube dir nicht! Ich will jetzt sofort von wissen, wer meinen Stützpunkt angegriffen hat. Du wirst mir sagen, wie viel Leute der Prediger hat, wo euer Unterschlupf ist und wie seine Strategie aussieht. Sag mir alles und wehe, du lässt etwas aus - sonst wirst du deiner Vollstrecker-Freundin folgen und glaube mir, du wirst keine so hübsche Leiche werden!“ Wie zur Bekräftigung seiner Worte höre ich das metallische Klicken der Sicherung.
In das Mündungsrohr starrend, schweige und überlege ich kurz. Dann spricht Claudia fast sanft zu ihm: „ Nur zu - erschieß mich doch, dann hat mein Leiden ein Ende. Wenn es eine gütige Gerechtigkeit gibt, dann hoffe ich, auf der anderen Seite meine Kinder wiederzusehen. Nichts hält mich mehr in diesem beschissenen Leben. Dieser Körper hier bedeutet mir nichts mehr. Er ist nur noch eine mit Hass gefüllte Hülle. Das ist nicht mehr mein Leben, was diesen Körper antreibt. Ich war nie extrem. Nichts von dieser Person, die sich Judith nennt, macht MICH aus. Drück ab, doch dann erfährst du gar nichts – auch nicht, wie die Angreifer hereingekommen sind.“ Mit dem letzten Zusatz schleicht Judith sich zurück.
Ich blicke ihm geradewegs furchtlos in die Augen und warte noch immer - neben der Leiche kniend - auf meine Exekution innerhalb der nächsten Sekunden. Aber nichts passiert stattdessen sieht Sünder reichlich verwirrt aus. So, als ob er nicht wüsste, was er von Claudias Rede (Gut gebrüllt Löwe! erkennt Judith an) halten soll. Bei näherer Betrachtung sieht er ganz schön fertig aus. Sein Gesicht hat eine ungesunde Farbe und er steht nur äußerst angestrengt gerade. Er ist verletzt. Eine weitere Chance für mich? Sei vorsichtig, flüstert Predigers Stimme in meinem Kopf, ein verwundeter Eber ist doppeltgefährlich! Und lobt mich gleichzeitig dafür, dass ich den verblendeten Sünder mit meiner List geblendet habe.
Mit fester Stimme, die nicht zu seinem elenden Äußeren passen will, meint er endlich: „Ok Schätzchen, ich glaube dir, dass du sie nicht kennst. Durchsuch ihre Taschen, vielleicht ist da etwas zum identifizieren.“
Routiniert taste ich sie ab und tatsächlich finde ich eine Plastikkarte versteckt unter der Innensohle in einem ihrer Schuhe. Seltsamer Aufbewahrungsort für eine ID-Karte. Warum war sie so versteckt? Es sieht aus wie ein Dienstausweis. Eine graue Plastikkarte mit einem Foto, einem Namen: Katharina Thal und einer Nummer. Soweit so gut, aber dann sehe ich das Symbol in der linken oberen Ecke – eine weinrote Doppelspirale. Mir ist, als ob sich eine eiskalte Faust um mein Herz krallt – Claudia erkennt dieses Symbol! Die Heftigkeit der Erinnerung raubt mir fast den Verstand.
In meiner alten Wohnung liegt in der hintersten Schublade ein Dienstausweis mit dem gleichen Symbol…der meines Ex-Mannes. Kreidebleich werde ich und zitternd sinke ich in mich zusammen. Alarmiert fragt mich die Kreatur, ob ich gerade ein Gespenst gesehen hätte. Mechanisch nicke ich – und es sprudelt wie von allein aus mir heraus. „ Mein Ex arbeitete vor seinem spurlosen Verschwinden beim Pharmakonzern Jameson & Jameson in der Niederlassung Norderstedt. Sein Dienstausweis hat ein identisches Symbol wie dieser hier“, meine Stimme ist nur noch ein Flüstern.
„Du meinst den Welt-Pharma-Konzern Jameson & Jameson aus den USA? Den, der sich auf Impfstoffe spezialisiert hat? Dein Ex war dort beschäftigt? In welcher Position?“ fragt er mich neugierig.
„So genau kann ich das nicht sagen. Er tat immer sehr geheimnisvoll, wenn es um seine Arbeit ging und meinte, es wäre besser für mich, wenn ich nicht zu viel wüsste. Ich habe es irgendwann aufgegeben zu fragen und dann war er eines Tages einfach weg. Ohne ein Wort des Abschieds, ohne ein „Warum“ er mich und die Kinder einfach so im Stich gelassen hat. Ich weiß nur, dass er am Vorabend seines Verschwindens sehr nervös war. Wir tranken gemeinsam ein Glas Rotwein und dann erinnere ich mich an nichts mehr. Am nächsten Morgen wachte ich mit einem dicken schmerzendem Arm und schrecklichen Kopfschmerzen auf und er war fort. Auch alle seine Sachen, nur ein schnell hingekritzelter Abschiedsbrief lag auf dem Tisch. Darin stand, dass er mich verlassen würde. Nur wie durch Watte erinnere ich mich an das weitere, denn ich bekam sehr hohes Fieber. Ich verständigte die Polizei, doch die teilte mir mit, dass mein Mann erwachsen und frei sei, zu gehen, wenn er dies wünsche. Daraufhin fragte ich bei Jameson & Jameson nach, doch da hieß es nur lapidar, er habe einige Tage zuvor gekündigt und sie wüssten nicht, was er nun treibe. Nach einigen Tagen, als es mir wieder besser ging, fand ich seinen Dienstausweis unter einer Ecke des Wohnzimmerteppichs. Das fand ich merkwürdig, da er diesen doch bestimmt hätte abgeben müssen. Doch ehrlich, es war mir egal – ich hasste ihn und ich hatte andere Sorgen, denn das Fieber wollte nicht weichen und uns ging das Geld aus. Ich hatte keine Zeit zum Arzt zu gehen, denn ich musste sofort eine Arbeit finden.“
Nach Beendigung meines Berichts wundere ich mich über mich selbst, dass ich dem Sünder so freimütig all das erzählt habe, denn bisher hatte ich es nur dem Prediger, aber nicht in allen Details erzählt, weil ich es einfach vergessen hatte.
Sünder steht wie vom Donner gerührt und sinniert: „Du erinnerst dich nach dem Schluck Rotwein an nichts mehr und du hattest am nächsten Tag einen dicken schmerzenden Arm, in der Folge ein heftiges Fieber …dein Ex arbeitete in einem Konzern, der Impfstoffe entwickelt … Auch du Scheiße…!”
· *Zitat von Karl Leberecht Immermann


Kapitel 9: Aktion und Reaktion


Ich musste mich setzen. Der Schwindel übermannte mich. Claudia saß auf ihrem Hintern auf den Fliesen und war kreideweiß. Was ging da gerade ab in ihr? Das war das erste Mal, dass sie zusammenhängende Sätze sprach, die frei von Flüchen waren. Und es war das erste Mal, dass ich ihr das abkaufte, was sie sagte. Alles sah so aus, als wenn Claudias Ex ihr etwas gespritzt hatte, nachdem er sie betäubte. Die logische Kette hieß: Es musste etwas sein, das sie freiwillig nie zugelassen hätte. Damit war es eine Vergewaltigung. Claudias Ex schien ein echter Mistkerl zu sein. Was aber bedeutete das jetzt? Nichts, schätzte ich. Jedenfalls nichts, was mich anging.

“Dein Typ war ein echter Knaller, was?”, fragte ich in normaler Tonlage. Für eine härtere Ansprache war ich gerade zu schwach. Und doch musste ich das verbergen.
“Er war ein guter Mann!”, trotzte sie.
“Klar. Bis zu dem Punkt, wo er dich als Versuchskaninchen benutzt hat.”
Die Antwort war Schweigen.
“Na komm, hopp, zurück aufs Bett. Ich sorge dafür, dass du diesmal nicht aus den Fesseln diffundieren kannst.”
Diesmal hob ich, ob des Anblickes draußen auf dem Acker, nur widerwillig das Gewehr, um meine Absicht zu bekräftigen.
“Nein”. Tonlos und halbwegs entschlossen widersprach sie mir, trotz des drohenden Gewehrlaufes.
“Wetten doch?”
“Nein, ich will nicht.”
“Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen, kennst du doch. Und dein Prediger hat dich reichlich verbollt, oder sehe ich das falsch? Wie kommst du auf die Idee, dass der Teufel nachsichtiger sein könnte, als ein schwuler Priester?”
Ich lehnte mich weit aus dem Fenster mit meiner Provokation, das wusste ich. Hier und jetzt wäre sie der Sieger, wenn sie mich anspringen würde, so schwindelig war mir.
“Ich könnte dir einen Deal anbieten”
“Was für einen Deal, Schnucki? Du hast nichts, aber auch rein gar nichts, womit du handeln könntest.”
“Und wenn doch?”
“Was soll das sein, hm? Der Splitter eines Asteroiden oder abgelaufenes Dosenfleisch?”

“Zuerst, bevor ich sage, womit ich handle, will ich ein paar Zugeständnisse von dir”
“Zugeständnisse? Und dann gleich mehrere? Lächerlich. Was soll das sein? Habe ich dich nicht fair behandelt? Du durftest duschen, du durftest essen. Allein dafür hätte ich frenetischen Dank erwarten dürfen. Wenn du s wieder auskotzt, ist das nicht mein Problem. Ich finde, ich war ganz schön nett zu dir, wenn man bedenkt, warum du eigentlich hier bist”
“Okay, als Beweis, dass ich es ehrlich meine, schau her”, sagte sie und zerrte am Overall der Toten ein wenig herum. Der Arm, der auf ihrem Brustkork lag, fiel schlaff zur Seite. Auf der linken Brusthälfte prangte ein aufsehenerregendes, weißes Logo.Ein Totenkopf, darunter gekreuzt Neptuns Speer und ein Hirtenstab. Der Schriftzug darunter war von verkrustendem Blut bedeckt, deswegen erkannte ich es nicht sofort. Aber ich kannte das Logo. Jeder, der mit Seefahrt zu tun hatte, kannte es. Sea-Shepherd. Die Hirten des Meeres. Walschützer, Umwelt-Aktivisten, Delphin-Retter. Eine aufrechte und ehrenwerte Truppe allemal. Denen schlechte Absichten zu unterstellen, wäre ein Witz.

Claudias Beweis stürzte mich nun aber in ein Loch. Wenn nicht der Prediger der Angreifer war, sondern die Sea-Shepherds, dann hatte sich gerade eine dritte Front eröffnet und das war ein bisschen viel für diesen Tag und für meinen Zustand. Zugleich machte es Hoffnung. Es gab ganz offensichtlich doch mehr Menschen, als ich vermutete.
“Okay, was willst du?”
Claudia schien überrascht, denn sie fand nicht sofort Worte.
“Ich will nicht mehr gefesselt sein”
“Vergiss es!”
“Nein!”, wieder dieser vehemente Widerspruch, “stell dir vor, diese Psychotruppe greift wieder an, dann liege ich hier wie ein Käsebrötchen und bin tot! Ich will wenigstens kämpfend sterben und nicht darauf warten müssen, mit Lexanbohrern perforiert zu werden!”
“Lächerlich. Als nächstes willst du eine Waffe, was? Keine Chance”, lachte ich sie an.
“Ach komm schon, diese Psychos kommen wieder, darauf wette ich”.
“Aus welchen unerfindlichen Quellen beziehst du deine Weisheit, hm? Den Sea-Shepherds Psycho-Tendenzen zu unterstellen ist lächerlich. Schau dich mal an, denk an den irren Prediger, und du willst denen Wahnsinn bescheinigen? Ha-ha-ha!”
“Sie kommen wieder, ich weiß es!”
“Woher denn?”
“Na, vielleicht habe ich gesehen, wie sie es machen wollen?”
“Wie?”
“Erst dein Wort”
“Nein”
“Tja, dann…”, ließ sie den Satz offen, sah demonstrativ aus dem Fenster und wähnte sich im Vorteil.
Ich stand auf, hob die Waffe und deutete auf das Bett.

“Nein, nein, komm schon. Ich weiß noch mehr”
“Okay, aber du bekommst Handschellen. Friß es oder lass es”
Ich sah ihren Konflikt. Ginge es nur darum, Konzessionen zu erlangen, wäre die Antwort schnell gekommen. Plante man einen taktischen Vorteil, dauerte der Überlegens-Prozess länger. Also blieb es dabei; Ich konnte der Furie nicht trauen. So ein Weib hatte ich noch nie kennen gelernt.

“Okay, Handschellen. Du wirst mir schon noch trauen”
“Garantiert nicht”, dachte ich.
“Also, was weißt du? Raus damit”
Claudia stand elegant auf. Ich wunderte mich einmal mehr, wieviel Kraft in diesem schmächtigen Körper steckte. Wenigstens stank sie nicht mehr.
“Die Typen kommen übers Wasser”
“Aach komm schon, das weiß ich längst! Die Schiffsgeschütze haben vorhin ein Boot zerfleddert”
“Nein, das war die Ablenkung, du Schlaumeier. Die eigentlichen Typen sind auf dem Gelände, Sportsfreund. Ich sah Schnorchel im Wasser. Und deine Geschütze taugen nichts, denn sie haben es nicht bemerkt”
“Erzähl keinen Mist. Spätestens, wenn die an Land gehen, werden sie aufgefasst.”
“Eben nicht! Das sind weder RSGs (*1) noch vibrationsinduzierte Rezeptoren an deinen Kanonen, oder? Aber für diese Information will ich etwas anderes.”
“Sag mal, sind wir hier auf dem Flohmarkt, oder was?” Ich wunderte mich insgeheim, woher sie das alles wusste? RSGs hatten nur die Amis und Vibratrionsrezeptorgeschütze hatte sie gerade erfunden. Aber man musste auch erst einmal drauf kommen!
“Vielleicht nicht”, antwortete sie und schau an, sie konnte sogar lächeln, “aber vielleicht auf dem Bazar.”
Ich musste lachen.
“Also, was willst du?”
“Falls hier ein Gefecht abgeht, will ich freie Hände haben.”
Verdammt, das ging nicht in meinem Sinne ab. Aber ich brauchte die Informationen, um die Feuerautomatik neu zu programmieren.
“Ich traue dir nicht. Ich kann dir nicht trauen, das hast du eindrucksvoll bewiesen”
“Stimmt, aber das war, bevor der Stützpunkt überfallen wurde. Überfallen von Leuten, die nicht zu unserer Truppe gehören”
Aha. “Truppe”. Der verdammte Prediger hatte also eine Truppe zur Verfügung. Eine Truppe hieß: 10 Mann oder mehr.
“Also, was willst du haben?”, fragte ich sie und bemühte mich, nicht zu zeigen, dass sie mir eine wertvolle Information geliefert hatte.
“Ich habe Hunger, ich möchte endlich etwas essen. Nichts Großes. Es muss nur nahrhaft sein.”
“Nichts Großes? Also ein Zwieback und ein Glas Milch oder was?”
“Egal. Milch brauche ich nicht, Wasser reicht”
“Hat das Steak etwa nicht geschmeckt?”
“Es war totes Tier. Der Prediger meint….”, dann verstummte sie.

Ich nickte. Schon klar. Beinahe vermeinte ich, den irren Prediger auf ihrer Schulter sitzen zu sehen. Sie mochte mir vorspielen, kooperativ zu sein, aber sie war weit davon entfernt.
“Okay, essen ist genehmigt. Also?”
“Es ist die Spitze des Schiffes.”
“Du meinst den Bug.”
“Genau. Er ist ungeschützt. Dort sind die Taucher an Land, sind zu den sandfarbenen Containern gekrochen und im angrenzenden Gebäude verschwunden, ohne dass die Geschütze etwas mitbekommen haben. Das nennt man wohl: Toter Winkel”

Verdammt. Der Bug und die Container, in denen die Ersatzteile und die Munition von Rheinmetall untergebracht waren. Ich musste etwas unternehmen. Wenn hier auf dem Stützpunkt Leute waren, waren wir alle in Gefahr. Was ihr Ansinnen, ungefesselt zu sein, untermauerte.
“Okay. Gehen wir essen. Ich habe noch viel zu tun, schätze ich. Wir müssen uns beeilen.”
WIR? War ich jetzt komplett verrückt geworden?
“Es gibt noch mehr”
“Wie bitte? Noch mehr?”
“Ja. Aber dafür will ich eine Waffe”
“Du spinnst. Ich bin doch nicht bescheuert. Man gibt seinem Feind keine Waffe in die Hand”
“Der Feind meines Feindes ist mein Freund, erinnerst du dich?”
“Für wie bekloppt hältst du mich? Um dir eine Waffe zu geben, müsstest du mir den Prediger selbst liefern. Und zwar mit einem Apfel im Maul auf einem Silbertablett.”

Ich provozierte sie bewusst. Wollte ihre Reaktionen sehen. Wollte herausbekommen, wie loyal sie dem Predigern gegenüber war. Aber sie hatte sich gut im Griff. Keine Reaktion. Also war sie sich sicher, dass ihre Information wichtig war. Den Prediger würde sie mir niemals liefern. Aber ich hatte ein Hintertürchen entdeckt.
“Wenn du nicht darauf eingehst, sind wir alle in Gefahr. Auch deine bescheuerte Miezekatze.”
“Das ist ein Ozelot. Und sie gehört mir nicht, es ist eine Freundin, klar?”
“Von mir aus. Also, was sagst du?”
“Ich sage, du willst mich anscheißen. Ich sage, du bist immer noch die Hure des Predigers. Ich sage, du suchst einen Weg, mich umzulegen. Das war von Anfang an dein Plan. Und wenn “wir” in Gefahr sind, wäre es unlogisch, es mir nicht zu sagen. Denn dann kann ich “uns” auch nicht beschützen.”
Sie dachte nach. Wägte ab. Es ist schon spannend, zu sehen, dass sich Denkvorgänge im Gesicht widerspiegeln.
“Okay. - dramaturgische Pause - Der elektrische Zaun geht nicht mehr.”
“Wie bitte? Und das sagst du mir jetzt erst? Wann hast du das bemerkt?”
“Als ich aus dem Fenster sah. Einer der Typen, die an Land gekrochen kamen, hat den Zaun berührt. Nichts passierte.”
Ich musste tief Luft holen. Das passte mir ganz und gar nicht. Ein Riesenloch im Zaun, der Zaun selbst außer Funktion und dazu noch Leute im Gebäude neben dem Kai. Es war eine Lagerhalle. Eine, die ich noch nicht durchsucht hatte. Und ob ich wollte, oder nicht, ich brauchte ihre Unterstützung. Und das ging mir vollkommen gegen den Strich.

“Hör zu”, eröffnete ich widerstrebend meine Ansprache, “ich schätze, wir haben ein Problem. Die Typen wollen etwas, was, weiß ich nicht. Aber ich kann es nicht dulden. Das hier ist kein Selbstbedienungsladen. Wir haben eine Riesen Lücke im Zaun, jeder könnte aufs Gelände, der Elektrozaun hält niemanden mehr ab. Also muss etwas passieren. Zuerst die Typen finden. Wieviele waren es?”
“Vier, wenn ich richtig gesehen habe”
“Du sagst, du bist eine Kämpferin und keine multisexuelle Priesterhure?”
Sie grinste mich an.
“Dann gehen wir jetzt jagen”
Ihre Augen begannen, zu leuchten.
“Ich bekomme eine Waffe?”
“Würde dir doch gar nichts nützen. Sobald du die Nase aus dem Haus streckst, bist du Frittenfett. Sieh dir die Kleine an. Nein, es muss ein Plan her.”
Fieberhaft dachte ich nach. Die Sensoreneinheit brauchte ein paar Sekunden, um ein Ziel aufzufassen, zu verarbeiten, identifizieren und klassifizieren. Die Richthydraulik braucht auch eine gewisse Zeit. Ich schätzte 3, maximal 4 Sekunden vom auffassen bis zum Schuss. Ich würde den Teufel tun, Claudia in die “Freund”- Kennung zu packen. Das würde ich früher oder später bereuen.

“Du brauchst mich. Allein kannst du die nicht plattmachen. Nicht in deinem Zustand.”
Scheiße. Sie wußte es. Oder ahnte sie es nur? Und warum griff sie nicht an? Ich beschloss, nicht darauf einzugehen.
“Diese Typen räumen gerade das Lager aus. Weiß der Kuckuck, was die wollen. Ich muss auf jeden Fall nachsehen. Dazu brauche ich dich, das ist leider wahr.”
Ich sah das triumphale Glitzern in ihren Augen und das machte mir gerade eine Scheiß Angst.
“Wir machen das so. Ich gehe ganz normal auf das Lager zu. Und zwar so, dass die mich kommen sehen. Du wartest am Hintereingang. Wenn die Typen rauskommen, nagelst du sie fest.”

“Wieso ich? Wieso treiben wir sich nicht von zwei Seiten zusammen und machen sie fertig?”
“Du kapierst nicht, dass Informationen das halbe Leben sind, was? Außerdem bin ich Soldat und kein Massenmörder.”
“Du WARST Soldat, Kollege. Jetzt bist du Vogelfrei.”
“Sagt der Prediger?”
“Sagt der Prediger!”
“Na, wenn er sich da mal nicht irrt.”
Ich stand auf. Vorsichtig. Langsam zog ich die P12 aus dem Halfter, entfernte das Magazin. Claudia betrachtete mit eisigem Blick, wie ich alle Patronen aus dem Magazin nahm, bis auf eine.
“Hier”, sagte ich, nachdem ich das Magazin wieder in die Pistole gesteckt hatte, “du hast zwei Probleme, wenn der Plan aufgehen soll. Du hast nur einen Schuss. Du kannst mich umlegen und dich noch eine Stunde lang freuen, bis die Schiffsgeschütze dich beim verlassen zerfetzen, oder… du beweist mir, dass man dir trauen kann.”
“Was ist das zweite Problem?”
“Das zweite Problem sind die Geschütze. Du hast von hier aus drei, maximal vier Sekunden, um hinter das Transformatorhäuschen zu kommen. Dann warten. Weitere drei Sekunden Sprint zum Kompaniegebäude. Das Haus auf der Rückseite umrunden und weitere drei Sekunden Sprint zum Hintereingang des Lagers. Ab vier Sekunden hat dich die Sensoreneinheit erfasst und die Hölle bricht los.”
“Welche Sensoreneinheit?”
Hielt die mich für blöde?
“Die auf dem Schiff, mehr musst du nicht wissen. Ich weiß, dass ich dir gerade erklärt habe, wie man durch die Vordertür rein und wieder raus kommt. Mach was draus. Denn notfalls mache ich die Leinen los und schippere davon.

Ich hielt ihr die P12 hin, mit dem Griff zu ihr. Ich schätzte, es war Judith, mit der ich nun zu tun hatte, denn ihr Blick war eiskalt. Sie stand auf, griff nach der Pistole. Und man merkte sofort, dass sie irgendwie, irgendwo ausgebildet worden war. Denn der erste Blick galt der Sicherung.
“Ein Schuss?”
“Ein Schuss.”
“Gehen wir jagen.” Der lakonische, kalte Ton ließ mich schaudern.

*1 = RSG = RemoteSentryGun (Vollautomatische Abwehrkanonen, auf Geräusche reagierend)


Kapitel 9b „Überraschung“


„Multisexuelle Priesterhure!“ Wie kann es diese widerliche Kreatur nur wagen, mich so zu titulieren! Ausgerechnet mich – die doch alle Reinigungsriten unter der persönlichen Aufsicht des Predigers erfolgreich durchlaufen hat und die jede geschlechtliche Vereinigung gemäß dessen Regeln ablehnt! Nicht so wie dieses schwache Fleisch Claudia, die in selten schwachen Momenten sich sehnsuchtsvoll an die vibrationsinduzierten Orgasmen erinnert, die ihr einst ihr „Zauberstab“ in Ausübung ihrer ehelichen Pflicht verschaffte.
Wie sehr ich diesen Sünder hasse und wie sehr ich die Nähe meines gütigen Mentors vermisse. Am liebsten würde ich Sünders gotteslästerliche Zunge aus seinem Gaumen reißen! Doch, wenn ich jetzt bocke, dann wird es nie etwas mit der nötigen Bewegungsfreiheit um die Aktion „Schleich-dich-in-sein-Vertrauen-bis-er-unvorsichtig- wird-und-dann-schlag-gnadenlos-zu“ zu starten und meine Mission erfolgreich zu beenden.
Er provoziert mich absichtlich! Das ist wieder eine seiner Fallen, elender Klumpen Schleim, aber nicht mit mir! Ich werde mit der Bestie heulen, doch diesen Spruch wird er mir büßen!
Mein Mund lächelt mit zusammengebissenen Zähnen. Eine Waffe - allein das Gefühl - wieder kalten Stahl, in meinen Händen zu spüren! Einen kurzen Moment bin ich in der Versuchung einfach auf den Sünder anzulegen und abzudrücken, doch ich beherrsche mich, denn es wäre schlicht und ergreifend unter meiner Würde. Ich pflege meine Vollstreckungen genussvoll und fast sinnlich zu zelebrieren. Dieser Tod wäre nicht nur zu einfach sondern auch viel zu schnell für die Sünden der Kreatur. Meine Wangen glühen und mein Gesicht strahlt, weil ich endlich tun darf, was ich am besten kann – nämlich kämpfen, die Oberhand gewinnen und Sünder vor das Angesicht Gottes schicken!
Sein Gesichtsausdruck ist weniger enthusiastisch, um es nett zu formulieren. Er traut mir nicht, und das mit Recht - aber er muss – ob er will oder nicht! Allein wird er es gegen die Übermacht der Angreifer nicht schaffen. Zudem muss ich ihn mit meiner Feuerlöscher-Aktion schwerer verletzt haben, als gedacht - sicher seine Rippen - so schmerzverzerrt wie er schaut. Obwohl er sich sehr anstrengt, es zu übertünchen. Doch meine, schon immer guten Instinkte, kann er nicht täuschen.
„Schleich dich von hinten über die Rampe an die Lagerhalle heran“, weist er mich an, „dort hast du mehr Deckung vor dem Turm-Feuer. Denk dran, drei bis vier Sekunden bevor die Geschütze auslösen! Ich komme von vorn und dann treffen wir uns drinnen und machen mit vereinten Kräften die Bande fertig, ok?“
Ist da leichte Besorgnis in seiner Stimme? Hat er etwa Zweifel daran, dass ich es schaffe? Oh Sünder, du hast ja keine Ahnung, welch ein hartes Ausbildungsprogramm ich durchlaufen habe, ich bin die beste der „sieben Sterne“ und, dass ist jetzt nicht übertrieben oder angeberisch. Nicht umsonst trage ich die Nr. Eins.
„Viel Glück!“ ergänzt er verhalten, es klingt fast wie ein Abschied. Die Claudia in mir schluckt einen Kloß hinunter, während Judith wortlos nickt und die Tür öffnet.
Ich spähe mit geschultem Blick über das Gelände, präge mir die Details meines Weges ein, jeden Müllcontainer, jede Wand, die Deckung bietet und jedes Hindernis, über das ich stolpern könnte. Dann sprinte ich los, diffundiere mit der Dunkelheit, werde eins mit ihr. Lautlos und mich immer im Schatten einer Deckung zu den Türmen haltend, sprinte oder robbe ich je nach Lage über das Gelände. Einige Zeit später ist die Halle mit den Rampen in Sicht, nur noch eine mit Gestrüpp bedeckte Brache trennt mich von dem Ziel.
So weit so gut. Es ist auch kein Angreifer in Sicht. Diese freie Fläche kommt mir bekannt vor, schlich hier nicht gestern dieses verdammte Madame-Viech herum? Ich ducke mich und beginne sehr vorsichtig und konzentriert durch das Unkraut zu robben, dabei ignoriere ich Spinnenfäden in meinem Gesicht und über mich krabbelndes Insektengetier, die fiesen Stacheln der Disteln und der Brennnesseln und unterdrücke den Niesreiz, als mich Blütenpollen quälend in der Nase kitzeln. Das beinharte Training des Predigers zahlt sich aus, ich bin eine tödliche Waffe auf zwei Beinen in einem mit Teflon beschichteten Körper. Nichts und niemand kann und wird mich aufhalten!
Mein Hände ertasten beim kriechen dicht über dem Boden etwas Vertrautes: Mein Rucksack! Ich habe ihn gefunden! Am liebsten würde ich vor Freude laut aufschreien. Vorsichtig und leise ziehe ich den Reißverschluss auf und taste nach meinem Karambit. Ich halte es in meiner Hand, fühle die starre Lederhülle, die die metallene gebogene Klinge, welche an eine Raptorenkralle erinnert und auch genauso tödlich ist, verbirgt! Ich kann nicht widerstehen, mein kleiner Finger schlüpft durch den Metallring am Ende des Griffs und meine übrigen Finger legen sich fast zärtlich in die vorgesehenen Vertiefungen. Der Daumen obenauf streichelt es sanft und die Schneide wirft das gleißende Licht des Vollmonds kurz auf meine triumphierend lächelnden Lippen. Ich hauche einen Kuss auf die Seitenfläche der kalten Klinge und drücke es kurz an mein Herz. Oh Baby – wie sehr hab ich dich vermisst!
Zuversicht durchströmt mich, ich werde meine Mission erfüllen, vielleicht sogar noch heute, dann könnte ich gefahrlos zum Prediger zurückkehren, ich wäre noch im Rahmen der Zeit. Ich sichere die Klinge wieder und lasse das Karambit in einer der vielen Klettverschlusstaschen an meiner Hose verschwinden. Bald Mannteufel zerren dich die wehrhaften Erzengel, vor deren Füße ich dich stoßen werde, vor den Thron des höchsten Herrn!
Ich erreiche die Rampe, schleiche über sie ins Innere und sehe vier der Angreifer, die sich an Ersatzteilen und Ausrüstung zu schaffen machen. Meine scharfen Augen scannen den Raum. Sind noch mehr Angreifer hier und wo ist der Sünder? Ich spähe aus meinem Versteck und entdecke seinen Schatten gegenüber von meiner Position. Sein Gesicht taucht aus dem Dunkeln auf, er blickt fast erleichtert in meine Richtung und hält drei Finger vor sein Gesicht. Ich verstehe und nicke, er zählt rückwärts. Bei „Eins“ stürmt er, „Banzai!“ schreiend, aus seinem Versteck und ich stürze mich - den Überraschungsmoment nutzend – aufsehenerregend wie eine Raubkatze von hinten auf den Angreifer, der mir in meiner unmittelbaren Nähe den Rücken zudreht und nocke ihn, mit einem gezielten seitlichen Schlag auf sein Kinn, aus. Es kracht als hätte ich ihm den Kiefer gebrochen. Es kümmert mich nicht! Was der Sünder macht, sehe ich nicht, aber auch sein am nächsten stehender Gegner liegt wehrlos am Boden.
Two Togo! Ein Riesenkerl mit wildem Rauschebart läuft auf mich zu und will mich mit seinen Prankenhänden packen. So wie er mich anschaut, erwartet er das volle Kampfprogramm und stellt sich innerlich darauf ein, ich sehe es in seinen Augen. In Sekundenbruchteilen wäge ich ab. Im Nahkampf hätte ich in meinem geschwächten Zustand sicher keine Chance gegen diesen Bär von einem Kerl. Ich muss ihn direkt mit meinen ersten Schlag zu Fall bringen, sonst habe ich verloren.
Mein Vorteil ist, dass ich total fit und durchtrainiert bin. Mein Killerinstinkt übernimmt und mein Körper spult die kommenden Bewegungen fast mechanisch ab. Mit einem schnellen hohen Sprung mit halber Pirouette, einem “Mawashi Geri” und passendem Schrei trete ich dem Bären mit der harten Sohle meiner Stiefel gegen die Schläfe. Das hat er nicht erwartet, keine Gegenmaßnahmen ergriffen, denn er fällt wie ein Sack zu Boden. Den Rest gebe ich ihm mit einem gezielten Schlag gegen seinen Solar Plexus. Auch Sünders letzter Gegner liegt erschlafft am Boden. Sünder ist auf Adrenalin und in Hochstimmung, strahlt dabei wie ein frisch geputzter Dreckeimer. Frenetisch lobt er meine effektive Kampftechnik und faselt etwas von toller Teamarbeit. Im Team mit dem Sünder? Jede Zelle meines Körpers windet sich in Ekel. Allein die Vorstellung, dass der Prediger diesen Umstand erfahren könnte, lässt mich grausen.
Das ehemals sicher peinlich aufgeräumte Lager sieht aus wie nach einem Asteroideneinschlag. Aus den Schränken und Kisten wurde alles Mögliche an Ausrüstungsgegenständen, EPa`s, Obstkonserven, Dosenfleisch sowie allerlei Ersatzteilen achtlos herausgerissen und liegen nun überall verstreut herum. Wir brauchen etwas, um diese Angreifer zu fesseln, solange sie noch wie die Engelchen schlummern. Doch müssen sie genügend Bewegungsfreiheit haben, um mit uns kriechend die Distanz zu unserem Gebäude zu überwinden. Mit was denn nur? In diesem gigantischen Durcheinander entdecken wir einige Seile - das ist die Lösung! Sünder beginnt, den Angreifern die Seile um ihren Bauch zu winden und sie wie Luftballons an einer Schnur miteinander zu verknoten. Nicht schön, aber selten. Ich checke zur Sicherheit ihre Hosentasche und voilà – fördere ich einige fiese Waffen zu Tage, Klappmesser, eine Pistole und einen Lexanbohrer.
Zuletzt schütte ich einen Eimer Wasser über ihnen aus, damit sie aus ihren Schläfchen erwachen und gemeinsam treiben wir sie mit unseren Waffen im Anschlag auf die Beine. Wir geben ihnen zu verstehen, wohin sie in breiter Front zu kriechen haben und folgen ihnen, die Läufe auf sie gerichtet. Ich habe ihnen angedroht, ihnen die Eier abzuschneiden, wenn sie sich auf dem Weg auch nur einmal mucksen. Der Sünder hat dabei ein strenges Gesicht zustande gebracht, obwohl er sich lieber vor Lachen ausgeschüttet hätte. Doch hat es gewirkt! Sie halten mich für die Fiesere von uns beiden und haben Angst vor mir. Judith genießt es. Das war ja fast zu einfach, denke ich bei mir.
Irgendwie sind Thomas und ich ein ziemlich gutes Team! funkt Claudia dazwischen.
Schnauze Claudia, verzieh dich in den letzten Winkel meines Körpers, sonst lasse ich dich leiden! Mit der Pestilenz kooperiert man nicht! knurrt Judith lautlos.
Wir erreichen gerade die Rückseite des Stützpunktes, die vor dem Geschützfeuer der Türme sicher ist, als uns das Sirren und die Einschläge eines wahren Pfeilhagels um uns herum aufs Höchste alarmiert.
„Los durchs Fenster, Beeilung!“ befiehlt die Kreatur und wir springen auf unsere Füße. Die vier Zusammengebundenen agieren gezwungenermaßen langsamer. Mit gezücktem Messer (Ist das etwa eins von meinen?) schneidet Sünder die Seile durch und treibt die Gefangenen zur Eile an, während ich das Ganze mit Waffe im Anschlag sichere, als das Sirren in meine Richtung immer bedrohlicher wird. Meine feinen Härchen stellen sich ob der unsichtbaren Bedrohung auf und, als ich mich instinktiv ducken will, bricht der Sünder hinter mir wie in Zeitlupe in sich zusammen. Erschrocken registriere ich einen gewaltigen schwarzen Pfeil, der unterhalb seiner Schulter steckt.
„Nein!“ schreien Judith und Claudia gleichzeitig, allerdings jede aus einem anderen Beweggrund.
Ich fasse es nicht, er hat den Pfeil, der für mich bestimmt und sicher tödlich gewesen wäre, mit seinem Körper abgefangen. Er hat mich beschützt! Warum? Seit wann retten Teufel Leben? Ist er tot? Ich gehe in die Hocke und greife nach seinem Puls, während ich die Pistole auf die vier Typen richte ohne sie aus den Augen zu lassen. Er ist schwach, aber vorhanden, er lebt. Er hat MICH gerettet, MICH – seinen schlimmsten Alptraum!
Judith übernimmt sofort mit eiskalter Routine das Kommando und Claudia ist dankbar dafür. Zum überhaupt allerersten Mal lässt Claudia sie ohne Gegenwehr agieren, denn Judith weiß nun, was zu tun ist!
Zuerst muss ich die Gefangenen einsperren, bevor ich den Sünder retten kann. Ich brülle dem Typ mit dem dick geschwollenen Kinn zu, er solle die Kabelbinder aus Thomas Hosentasche nehmen und dem Bären die Daumen vor der Brust zusammenbinden. Dann den Arm des nächsten durch den Arm des Bären fädeln und wieder die Daumen binden und so weiter wie beim Luftmaschen häkeln , nur viel schneller! Den Kinn-Typ übernehme ich. Das Ganze dauert nur wenige Sekunden, während weitere Pfeile um uns herum einschlagen. Ich treibe sie so gefesselt in das Innere, ziehe nochmal die Kabelbinder nach und siehe da, es war noch Spiel – jetzt nicht mehr! Schließe die Tür hinter mir ab und renne geduckt zurück zum Sünder.
Jetzt ist höchste Eile geboten, denn nicht nur Sünder, ähm Thomas braucht meine sofortige Hilfe, ich kann auch die Typen nicht so lange derart gefesselt lassen, weil ihnen sonst die Daumen absterben. Eigentlich ist Judith das egal, aber Claudia flüstert: „ Vielleicht sind sie noch von Nutzen?“
Der Pfeilhagel hat nachgelassen. Da liegt er, noch immer bewusstlos. Er blutet und dieses Mistvieh von einer Katze steht mit dem Kopf über seinen gebeugt, über ihm und schnüffelt oder leckt an ihm. Die wird ihn doch nicht fressen wollen? Gerade zücke ich die Waffe und lege auf sie an, als ich sehe, wie sie über sein Gesicht leckt. Ich senke die Waffe. Nein, fressen will sie ihn wohl nicht – aber was …? Verdammt, mir kommen die Tränen, die Rührung übermannt mich, dieses wilde Tier liebkost Thomas mit seiner rauen Zunge, der eben zu sich kommt und die Augen aufschlägt. Er flüstert mit schwacher und schmerzverzerrter Stimme:
„Ist ja gut Madamchen, Thomas ist wieder da, so schnell kriegen mich diese Stinkstiefel nicht kaputt. By the way, du brauchst ein TicTac…so wie du aus dem Halse stinkst, mein Kätzchen“.
Er tastet schwach mit der Hand nach seiner Wunde mit dem Pfeil, stöhnt und streichelt dann über ihr Fell. Er versucht sich aufzurichten und fragt sich wohl eher selbst, wo denn der verdammte Racheengel (damit meint er wohl mich) steckt. Dann sieht er mehr von mir als ihm liebt ist.
Madame faucht unvermittelt, krümmt ihren Rücken und setzt zu einem Sprung an. Sünder, Thomas sieht mich mit meinem Karambit auf ihn zu rennen, seine Pupillen weiten sich in Überraschung „Scheiße!“ ruft er aus, tastet hektisch nach seiner Waffe, als er sie nicht findet, registriere ich so etwas wie “ Ich ergebe mich Schlampe, du hast gewonnen!” in seinem Blick.
Madame sprintet los, doch nicht in meine Richtung, sie vollzieht eine 90 Grad-Wende in Richtung des Brachlandes. Eben flüchten tapsend und maunzend ihre kleinen Kätzchen aus dem hohen Unkraut, von einem weiteren Angreifer aufgeschreckt. Madame springt ihn frontal an und bringt ihn zu Fall, ehe er reagieren kann. Ich lasse meinen verdutzten Retter links liegen, obwohl mich einen sehr kurzen Moment lang, der Gedanke streift, dass jetzt eine tolle Gelegenheit wäre, die Mission zu Ende zubringen. Stattdessen renne ich dem Katzenvieh hinterher und werfe mich mit so viel Schwung auf meine Knie, dass ich auf dem matschigen Untergrund noch eine Stück rutsche, den Typen packe, ihm die scharfe gebogene Klinge an den Hals setze und eigentlich vorhabe, kurzen Prozess mit ihm zu machen.
„CLAUDIA – STOPP!“ ruft Thomas, „er könnte nützlich sein!“
„Ich heiße Judith!“ schreie ich trotzig. Ein Blutstropfen umschmeichelt die Messerspitze. Der Typ liegt da wie vom Donner gerührt. Er ist so überrascht, dass es ihm die Sprache verschlägt. Weitere Tropfen rotten sich zusammen, bilden einen kleinen Kreis, der schließlich den Gesetzen der Schwerkraft gehorchend, in einem dünnen Faden den Hals herunter rinnt. Ganz still und bewegungslos vor Angst liegt er. Sein heftiger Atem hebt und senkt hektisch seinen Brustkorb auf und nieder.
„ Nein, du bist Claudia! Hörst du – C-L-A-U-D-I-A- ist dein Name! Bekämpfe die andere Seele in deiner Brust, leiste Widerstand! Du bist nicht so wie Judith! Du hast Mitgefühl, du bist ein Mensch, du bist nicht SIE! Verschon ihn, bitte, CLAUDIA, töte ihn nicht, wir werden ihn noch brauchen! Denk nach, dann weißt du, dass ich Recht habe!“ stöhnt Thomas mit letzter Kraft und taucht erneut in die erlösende Schwärze der Bewusstlosigkeit ein.
Judith und Claudia ringen in ihrem Inneren miteinander. Ich fluche unanständig.
„Na schön, du Mistkerl, auf die Beine mit dir, nur eine falsche Bewegung und du bist Geschichte, kapiert!“
Er nickt stumm. „Ab mit dir Madame! Kümmere dich um deine Kleinen und – gut gemacht!“ lobt die fifty/fifty-Mischung aus Judith und Claudia den Ozelot streichelnd. Schnurrend entfernt sie sich mit ihren Kleinen ins Dickicht des Unkrauts.
„Los, trag ihn ins Lazarett, aber schnell.“
Als Thomas bleich vor mir auf der Liege liegt, denke ich nur noch daran, wie ich ihn retten kann. Judith schwächelt, sie kämpft mit sich. Die Mission muss erfüllt werden gegen er hat dich selbstlos gerettet, er war bereit, sein Leben für dich zu opfern. Das kann nicht Sünde sein! Der Prediger hat sich womöglich in ihm getäuscht?
“ Ich kann das, ich schaffe das und ich will es!“ haucht Claudia
Ich breche den größten Teil des Pfeils ab. Da es sich fieser Weise um einen Jagdpfeil handelt, kann ich ihn wegen der Widerhaken an der Spitze nicht einfach aus seinem Körper herausziehen. Ich würde meinen Retter noch schlimmer verletzen. Improvisation ist jetzt und hier gefragt, denn ich bin kein medizinisches Personal, und Claudia konnte früher nicht mal Blut sehen, ohne dass ihr kotzübel wurde. Zum Glück hat sie Judith tatkräftig an ihrer Seite.
Ich laufe zu wahrer Hochform auf. In scharfem Ton weise ich den Typen an, sich gefälligst nützlich zu machen:
“Dreh ihn auf die Seite und halte ihn gut fest, während ich euren Scheißpfeil aus seinem Körper hole! Ich warne dich, wenn ich merke, dass du dich nicht genügend anstrengst oder irgendwelche Tricks abziehst, dann ramme ich dir das Ding anschließend in deinen Arsch!”
Mein Gesamtbild aus Entschlossenheit, Mimik und der Waffe in meiner Hand überzeugt ihn davon, dass ich es bitterernst meine und ergeben nickt er, gehorcht wie ihm befohlen. Suchend blicke ich mich mit einem Auge in dem Lazarettzimmer um, ich bräuchte so eine Art Hammer. Da hier aber keiner offen herumliegt und ich weder Zeit noch Muse zum Suchen habe, greife ich mir eine Packung steriler Kompressen, ein Desinfektionsmittel und eine der Edelstahl-Nierenschalen auf der Ablage.
In der Hoffnung, dass letzteres ein deutsches Qualitätsprodukt ist, hole ich tief Luft und schlage mit dem Schalenboden entschlossen und, so fest ich kann, gegen das Pfeilende. Thomas erwacht und schreit wie am Spieß, als sich die Pfeilspitze schmerzhaft ihren Weg durch sein Fleisch bohrt.
Claudia schüttelt sich, die ganze Aktion geht ihr durch Mark und Bein, sie hat solches Mitleid mit dem armen Thomas und ist von lähmender Angst erfüllt, aber nur für Bruchteile von Sekunden.
Die Pfeilspitze tritt aus seinem Rücken heraus und mit einem Ruck ziehe ich den Rest aus seinem Körper. Sünder, Retter, Thomas blutet stark, wimmert und krümmt sich, doch, wenn der Herr es so entscheidet, dann wird er überleben.
„Stell dich nicht so an!“ herrsche ich ihn an, „bist du ein Mann oder ein kleines Mädchen?“
Zur Antwort kommt nur ein Stöhnen. Ungerührt nehme ich die Flasche „Braunol“ und übergieße damit die Wunden. Wieder wimmern und klappernde Zähne zusammen beißen.
“ Drück die Kompressen feste auf die Wunden, sonst…”, belle ich entschieden in Richtung meines unfreiwilligen Helfers.
“Jaja, ich weiß, sonst rammst du mir den Pfeil ungespitzt in meinen Allerwertesten, das sagtest du schon”, ergänzt er meinen Satz mit einer gehörigen Portion Zynismus durchsetzt mit tiefer Seelenqual im Ton. Ich ziehe meine Augenbraue hoch - ganz schön frech der Typ! Na warte, so redet man nicht mit einer Vollstreckerin, du wirst schon sehen, was du davon hast, du Wurm! Ich werde dir schon sehr bald eine Lektion in Sachen Demut erteilen. Doch erst gibt es wichtigeres zu erledigen. Thomas ist erneut selig hinter den Vorhang einer gnädigen Ohnmacht geschlüpft. Ist auch besser so!

eyes002
******ace Mann
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F 220, Kapitel 9B (Rest), 10
Thomas schlägt langsam seine Augen auf, starrt erst an die Decke und dann ungläubig zu mir. Ich sitze lässig mit übereinander geschlagenen Beinen auf einem Stuhl an seiner Seite. Wir blicken uns direkt in die Augen, Erstaunen und ein wenig Unverständnis liegt in seinem Blick, so als könne er sich nicht erklären, warum er noch lebt. Dann bemerkt er einen weiteren Umstand, der seine angespannten Gesichtszüge in ein Grinsen transformiert. Der Typ kniet mit verbundenem Hals, in devoter Haltung mit gesenktem Kopf und wie ein Rollbraten bewegungslos in Seile verschnürt, brav neben mir.
Das Seilende halte ich in einer Hand, die Waffe in der anderen. Ich bin sehr zufrieden mit mir!



Kapitel 10: Das Bündnis


Es war nicht wie immer. Kein langsames Erwachen, kein herübergleiten in die echte Welt. Es war nicht wie damals, als ich nach der Schussverletzung aus der Narkose erwachte. Als ob man fliegend-schwebend durch eine Wolkendecke brechen würde und sich die Details erst nach und nach enthüllen.

Nein, es war anders. Pochend, pulsierend, heiß und brennend. Meine Schulter fühlte sich an, als bade sie in Magma. Jetzt kam auch die Erinnerung. Ein sirrendes Geräusch hinter mir. Ich drehte mich um und sah nur noch, was da angeflogen kam. Mit abartiger Wucht traf mich der Pfeil.
Ich öffnete die Augen. Scheiße. Wer saß da? Claudia? Judith? Dem Grinsen nach Judith. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Sie blickte siegessicher herab. Ich folgte dem Blick; erkannte den Fremden. Knieend und verpackt wie eine Weihnachtsgans sah er aus, wie ein Häuflein Elend in Geschenkpapier. Ich musste grinsen, aber es wurde wohl nur ein schmerzverzerrtes Zähnefletschen daraus.

“Du hast deine Uniform versaut”
“Und du deine”
“Ruf Clementine an, Blut ist schwer rauszubekommen”
“Wer ist Clementine?”
“Vergiß es. Wer ist Tarzan hier?”
Ich sah mir den knienden Typen an. Auch er trug das Logo der Sea- Shepherds auf dem Pullover. Dann sah ich wieder zu Judith. Oder Claudia. Wer auch immer. Egal, wer mich verarztet hatte, Judith musste es zugelassen haben. Die Frage, war: Warum?
“Keine Ahnung. Aber wenn es nicht redet, wird es Katzenfutter.” Judith, todsicher. Ich durchschaute sie. Einschüchterungstaktik. Tarzan hatte sie in Aktion erlebt und er hatte allen Grund, zu glauben, dass sie an Skrupellosigkeit und Durchsetzungskraft die Spitze der Nahrungskette markierte.
Ich wollte mich aufsetzen, ließ das aber schnell wieder. Punkte und rote Kringel tanzten vor meinen Augen, die Luft wurde knapp und ich sah wie durch einen Tunnel. Ich hob die Hand.

“Hilf mir mal hoch”
“Du…”
“Keine Widerrede, die Zeit wird knapp”, stöhnte ich. Aber ich meinte es genau so. Sie half mir, mich aufrecht hinzusetzen. Ich sah sie scharf an. Wenn ich nur wüsste, was sie im Schilde führte? Ein reines Wunder, dass ich noch lebte. Sie hatte alle Gelegenheiten gehabt. War es die große Katze? Ich war benommen, hatte aber ihr Gesicht gesehen.

Der Schwindel legte sich nach ein paar Augenblicken. Ich sah mir den Typen, den Judith verpackt hatte, genauer an. 1,72 lang, unglaublich hager, Vollbart. Eigentlich nur ungepflegt. Unterernährt und ungepflegt ist fast so schlimm wie dumm und geil. Seine Hände. Rau und dreckig, die Nägel ausgerissen, verschorfte Wunden überall, bis hinauf zu den Oberarmen. Das Alter war schwer zu schätzen unter der Dreckschicht. Aber es sollte zwischen 28 und 36 liegen.
“Name, Rang und Einheit, Soldat!”

Er hob den Kopf. Rehbraune Augen, die Leid ausdrückten, Entbehrung und Verzweiflung. Scheiße, das war kein Killer. Im Vergleich zu Judith war das hier ein Chorknabe. Aber eine Antwort blieb er mir schuldig.
“Pass auf Kleiner”, begann ich meinen Appell, “du hast zwei Möglichkeiten: Ducken oder bluten. Entweder, du beantwortest die Fragen des guten Typen,”, dabei deutete ich auf mich, “das bin ich, oder du bekommst die Bestie auf den Hals und wirst gepellt wie eine Wiener Wurst. Und zwar von der da.”, dabei deutete ich auf Judith, die immer breiter grinste.
“Maximilian Thal”, anwortete er brav, “ich bin kein Soldat”
“Gut. Wieviele seid ihr, wo seid ihr und wer ist euer Anführer?”
“Sag ich nicht!”

Meine Schulter brannte wie die Hölle, und ich musste mich sehr beherrschen, aber ich griff in die Tasche, holte die anderen .45er Patronen heraus und gab sie Judith. Sie griff stirnrunzelnd zu; der Blick, den sie mir zuwarf, verhieß Unverständnis.

“Schau mal Kleiner. Das sind Fünfundvierziger Pistolenpatronen. Flachkopfgeschosse. In den Kopf geschossen ist sofort Schluss, aber in die Gliedmaßen getroffen, hast du den Rest deines Lebens Spaß daran. So etwas machen wir aber nicht, gell Judith?”
Und sie spielte mit. Seltsamerweise wusste sie exakt, was ich wollte. Wie eine Katze war sie urplötzlich hinter ihm. Wie durch Zauberei hielt sie ihren krummen Dolch in den Händen, setzte ihn an einem seiner Ohren an.
“Ich wollte schon immer auch so feine Ohrringe haben” zischte sie.
“Ihr Schweine habt meine Schwester umgebracht!”, kam es hasserfüllt aus ihm heraus.

Thal? Thal! Scheiße. Judiths Messer sank ein wenig herab. Vielleicht war sie gar nicht so biestig, wie ich dachte. Oder ihr Alter Ego hatte Einspruch angemeldet.
“Nein, Kollege, deine Schwester hat sich selbst umgebracht. Steht überall dran, an den Zäunen. Militärischer Sicherheitsbereich. Bei widerrechtlichem Betreten wird von der Schusswaffe Gebrauch gemacht. Wer lesen kann…”
“Trotzdem! Verdammt sie war erst 16!”
“Und? Du willst uns die Schuld geben? Wo warst du denn, als es darum ging, deine Schwester zu beschützen, hm? Ich glaube, dass deine Schwester einen viel ehrenwerteren Tod gestorben ist, als du Spinner!”
“Tot ist tot. Ich war hinter der Baumgruppe, als die Idioten auf dem Schiff losgeballert haben”

Die Idioten auf dem Schiff? Ein schneller Blick auf Judith. Fragender Blick. Die wussten gar nicht, dass wir zu zweit… dass ich allein war. Jetzt hieß das Spiel: Poker.
“Kleiner, mit dem Schiff können wir im Umkreis von 200 Kilometern so ziemlich alles plattmachen. Wieso informiert ihr euch nicht, bevor ihr so einen Bullshit macht? Ist das die Ausbildung des legendären Seetaktikers James Watson? Niemals, oder?”
“James Watson? Sie meinen Paul Watson. Der ist auf See. Er lebt dort und kommt nur noch selten an Land.”
“Watson lebt? Cool.”
“Was ist cool daran?”, warf Judith ein.
“Erstens wusste er den richtigen Namen. Zweitens sind die Typen harmlos und dr…”
“Harmlos?”, bellte Judith, “und deine Schulter war ein Versehen, oder wie?”
“Judith, das sind Umweltschützer, keine paramilitärischen oder noch schlimmer: religiösen Aktivisten. Sie schützen das Leben. Genau wie Soldaten, kapiert?”
“Soldaten sind Kriegstreiber und Aggressoren!”
“Judith! Soldaten kämpfen, das ist ihre Aufgabe. Sie kämpfen für Menschen, die nicht selbst kämpfen können. Nur dazu sind wir da. Und bevor du weitersprichst: Alles andere ist Politik. Denk mal drüber nach!”

Und zu Maximilian gewandt:
“Max. Ich darf dich doch Max nennen, nach allem, was bisher geschah. Eure Leute haben versucht, hier einzudringen. Das ist verboten. Also gib nicht uns die Schuld. Und was zum Geier wolltet ihr hier eigentlich?”
Man sah seinen Konflikt. Er war hin und hergerissen zwischen der Wut über den Tod seiner Schwester und seinem Auftrag.
“Wir sind noch knapp Vierzehn. Als wir die Kampagne starten wollten, waren wir über 180 Mann. Als die Seuche ausbrach, waren wir auf dem Weg zu den Faröern. Die “Bob Barker” kam aber nie an, die “Steve Irwin” auch nicht, die “Brigitte Bardot” liegt defekt in Ullapool. Unsere Autos und die Ausrüstung stehen noch am Kai. Wir haben keine Klamotten mehr, keinen Sprit und nichts zu essen. Die Privathäuser sind leer, die Geschäfte sind leer, die Tankstellen und überhaupt alles andere auch. Wir dachten, dass hier alles ist, was wir brauchen.”
“Nun, das stimmt auch. Es gehört euch nur nicht.”
“Wen interessiert das noch, nachdem die Menschen alle weg sind? Seid ihr schonmal hier rausgekommen? Leichenberge, alles tot, alles im Arsch. Dass teilweise noch Strom da ist, ist ein reines Wunder. Und die Menschen da draussen…”

“Was für Menschen?”
“Es gibt Überlebende. Ein paar hier, ein paar da. Sie ziehen umher, Tieren gleich. Sie rauben, sie töten, sie plündern. Wir haben uns immer vor ihnen versteckt, weil sie wie Tiere sind. Sofort zum Angriff bereit, brutal und rücksichtslos. Seit einiger Zeit allerdings… sehen wir niemanden mehr. Die Strassen sind tot, tagsüber und auch in der Nacht.”
“Weil?”
“Weil wir vor ein paar Wochen einen der Typen gesehen haben. Er verhielt sich nicht, wie sonst. Er hatte einen Plan und ging ihn systematisch ab. Wir verfolgten ihn. Bis zu einer Zeltsiedlung vor der Stadt. Was dort abging, wollt ihr nicht wissen”

Ich sah den Ausdruck in Judiths Gesicht. Als ob man sie mit den Fingern in der Kasse erwischt hatte! Sie war blass, die Knöchel um ihr Messer traten weiß hervor; sie war drauf und dran, den Max umzulegen!
“Doch Max, ich will es ganz genau wissen!”
Judith sah aus, als stünde ihr Hebel im Hirn auf der Kippe. Niemand wusste zu welcher Seite er kippen würde. Ich brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, dass Judith mir mein Gewehr genommen hatte. Also blieb nur die schärfste Waffe: Der Verstand.

“Judith!”
Sie sah mich an. Verstört. Wütend. Zweifelnd.
“Judith, das ist wichtig. Ich muss wissen, was vorgeht! Ich kann nichts reparieren, wenn ich nicht weiß, was kaputt ist, verstehst du das?”
“Deine Freundin ist irre, oder?”, wollte Max einen Witz machen.
“An deiner Stelle würde ich lieber die Schnauze halten, Sportsfreund. Ich bin verletzt und wehrlos, und wenn Judith auf die Idee kommt, deine Eier zu filetieren, kann ich sie nicht davon abhalten. Also?”
Ich beobachtete Judith. Wenn Shakespeare schrieb: “Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.”, wusste ich spätestens jetzt, was er meinte. Es waren zwei Personen in diesem Körper. Und sie stritten. Und nur Glück würde entscheiden, welches Ergebnis wir vorzuweisen hatten.
Als ich sah, wie die weißen Knöchel sich ins rötliche verfärbten, wusste ich, dass Max reden durfte.

“Da sind wenigstens zweihundert Leute versammelt. Alles verschiedene Menschen. Eine Stadt aus Zelten, angelegt in konzentrischen Kreisen rund um ein bestimmt zwanzig Meter hohes Kreuz aus Metall. Von außen nach innen wohnen wohl die Leute nach ihrer Wichtigkeit und direkt am Kreuz wohnt ein Typ, den die Hölle ausgespuckt hat.”
“Beschreib ihn mir”, kam meine tonlose Aufforderung. Ich hatte eine Ahnung.
“Er ist hager, unglaublich dünn und speckig und sein Kopf sieht aus wie der Totenschädel auf einer Giftflasche. Seine Augen sehen aus, als wäre der Wahnsinn dort zuhause. Er muss ein Priester sein oder Dekan oder ein Geistlicher, der vollkommen irre ist.”

“Wie kommst ausgerechnet du darauf, dass der Prediger irrsinnig ist?”, fauchte Judith und ihr krummes Messer ritzte seine Ohrläppchen ein.
“Judith! Lass ihn reden! Seine Meinung ist seine Meinung, oder steht in der Bibel etwas von Interpretation? Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen steht da! Und er denkt, was er denkt, klar?”
Ich wusste nicht, was sie gerade dachte, aber rühmlich war es nicht.
“Erzähl weiter”, forderte ich Max auf.
“Der… Prediger faselt etwas vom jüngsten Gericht. Er redet vom Untergang der Welt, von Gottesprüfungen der Gerechten. Er sagt, man soll Opfer bringen auf dem Altar der Rechtschaffenheit. Er sagt, nur Blut kann die Sühne herbeiführen. Die Entsagung und die Aufopferung und die Enthaltsamkeit. Und jeden Tag schlachtet er ein Schaf auf dem Altar unter dem Kreuz.”
Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Das, was ich als bedrohlich empfunden hatte, als vages Gefühl, dass etwas nicht stimmte, als subversives Element in meinem Umfeld… war das Fehlen der Schafe! Sie waren nicht mehr da, und das war es, was ich zwar wahrgenommen, aber nicht registriert hatte! Der Spinner von Prediger hatte sie geopfert.

“Wir haben die tagelang beobachtet, die haben sogar eine eigene Bibel”, erklärt Max, und Judith schäumt vor Wut. Ich sehe es nicht, ich spüre es. Die Spannung steigt. Fast schien es, als verdichte sich die Luft und wurde zu einem zähen Brei. Was Max nicht von seiner Generalbeichte abhielt.
“Bibel. Woher haben sie sie?”
“Selbst gemacht. Der Oberguru hat sie im Original. Jedes Mitglied muss die Bibel vom vorherigen abschreiben, Punkt für Punkt.”
Na,
das sprudelt ja nur noch so!
*top*

schon beeindruckend!
*********ynter Frau
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Kapitel 10b: Freund oder Feind?
Kapitel 10b: Freund oder Feind?
„Diese Predigertypen sind doch alle nicht ganz dicht!“ schließt Maximilian Thal seinen Bericht.
Auf Krawall gebürstet blickt er mich an. Judith ist mehr als erbost über seine diffamierenden Worte, um nicht zu sagen, sie kocht vor Wut und, es juckt gewaltig in ihren Fingern, ihn mit ihrem Karambit auf der Stelle zum schweigen zu bringen.

„Lügen, alles elende Lügen. Der gütige Prediger betreibt keine Gehirnwäsche, du elender Wichser! Was weißt du Wurm, denn von uns Auserwählten?“, schreit sie ihn an und nimmt den Verschnürten bedrohlich in den Schwitzkasten.

Bevor Thomas sich verbal einschalten kann, mischt sich eine erstarkte Claudia mal wieder ungefragt und mit dem richtigen Feeling für ungünstige Momente ein:

Ich war gebrochen, zusammengesunken am noch glimmenden Scheiterhaufen meiner Kinder, als ER mich fand. Er nahm mich an der Hand, brachte mich ins Lager und erklärte mir die neuen Regeln. Er gab mir ein neues Zuhause und füllte die leere Hülle mit neuem Leben.
Wie oft musste ich die Bibel abschreiben bis sie fehlerlos war? Fünf Mal, zehn Mal? Ich weiß es nicht mehr! Tatsache ist, dass ich sie am Schluss vom ersten bis zum Wort auswendig konnte und völlig verinnerlicht hatte. Erinnerst du dich Judith, wie oft wir bitterlich weinten, weil in den letzten Sätzen wieder ein Fehler war und wir zusehen mussten, wie der Prediger das Heft mit den Worten zerriss: „Keine Bibel, kein Essen und weitere 20 Peitschenhiebe für dein Seelenheil, weil du abermals gefehlt hast. Der Herr braucht und will nur die Besten für seinen Kampf gegen das Böse! Du musst dich mehr anstrengen, schwaches Weib, sonst bist du nicht von Nutzen für die heilige Sache!“
Weißt du noch Judith, wie viele Peitschenhiebe es waren? Erinnerst du dich an den Bleistift, der immer kürzer wurde und an Predigers Warnung, dass damit auch deine Chancen auf ein Weiterleben immer mehr schwänden? Daran, wie du mit dem letzten bisschen Graphit das finale Wort in deiner fehlerlosen Bibel schriebst?

Ich schlucke, ob der schlimmen Erinnerungen, die meinen Verstand fluten.
Judith will das nicht hören. Sie hält sich bildlich gesprochen die Ohren zu und schreit gegen Claudias Worte an.
Sie sind wieder da - die Schmerzen der öffentlichen Auspeitschungen, die kollektive Verachtung der anderen, weil ich gefehlt habe. Fühle ihre Blicke, die mir entgegen schleudern, dass ich ihrer Gemeinschaft nicht würdig sei. Sie gehen mitleidslos an mir vorüber und bespucken mich.

Blutend und zusammen gekrümmt im Dreck liegend, fast besinnungslos vor Schmerzen, schwöre ich mir, dass ich es schaffen werde, um nicht so zu enden, wie die vielen anderen, die auf dem Scheiterhaufen brannten.
Doch dazu muss ich das Wesen, das mich bislang ausmachte, in mir vernichten oder zumindest derart in Ketten legen, dass es mein künftiges Dasein nicht mehr gefährdet.
Ich spüre wieder den Hunger der Askese in meinen Eingeweiden, die Trauer über den Verlust meiner Kinder, den Hass auf meinen Ex, weil er mich in diesem Elend allein gelassen hat.
Verurteilt zu einem Leben, das mich anwidert, doch einfach aufgeben und sterben? Nein – das möchte ich auch nicht! Davonlaufen, um dann elendiglich zu verhungern? Keine Option! Es bleibt mir keine andere Wahl - ich merze Claudia aus, denn sie ist schwach. Nicht fähig, in dieser Welt zu überleben.

In meinem persönlichen Fegefeuer wird Judith aus Blut, Schmerz und unerbittlicher Härte geschmiedet. Ich schinde, läutere, konzentriere und übe mich. Gebe alles, bis nichts mehr von Claudia übrig ist, so lange bis ich, Judith, die beste von allen bin.
Unverzichtbar für des Predigers Mission und bald eine seiner engsten Vertrauten.

Meine Aufträge erhielt ich direkt aus seinem Mund und den Segen für meine Missionen spendete er mir durch Handauflegen. Diese Energie, die mich in diesen Momenten durchströmte und dieses Glücksgefühl, ihm dienen zu dürfen!
Sie erfasste mein Denken und mein Handeln, beseelte mich, spülte alles Unreine aus meinen Gedanken und gab mir die Kraft, sein Instrument der Läuterung zu sein.

Die Bilder verschwimmen vor meinen Augen. Tränen rinnen aus meinen Augen.

Was mache ich hier? Ich konspiriere mit dem Feind! Claudia wird stärker, sie verrät mich und die Mission. Ihre Schwäche und ihr Mitgefühl lähmen mich. Ich muss hier raus, sofort! Ich muss nachdenken! „Die, die denken, lassen sich nicht lenken – sind nicht mehr von Nutzen, lass sie uns vom Antlitz der Erde putzen! Predigers Sprüche hallen durch meinen Kopf. Nein!

Ich schubse den Rollbraten so heftig von mir, dass er hart auf den Boden landet und möchte aus dem Raum laufen. Doch Thomas, so schwach er auch ist, packt meine Hand und hält mich fest.

„Wach auf, Claudia, lass diesen Alptraum hinter dir. Schließ dich mir an, vergiss den Prediger und deinen Auftrag, mich kaltblütig zu killen.
Du bist unter dieser „Full Metall Bitch“ noch immer der Mensch und die Frau CLAUDIA. Du fühlst und leidest, bist keine tumbe hirnlose Killermaschine, die mechanisch, Befehle befolgt.
Es ist ok, wenn du erst mal davor Angst hast! Es gibt keinen Mut ohne Angst, lass dir das von einem alten Soldaten gesagt sein.
Zusammen werden wir mutiger sein, zusammen können wir es schaffen, zu überleben!
Die Seashephards, wir brauchen Verbündete…“, stöhnt er vor Schmerzen und rollt mit seinen Augen.

Thomas ist am Ende seiner Kräfte, sein Griff um meine Hand löst sich. Erschlafft sinkt er zurück auf das Kissen und schließt seine Lider. Er braucht dringend Ruhe.

Ich ringe hart mit mir, die Zweifel um die Allmacht des Predigers bohren sich wie Maden in einem Pilz durch Judiths Konditionierung. Ich brauche Zeit! Claudia möchte nachdenken, Judith will handeln. Mit einem entschlossenen Blick auf Thomas, der vor Erschöpfung eingeschlafen ist und leise schnarcht, wende ich mich wieder dem Rollbraten zu.

„Ok Max, ich will von dir einige Antworten, bevor ich entscheide, ob du lebst oder stirbst!
Wie kam deine Schwester an den Dienstausweis von Jameson & Jameson? Was ist eure Mission, wo ist euer Versteck?“, frage ich in resolutem Ton und lasse zur Bekräftigung die Schneide des Karambits leicht über seine Wange gleiten.
Ich meine es todernst und er begreift seine prekäre Lage. Erst stockend, dann immer flüssiger beginnt er ungeheuerliches zu berichten:

„ Ich muss dazu weiterausholen. Nach meinem Studium fing ich bei Jameson & Jameson an und stieg auf Grund meiner Fähigkeiten schnell auf. Ich wurde Assistent eines leitenden Professors dort, der an Impfstoffen bzw. Gegenmitteln gegen tödliche Seuche arbeitete. Ich war motiviert und fasziniert, denn er hatte Erfolg bei der Entwicklung eines Serums gegen das Ebola-Virus.
Es basierte auf einer natürlichen Mutation, denn es gibt in der Bevölkerung immer einige, die immun gegen bestimmte Erreger sind. Aus diesem Grund sterben auch bei einer Pandemie nie alle, der geschlechtlichen Vermehrung sei Dank!

Doch selbstverständlich war das Ganze sehr teuer und aufwendig. Dazu die strikte Geheimhaltung, denn die Konkurrenz schläft schließlich nicht. Die Geschäftsleitung in Norderstedt machte Druck wegen der ausufernden Kosten, denn diese stand wiederum unter der Knute des Mutterkonzerns in Baltimore.

Der Angelegenheit drohte die Einäscherung, denn die immensen Kosten wären bei den wenigen Ebola-Fällen im bettelarmen Afrika niemals hereingekommen.
So baldowerten die Oberen einen perfiden Plan aus. Wenn Ebola die westliche Welt treffen würde, dann würden die Gelder ungebremst fließen, so wie einst bei der Schweinegrippe.
Die Idee, einige Probanden ohne deren Wissen mit Ebola zu infizieren und dann streng kontrolliert unter die Menschheit zu entlassen, wurde geboren. Einige Hundert sollten sich anstecken, das hätte sofort die WHO auf den Plan gerufen und den Pandemie-Schutz aktiviert. Der Konzern hätte seinen Impfstoff aus dem Hut gezaubert und sich dumm und dämlich verdient. Die Opfer?“, Max winkt ab, „Kollateralschäden!

Die führenden Lobbyisten waren selbstredend eingeweiht und die wenigen, die dagegen waren, verschwanden von der Bildfläche. Selbstverständlich wurden alle Konzernmanager und Lobbyisten geimpft, damit es nicht zufällig die Falschen erwischte.“, Max Stimme tropft vor Zynismus.

„Professor Petersen, ein weiterer Mitarbeiter und ich waren entsetzt und dürften daraufhin den Firmenkomplex nicht mehr verlassen. Die Security hatte Schießbefehl, wenn wir es wagen sollten, außerdem hatten sie uns gedroht, unsere Familien zu ermorden.
Einfach so beseitigen konnten sie uns aber nicht, da sie die Formel nicht vollständig kannten. Der Professor hatte dafür gesorgt, dass jeder von uns dreien nur einen Teil kannte, das war unsere Lebensversicherung.
Dem Mitarbeiter gelang trotz aller Vorsicht die Flucht mit einer Impfdosis.
Was aus ihm wurde, weiß ich nicht. Vorher verriet er mir noch, dass er seinen Teil der Formel an einem sicheren Ort hinterlegt habe.

Ich musste für die Firmenleitung alles auf einen USB-Stick kopieren, ihn aushändigen und dann wurden alle Festplatten gelöscht, sowie alle schriftlichen Aufzeichnungen verbrannt. Eine Kopie hatte ich mir heimlich gezogen, aber ich konnte nicht heraus, so sorgte ich bei der Personalabteilung dafür, dass Katharina einen Schülerpraktikumsplatz bekam.
Die wussten ja nicht, dass ich quasi ein Gefangener dieses Systems war. Ein Hoch auf die Geheimhaltung, denn in unserem Konzern gab es keinen Snowden!“

Wieder Zynismus in Reinkultur!

„Ich hinterlegte den Stick, in Plastik eingeschweißt, in einem Toilettenkasten auf dem Damenklo in der Kantine, denn je öffentlicher, desto unverdächtiger. Ich musste ihr nur noch mitteilen, wo sie denn nun suchen sollte, denn per Handy oder Email ging nicht, das wurde überwacht.
Wir dürften aber unter Aufsicht in der Kantine essen, denn es wäre aufgefallen, wenn uns keiner unserer Kollegen aus den anderen Labors mehr zu Gesicht bekommen hätte. Also wartete ich bis sie in meiner Nähe anstand und machte dann einen lauten Witz über die Philosophie von Klo-Sprüchen.
Zum Glück war Katharina ein gescheites Mädchen…“, Max Blick wird unendlich traurig und er kämpft mit den Tränen. Einen Augenblick verstummt er und schluchzt.

„Katharina kam als Praktikantin mühelos durch die Außenkontrolle, da sie eh nicht im sensiblen Bereich zu tun hatte. Sie wusste nicht, an wen sie sich draußen wenden sollte, wer nicht korrumpiert war. So wendete sie sich an die Einzigen, die für sie unbestechlich waren – die Sea Shephards.
Doch bevor alles vollständig ausgewertet werden konnte, verlor der Konzern die Kontrolle und die Seuche lief völlig aus dem Ruder. War ja auch klar, denn Pandoras Büchse kann man nun mal nicht kontrollieren. Das ist sie, diese verdammte Hybris der Eliten!
Die Menschheit, die bis jetzt überlebt hat, ist - soweit ich es sagen kann - entweder total isoliert gewesen, natürlich immun oder gegen das Virus geimpft.“

Er endet, wirkt wie ausgelaugt und blickt mir in mein entsetztes und aschfahles Gesicht. Alles Leben ist aus meinem Körper gewichen. Was für eine…? Mir fällt kein passendes Wort für diese Unmenschlichkeit und eiskalte Effizienz in Sachen Geld verdienen ein.
Das sind die wahren Schuldigen, die wirklichen Sünder, die hämisch grinsenden Kreaturen der Bestie, nicht die Soldaten oder andere kleine Lichter im System!
Der Prediger – kennt er das wahre Ausmaß?
Eine weitere schreckliche Ahnung kriecht eiskalt an meinen Beinen hoch.

„Der Name des Mitarbeiters…, hieß er Frank Burghard?“, meine Stimme ist nur noch ein Flüstern und Tränen schießen in meine Augen.

„Ja, so hieß er. Woher wissen Sie das?“, fragt Rollbraten mich misstrauisch und alarmiert.

„Mein Ex-Mann…“, ich schluchze haltlos und breche endgültig zusammen. Alles ergibt auf einmal einen furchtbaren Sinn.

„Heilige Scheiße!“, kommt es von der Liege.
Thomas ist wieder erwacht und schaut genauso fassungslos wie ich.

„Süße, dein Alter wusste, was passieren würde. Er hat eine Impfdosis geklaut und ist getürmt. Er hat dir KO-Tropfen verabreicht, dich geimpft und ist verschwunden – ob freiwillig oder gezwungen, ist erst mal unwichtig.
Er wollte, dass du überlebst, Claudia, er hat dich gerettet!“
Thomas scheint irgendwie beeindruckt, ich weniger.
Als ich meine Fassung zurückgewinnt, poltere ich los:

„ Dieser verdammter Arsch, er hat uns alle in höchste Gefahr gebracht! Warum hat er nur eine Dosis geklaut und nicht drei? Warum hat er nicht unsere Kinder gerettet? Warum mich?“

Das Leid überwältigt mich aufs Neue, von der toughen Judith ist im Moment nichts mehr übrig.

„Du bist Franks Frau?“, stammelt Rollbraten ungläubig.
„Er hatte in der Zeit vor seiner Flucht viel von dir gesprochen. Allerdings sagte er nicht, dass du eine von den Irren bist!“, er räuspert sich, merkt, dass er im heiligen Zorn und bei aller Verbitterung zu weit gegangen ist.
Thomas zieht die Augenbraue hoch, erwartet einen von Judiths heftigen Reaktionen. Doch nichts geschieht. Vor Judiths Aufzugstür scheint ein „Out of Order-Schild“ zu hängen. Interessante Entwicklung!

„Sorry Claudia! War nicht so gemeint…bei der Beantwortung deiner Fragen kann ich vielleicht helfen“, meint Max nun sichtlich bewegt.

„Wir hatten insgesamt nur drei Impfdosen, für jeden von uns eine. Immerhin dies hat uns der Konzern gestattet. Frank war ein natürlich Immuner, auch aus seinem Blut haben wir die Antikörper gefiltert, deshalb brauchte er seine Dosis nicht.
Vielleicht hoffte er, dass diese Veranlagung sich auf die Kinder vererbt hatte?
Er wusste, wenn sie überleben würden, dann sicher nicht lange in ihrem jungen Alter, in den Gefahren einer nachapokalyptischen Welt. Sie würden jemanden brauchen, der sie beschützen könnte, ihre Mutter.
Er wusste ja nicht, ob er es schaffen würde, den eisernen Konzernklauen zu entgehen.“

Das klang gnadenlos logisch.

„ Was für Scheißtypen! Solche Drecksäcke! Die sollte dein Prediger killen, Judith, und nicht mich! Bei dieser Vollstreckung würde ich dem alten Schweinepriester sogar helfen! Bei lebendigem Leib würde ich die Typen häuten und anschließend ordentlich salzen und pfeffern! Sicher leben die alle fröhlich in irgendeinem Bunker bei Champagner und Kaviar, nehme ich an?“, Thomas auf einer Liege explodiert gleich.

„Das weiß ich nicht, aber es gibt noch ein größeres Problem als das Dolce Vita der Konzernbosse“, meint Rollbraten mit zitternder Stimme.

„Reicht das noch nicht?“ schüttelt Claudia fassungslos, und noch immer aufgewühlt, den Kopf.

„Raus damit, Max, lass uns nicht dumm sterben!“, knurrt Tom. Max holt tief Luft, dann fährt er fort:

„ Es gibt noch ein zweites mutiertes Virus, für den Fall, dass das Ebola-Virus nicht funktioniert hätte. Ich weiß nicht, wie lange die Kühlanlagen im Labor noch laufen werden. Das System dürfte schon auf Notstrom sein.
Dieses Baby ist genauso so tödlich wie das Ebola-Virus, eine perfide Kombination aus Grippe und der Pest, es gibt aber ein Gegenmittel. Ich hoffe, sie hatten keine Zeit mehr, es in die USA zu schaffen. Wir brauchen es unbedingt!

Leute, wir müssen zusammenarbeiten, sonst ist die menschliche Rasse endgültig Geschichte, denn das die Überlebenden zufällig auch noch gegen dieses künstliche Virus immun sind, wage ich zu bezweifeln!“

„Er hat Recht, Claudia, oder siehst du das anders?“ fragt Thomas etwas resigniert. Die Tragweite dieser Eröffnung erschüttert ihn nachhaltig.

Ich nicke entschlossen.
Ich habe eine neue Mission und diese ist wichtiger als die des Predigers.
Ich erhebe mich und durchschneide die Seile von Max.

„Komm“, entgegne ich entschlossen und die Judith in mir stimmt mir zu, „holen wir deine Freunde dazu und beratschlagen, wie wir vorgehen…
*sternchen*

Das Buch kaufe ich!
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******ace Mann
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Ich auch!
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Tom
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auf Kravall gebürstet

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*********ynter Frau
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Kapitel 10 C: "Zwei Seelen" (1) Claudia
“You say yes, I say no
You say stop and I say go go go, oh no
You say goodbye and I say hello
Hello hello
I don't know why you say goodbye, I say hello
Hello hello
I don't know why you say goodbye, I say hello”
“Hello, Goodbye” The Beatles

Schweigend eilen Max und ich in Richtung des Zimmers, in dem ich vorhin die anderen vier Angreifer eingesperrt habe. Das Wiederhall unserer Schritte klingt unheimlich auf dem langen gefliesten Gang.
Zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten fühle ich mich wieder schrecklich leer, einsam und isoliert. So, als wäre ich der letzte Mensch auf diesem Planeten.
Eben mit dieser unermesslich schrecklichen Wahrheit konfrontiert worden zu sein, spült krampfhaft verdrängte Erinnerungen an die Oberfläche und mir wird mit aller Härte bewusst, dass ich Mutterseelenallein bin und es auch bleiben werde, bis mich der Tod wieder mit meinen Liebsten vereint.

Das Bild meines Ex, Frank, steht frisch vor meinen Augen. Er, ein Helfershelfer dieses skrupellosen und menschverachtenden Konzerns.? Ich kann es nicht fassen!
...
Wie ein nordischer Gott hatte er ausgesehen, mit seinen blonden Haaren, blauen Augen und der athletischen Figur, als ich ihn kennenlernte.
Es war Liebe auf den Blick gewesen, damals im letzten Urlaub mit meinen Eltern in Italien. Ich war 17 Jahre alt gewesen, er 19. Diese zwei Wochen gingen vorbei wie im Flug, ein einziger Rausch aus Verlangen, übersprudelnden Hormonen und inniger Zuneigung.
Der Abschiedsschmerz brach uns beiden fast das Herz. Zurück in Deutschland trennten uns fast 500 Kilometer. Er begann ein Studium der Pharmazie und Biochemie. Ich ging weiter zur Schule. Wann immer es ging, besuchten wir uns.

Als ich endlich mein Abitur in der Tasche hatte, zog ich zu ihm nach Hamburg und begann eine Ausbildung zur Bankkauffrau. Schließlich mussten wir ja von etwas leben, denn die Unterstützung unserer Eltern reichte bei weitem nicht aus. Wir hatten nicht viel, aber wir waren zusammen.

Einige Jahre später hielt er um meine Hand an und wenig später wurden unsere Zwillinge geboren. Dies war wie die Erfüllung eines Traumes für mich.
Ich ging vollständig in meiner neuen Rolle als Ehefrau und Mutter auf.
Inzwischen hatte Frank sein Studium mit Auszeichnung beendet und wurde von Jameson & Jameson angeworben.
Wir zogen nach Wilhelmshafen. Nach Hamburg war es dort für uns wie ein Kulturschock, aber wir lebten uns schnell ein.
Die Mädchen fanden schnell neue Freunde in der Grundschule und mein einziger Lebensinhalt war, es meinen Liebsten so schön, so gemütlich und so bequem wie möglich zu machen.
Ich perfektionierte mich als Mutter und Ehefrau. Meinen Liebsten sollte es an nichts fehlen, nicht an Liebe und nicht an Geborgenheit.

Ich managte mit liebevoller Strenge unsere Familie, denn Frank war immer häufiger abwesend. Die Arbeit – so entschuldigte er sich. Er habe die Ehre, sich bei einem wirklich bahnbrechenden Projekt zu beteiligen, doch dürfe er noch nicht darüber sprechen. Nur so viel, es wäre bei einem Erfolg, ein Segen für Afrika.

Am Anfang war ich etwas beleidigt, hatten wir uns doch immer alles erzählt, doch das gab sich mit der Zeit. Unzählige Ehrenämter halste ich mir auf und wurde ein unverzichtbares Mitglied der Gemeinde. Dort holte ich mir die Anerkennung und Bestätigung, die ich in meinem Hausfrauendasein nicht erhielt.
Doch trotz gewisser Mängel in meiner Beziehung zu Frank, war ich glücklich. Materiell fehlte es uns an nichts und wenn Frank mal zu Hause war, dann waren die Mädchen und ich sein ganzes Glück.
Er verdiente anscheinend mehr als genug, denn unsere Urlaube verbrachten wir in exklusiven Hotels am Mittelmeer und in den USA oder auf gigantischen Kreuzfahrtschiffen. Unser Leben war zu 99% perfekt!

Und dann die Gesichter meines doppelten Glücks vor meinem inneren Auge.
Unsere beiden Mädchen, äußerlich Frank ähnlich, aber das Temperament und das “Kümmer-Gen” hatten sie von mir.
So waren wir auch zu unserer Hündin Susi gekommen.
Bei einem Griechenlandurlaub streunte sie verlaust und krank am Strand herum. Die Mädchen und ich hatten so lange bei Frank gebettelt, bis wir mit ihr einen Tierarzt aufsuchten, der sie aufpäppelte und die nötigen Papiere für ihren Flug mit uns nach hause ausstellte. Er sagte uns beim Abschied, dass unser kleiner Streuner ohne unsere Fürsorge keine Woche mehr überlebt hätte.

In Gedanken hörte ich die Mädchen miteinander streiten, weil die eine, wieder einmal unerlaubt das Lieblingsshirt der anderen angezogen hatte. Ausgerechnet jenes, dass ich nicht in doppelter Ausführung gekauft hatte.

„Mama, jetzt sag doch etwas! Sie soll es ausziehen, es gehört mir!“, maulte Charlotte, einzelne Tränchen der Hilfslosigkeit schimmerten in ihren Augen.
Sie war die Zweitgeborene und fühlte sich ständig von der „großen“, zehn Minuten älteren, Schwester unterdrückt.

„Sophie du kleines Hexlein, hör auf Charlotte zu ärgern! Bist du noch ein Baby? Du hast doch noch genug andere Shirts in deinem Fach. Zieh es aus, sofort!“, schimpfte ich milde.

Ich konnte den beiden einfach nicht länger als eine Minute böse sein und das wussten die kleinen raffinierten Mäuschen sehr genau. Sophie mit schalkhaftem Grinsen im Gesicht, entgegnete nur trocken:

„ Ein Baby nicht mehr, denn ich kann schon rennen!“, sprach`s und sauste prustend ab durch die Mitte.

Ich natürlich Augen verdrehend hinterher. Kleines süßes Biest! Zusammen mit Charlotte trieben wir sie kichernd im Wohnzimmer in die Enge und starteten eine unerbittliche Kitzel-Attacke, während unsere Terrier-Dame Susi bellend um uns herum hopste. Glucksend und um Gnade flehend, sank Sophie schließlich zu Boden und ließ sich bereitwillig von Charlotte das Shirt über den Kopfziehen.

„Entschuldige kleine Schwester“, japste sie atemlos. Ich umarmte meine Engelchen voller Liebe und wir drei lachten bis das Zwerchfell schmerzte.
...
„Ähm, Claudia? Magst du nicht die Tür aufschließen?“, reißt Max mich aus meinem Tagtraum. Wie in Trance stehe ich vor der Tür.
Meine heiße Stirn lehnt am kalten Türblatt, meine Augen sind geöffnet, aber starren ins Leere, meine Hand liegt kraftlos auf der Klinke, der Schlüssel in der anderen fällt fast zu Boden.
Ich schlucke hart, straffe mich und öffne die Tür.
Da sitzen sie, die Herrn Angreifer, noch immer brav verschnürt. Aggressiv und zugleich erstaunt mustern sie uns beide. Ich überlasse es Max, ihnen die veränderte Situation zu erklären. Noch bin ich nicht bereit, sie loszubinden.
...
Der letzte Abend mit Frank. Hätte ich doch nur gewusst, dass ich ihn zum letzten Mal in diesen Leben sehen würde. Ich hätte nicht mit ihm gestritten!

Er kam am späten Abend und seit Tagen überhaupt das erste Mal wieder nachhause. Er wirkte nervös und abgehetzt, war blass und tiefe Ringe lagen unter seinen Augen. Die Mädchen schliefen schon. Liebevoll hatte er nach ihnen geschaut und sie auf ihre Stirnen geküsst, ein „Ich liebe euch über alles“, gehaucht. Schließlich kam er zu mir ins Wohnzimmer.

Ich war voller Vorwürfe, unterstellte ihm gar eine Laboraffäre, die er vehement abstritt. Kein Mensch würde zu viel Zeit bei der Arbeit verbringen, warf ich ihm vor. Ich wolle jetzt endlich alles wissen und würde nicht eher Ruhe geben. Er betonte, dass er mich liebe wie am ersten Tag, und gestand mir zu, dass ich ein Recht hätte alles zu erfahren, doch zuvor wolle er ein Glas Rotwein mit mir in aller Ruhe trinken, damit er seine Gedanken sammeln könne. Er schenkte uns, mir den Rücken zudrehend, ein.
Wir stießen an, in seinen Augen funkelte ein seltsames Feuer, das kam mir noch merkwürdig vor. Ich trank und dann – Schwärze und Leere.

Ich kam im Bett liegend zu mir. Es war schon Mittagszeit. Mein rechter Arm schmerzte fürchterlich, mein Kopf brummte und ich fühlte mich hundeelend. Ich quälte mich auf meine Füße, rief und suchte nach Frank, doch da lag nur ein mit merkwürdigen Zeichen, voll gekritzelter Zettel auf dem Tisch und darauf die Worte: Ich verlasse dich, Claudia, es ist besser so, glaube es mir. Such mich nicht und sag den Mäuschen, dass ich sie liebe. Frank

Ich konnte mich nicht rühren, spürte Eiseskälte, die jede Zelle meines Körpers einzufrieren schien. Fühlte, wie sich mein perfektes Leben in einen Scherbenhaufen verwandelte. Ich verstand es nicht. Warum? Was hatte ich getan? Ich rannte voller Angst ins Kinderzimmer – meine Mädchen – doch Entwarnung, sie schliefen selig und träumend in ihren Bettchen.

Der nächste Schock folgte bald, denn von der Bank erhielt ich am nächsten Tag die Mitteilung, dass unsere Konten heillos überzogen wären und mir die Pfändung drohte. Auch diesen Umstand konnte ich nicht begreifen, hatte Frank doch immer gut verdient. Wohin war das Geld verschwunden? Keine Zeit zum Nachdenken!
Ich brauchte sofort einen Job. In meiner alten Bank lachten sie mich aus. Zehn Jahre aus dem Beruf und keine Fortbildungen besucht? Keine Chance!

Als nächstes Übel traf mich von einem auf den anderen Tag ein hohes unerklärliches Fieber. Mein Körper war übersät von schmerzenden blauen Flecken, als sei ich schwer verprügelt worden. Tagelang konnte ich das Bett nur mühsam verlassen und war so schwach, dass ich nicht zum Arzt gehen konnte.
Meine beiden Mädchen sorgten so gut für mich, wie sie es in ihrem Alter von zehn Jahren konnten.
Um diese Zeit hörte ich in den Nachrichten zum ersten Mal von einer um sich greifenden Ebola-Epidemie in Afrika. Eine Nachbarin schließlich, sorgte für die Kinder und pflegte mich gesund.

Ich verkaufte und belieh im Pfandhaus, was nicht niet- und nagelfest war, um wenigstens das Haus für uns zu erhalten. Zum Glück fand ich zwei Putzstellen, die uns den Lebensunterhalt mehr schlecht als recht sicherten.
Täglich fragten die Mädchen nach ihrem Papa und wann er denn wiederkäme.
Der Hass auf meine einstige große Liebe wuchs ins Unermessliche. Nicht nur, dass er wie vom Erdboden verschluckt war, nein - er hatte uns völlig mittellos sitzen gelassen. Wenn er nicht für mich sorgen wollte - ok -, aber auch nicht für seine Mädchen?
Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht! So ein Verhalten sah ihm nicht ähnlich! Ich hatte die Behörden eingeschaltet, doch niemand fühlte sich zuständig. Auch Jameson & Jameson nicht.

Ich musste es allein schaffen. Zu allem Übel fand ich beim Sichten der entbehrlichen Dinge seinen Firmendienstausweis, versteckt in meiner alten Aussteuertruhe.
Ein seltsamer Aufbewahrungsort.
Erst war ich in der Versuchung beides, den Ausweis und seinen Abschiedszettel, in einer Art Zeremonie zu verbrennen, doch etwas in meinem Inneren hielt mich davon ab. Beides steckte ich in eine Plastiktüte und legte sie in einen alten Tontopf in der Garage. Eine vertrocknete Orchidee setzte ich darüber, als Sinnbild unserer dahin geschiedenen Beziehung.
Ich wollte nichts mehr von ihm in meinem Haus haben.
...
Stille – alle Augen sind auf mich gerichtet. Tränen rinnen über meine Wangen. Verächtlich ätzt Judith in meinem Inneren: Claudia in Reinkultur! Schwach und pienzig, Heulsüschen im Kittelschürzchen!

„Was glotzt ihr so?!“, poltere ich los. Judith schämt sich für Claudias Tränen.
Ich übernehme ab hier!, bellt sie lautlos.
Claudia ist fast dankbar, dass sie sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen kann. Der Schmerz der Erinnerung wütet in ihrer Seele wie ein Feuersturm.

„Ich habe die Situation erklärt und meine Freunde sind bereit, mit euch beiden über die Bedingungen eines Waffenstillstands zu verhandeln“, erklärt Max verwirrt. Was ist denn auf einmal mit der taffen Claudia los?

„Was für Bedingungen, ihr Möchtegern-Kämpfer? Ihr könnt froh sein, dass ihr noch atmen dürft! Wenn hier jemand Bedingungen stellt, dann sind das der Sünder, ähm Thomas und ich!“

Mit zusammengepressten Lippen durchtrenne ich die Seile um ihre Beine mit einem entschlossenen schnellen Schnitt und nehme dabei ihre vor Schreck aufgerissenen Augen geschmeichelt zur Kenntnis.

„Los, hoch mit euch auf die Füße und dann Abmarsch in Lazarettzimmer, aber zügig!“, befehle ich kühl.

„Hey, was ist mit den Armen?“, fragt der Bär provozierend.

„Das entscheiden wir später! Das hängt sicherlich auch davon ab, wie ihr euch ab sofort benehmt! Also Klappe halten und schön brav sein! Denkt dran, ich bin voll bewaffnet und ich kann euch alle platt machen. Eine falsche Bewegung oder ein falsches Wort und ich…“

„…schneide euch die Eier ab!“, vollendet blutiges Kinn meinen Satz.

„Schon gut, Killerqueen, wir haben`s kapiert.“ Max schüttelt mit Blick auf seine Kumpels warnend seinen Kopf.

Er geht zuerst, dann die „dicke-Lippe-riskier-Typen“ und als letztes bilde ich mit gezückter Waffe die Nachhut.

Alle um uns herum bekamen hohes Fieber. Die fürsorgliche Nachbarin, die mich zuvor liebevoll gepflegt hatte, starb als erste in unserem Viertel.
Zum trauern blieb keine Zeit, denn es ging Schlag auf Schlag.
Die ganze Straße leerte sich innerhalb einer Woche. Ich bekam es nicht mit, denn noch immer arbeitete ich wie besessen, die Mädchen hatten von merkwürdigen Autos und seltsam aussehenden Männern in Plastik berichtet.
Ich hielt es für eine ihrer Fantasien.
Mir blieb zwischen meinen inzwischen drei Jobs keine Zeit mehr zum fernsehen oder Zeitung lesen, obwohl ich bemerkte, dass die Büros immer leerer wurden. In einer Abteilung lief noch ein vergessener Fernseher.

Dort hörte ich einen Bericht, dass die Behörden versprachen, sie hätten die Seuche unter Kontrolle. Doch rieten sie der übrig gebliebenen Bevölkerung zu deren Sicherheit, möglichst die eigenen vier Wände vorerst nicht mehr zu verlassen.
Seuche? Na Prima! Wir brauchten Lebensmittel, wie also sollte das funktionieren?

Inzwischen waren die Firmen, in denen ich putzte, verwaist.
Panik erfasste mich, denn ich begriff, dass diese Epidemie schlimmer war, als von den amtlichen Stellen zugegeben.
Die Schule war bereits geschlossen und ich ließ die Mädchen nicht mehr aus dem Haus. Ich konzentrierte mich nun darauf, Nahrung und alles andere Notwendige zu beschaffen. Noch gab es etwas in den menschenleeren Supermärkten.
Doch ich musste sehr vorsichtig sein, denn einige marodierende Gangs aus Überlebenden hatten sich zusammengerottet und räumten rücksichtslos alles leer. Auch die Häuser.
Sie wollten nicht teilen, sie wollten alles!

Ich wagte es nur noch nachts und im Schatten der Gebäude, mich draußen zu bewegen. Die Mädchen versteckten sich derweil in einem Verschlag im Keller. Immer war ich in der Angst einer dieser Banden in die Hände zufallen oder, sie könnten auf ihren Raubzügen die Kinder entdecken.
Was wünschte ich mir, ich könne mich entsprechend zur Wehr setzen!
Sorgen mich zu infizieren, machte ich mir natürlich auch. Ich wollte meine Mädchen nicht allein in dieser schrecklichen Welt zurückzulassen.

Dann erkrankten meine Mäuschen. Wie - begriff ich nicht!
Sie waren doch schon einige Tage isoliert zuhause gewesen. Sie wurden stündlich schwächer. Meine Verzweiflung war unermesslich, denn ich erreichte keinen Arzt und keinen Rettungsdienst mehr.
Nun war es mir egal, ob ich auch krank werden würde. Ich pflegte sie so gut es ging, doch ich konnte ihnen nicht helfen.
Warum nur war diese Apokalypse über uns gekommen?

Wie ein Lauffeuer fraß sich die Seuche durch das Land, den ganzen Kontinent und um die gesamte Welt. Alle Ordnung und Zivilisation brach in sich zusammen und übrig blieb vom Menschen nur das wilde Tier, das um jeden Preis überleben wollte.

Ich hatte inbrünstig gebetet, verzweifelt geweint und so sehr gehofft, dass wir es irgendwie schaffen würden. Immer war ich ein Optimist gewesen, doch alles umsonst.
Meine kleinen süßen Mädchen vergingen grausam und ich musste hilflos daneben stehen, konnte ihnen nicht helfen. Ihre schwachen Stimmchen, mit denen sie mich anflehten, sie von den schrecklichen Schmerzen zu erlösen.
Mehr als einmal hatte ich das Fleischmesser in der Hand und stand mit ihm vor ihren Bettchen, doch ich brachte es nicht fertig, ihr Leid zu beenden.
…….
Wie konntest du die Kinder nur so leiden lassen? Wie hast du es nur fertig gebracht, dies Leid mit anzusehen? Ich hätte sie erlöst - schnell und für sie schmerzlos! Wer von uns beiden ist die Grausamere?, fragt Judith kalt.
…….
Ich starrte auf ihre ausgemergelten leblosen Körperchen.
In ihren letzten Minuten ihres Lebens hielten wir uns alle noch einmal in den Armen. Wie gerne wäre ich mit meinen kleinen süßen Mädchen durch dieses letzte Portal gegangen.
Nichts auf dieser Welt hatte nunmehr einen Sinn.
Es blieb mir nur noch eine letzte Pflicht.

Der Scheiterhaufen im Garten, auf dem ich meine kleinen Engel nach ihrem schrecklichen Tod verbrannte, strahlte noch immer Hitze aus.
Ich hatte diesen Weg gewählt, weil ich die Vorstellung, sie von Maden zerfressen zu sehen, nicht ertragen konnte. Über allem lag der Gestank nach Tod und nach verbranntem Menschenfleisch.
Alle hier im Viertel waren tot, bis auf mich.
Ich verstand nicht, warum ausgerechnet ich überlebt hatte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als den Tod, gnädiges Vergessen und wieder mit meinen Kindern vereint zu sein.

Ich saß zusammengebrochen mit einer Köpfchen hängenden Susi am Scheiterhaufen meiner Kinder, als sich eine Hand plötzlich auf meine Schulter legte. Mein Erschrecken war fürchterlich, denn ich hatte weder damit gerechnet noch den asketischen Mann, der aussah wie Gevatter Tod persönlich, bemerkt.

Er stellte sich mir als der “Prediger” vor und, dass er vom höchsten Herrn beauftragt sei, die versprengten und verletzten Schäfchen wieder zu einer Herde zusammenzuführen. Er trug einen Totengräberanzug und mit leidvollem Gesicht fragte er mich, wen ich da zu Grabe getragen hatte und ob ich es wünschte, dass er die Totengebete spräche.
Dankbar nickte ich, denn ich hatte weder Tränen noch Gebete mehr. Er nahm seine Bibel aus einer zerfledderten Ledermappe. Sie war in fein säuberlicher Schrift mit Tinte handgeschrieben und er las daraus vor.
Es klang so tröstlich in meinen Ohren und ich bedankte mich leise bei ihm. Er setzte sich neben mich und schwieg mit mir.
Seine Gegenwart war wie Balsam für meine gequälte Seele.

Nach einer Weile fragte er mich, ob ich ihn zu seinem Unterschlupf begleiten wolle. Er würde meine leere Hülle mit einer neuen Aufgabe füllen und meiner weiteren Existenz einen Gott ergebenen Sinn verleihen, wenn ich mich seiner als würdig erweisen würde.

Ich hätte die Wahl, hier sitzenzubleiben und in Sünde sterbend, das ewige Höllenfeuer zu erwarten oder mit ihm zu kommen.
Für meine Verfehlungen zu büßen, mich streng zu läutern, meinen neuen starken Glauben zu beweisen und eine Kämpferin für den Allmächtigen gleich einem Erzengel zu werden, die die Sünder ihrer gerechten Strafe zuführe.
Ich verstand kaum etwas, von dem, was er sagte, außer, dass ich nicht mehr allein wäre.
Ich stand auf, reichte ihm meine Hand und wollte mit ihm gehen.
Susi erhob sich traurig, um mir trottend zu folgen.

“Der Hund kann nicht mit, Verblendete.Du musst alles zurücklassen, was dein bisheriges Leben ausgemacht hat, so ist seine Bedingung.
Bist du nicht willens dazu, dann bist du nicht würdig, er testet damit deine Liebe zu ihm!”.
Sein Ton duldete keinen Widerspruch.

So blieb Susi zurück...
eyes002
******ace Mann
15.955 Beiträge
Themenersteller Gruppen-Mod 
!
gru se lig *g* applaus

Tom
****orn Mann
11.994 Beiträge
Zwei Seelen
*********pasXX:
Wie ein nordischer Gott hatte er ausgesehen, mit seinen blonden Haaren, blauen Augen und der athletischen Figur, als ich ihn kennenlernte.
*wow*

Wieder einmal super schön geschrieben!

*top*

Ein echtes Lesevergnügen.

Obwohl mir das Wort "pienzig" bis dato nicht geläufig war.

*gruebel*
*********ynter Frau
9.577 Beiträge
@ Walhorn
Pienzig bedeutet in meiner Gegend so viel wie weinerlich.

*sonne*
****orn Mann
11.994 Beiträge
Auf jeden Fall
Gruselig, ja. Und auch traurig.

Der Scheiterhaufen im Garten, auf dem ich meine kleinen Engel nach ihrem schrecklichen Tod verbrannte, strahlte noch immer Hitze aus.



Schreckliche Konsequenz... und die Frage ist berechtigt:

Warum nur war diese Apokalypse über uns gekommen?

Du schreibst wundervoll einfühlsam die Seele Claudia. Anrührig.

*spitze*
Soderle,
jetzertle muss ich dem Autorenduo auch endlich ein ganz riesiges Lob aussprechen!

Mittlerweile ist es soweit, dass ich bei jedem Joybesuch hoffe, dass wieder eine neue Folge eingestellt wurde und enttäuscht bin, wenn dem nicht so ist!

*anbet*laf
eyes002
******ace Mann
15.955 Beiträge
Themenersteller Gruppen-Mod 
Lieber Olaf,
keine Sorge. Ich denke, ich spreche auch für Pourquois_Pas, wenn ich sage, dass es uns leid tut, wenn wir nicht so schnell sind *g*

Es ist ja nicht so, dass wir nur irgendwie ein Kapitel nach den des anderen setzen. In Wahrheit besteht ein großer Teil der Zeit aus Absprache, wie es weitergehen soll, es geht um den Umfang, wohin die Reise geht, wer alles sterben soll, wer bis zu welchem Punkt schreibt, dann lesen wir uns gegenseitig, verändern, verbessern und so weiter *zwinker*

Also bitte ich um ein wenig Nachsicht, lieber Olove *g*

Tom
*********ynter Frau
9.577 Beiträge
Kapitel 10C: (2) Metamorphose
Obwohl ich dachte, mein Herz könnte nicht noch mehr in Stücke brechen, geschah es doch, als ich Susi noch einmal übers Köpfchen streichelte und sie mit sanften Worten und einem antreibenden Klaps fortschickte:

„Lauf meine Kleine, such` dir Hundefreunde. Ich weiß, dass du es allein schaffen wirst - du bist eine Kämpfernatur - anders als ich.
Du brauchst mich nicht zum Überleben! Diesen Weg muss ich allein gehen!“, beruhigte ich mehr mich selbst als Susi.
Jetzt fühlte ich mich endgültig sinnentleert.

Ich folgte dem Prediger durch die gespenstisch stillen Straßen. In der Ferne balgten sich Tiere um eine Beute. Chaos herrschte. Die Straßen waren verstopft mit stehenden oder auf der Seite liegenden Autos.
Viele waren ausgeschlachtet und ausgebrannt.
Überall lag Unrat herum und, Ratten huschten ungeniert, zwischen den stinkenden und sich in unterschiedlichen Verwesungsstadien befindenden Leichenbergen herum. Knabberten hier und kosteten da. Ich presste meine Hände voller Ekel vor Mund und Nase. Der widerlich süße Leichengestank war unerträglich, ich würgte, denn mitanzusehen, wie die Krone der Schöpfung die Bäuche der unsäglichen Bestien füllte…

Ich schüttelte mich, so wollte ich nicht enden, nicht als Futter für das diverse Ungeziefer, welches sich in reichhaltiger Fauna auf den toten Leibern tummelte! Einzelne Körperglieder lagen abgetrennt andernorts, zeigten deutliche Bisspuren, aber von größeren Zähnen als von denen der Ratten. Heiliger Himmel, das Ende der Nahrungskette verschob sich gerade drastisch zu Ungunsten der stark reduzierten Menschheit.

Je mehr wir uns dem Zentrum näherten, desto schlimmer wurde es. Ich blieb stehen, wollte nicht weiterlaufen.

„Tochter – bleib nicht stehen!“ ermahnte mich der Prediger. „ Bald wird es dunkel und wir müssen unsere Zuflucht erreichen, denn nicht alle verbliebenen Sünder sind willens, dem Allmächtigen für seine grenzenlose Güte zu danken, IHN Lob zu preisen und sich hart zu läutern.
Diese Aufgabe wird uns anheimfallen, sobald wir dazu innerlich wie äußerlich bereit sind. Komm weiter!“, drängte er.

„Bitte Prediger, ich ertrage es nicht! Schlimmer kann es auch in der Hölle nicht sein!“, meine Stimme war nur noch Flüstern des Grauens.
Ich fühlte mich wie ein Statist in einem zu schrecklichen Leben erwachten Gemälde von Hieronymus Bosch.

„Tochter, dies ist eine Zeitenwende!“, erklärt er geduldiger.

„Nenne es ruhig das Fegefeuer. Wir die Überlebenden dieser Apokalypse waren zuvor Sünder - auf die ein oder andere Art.
Manche Verfehlungen wiegen schwerer, manche leichter“, dabei stockte er und nach einer Pause fuhr er leise fort:

„Jeder von uns Überlebenden ist schuldig geworden! Uns Sündern wird nun eine unermessliche Güte zu teil, denn der Allmächtige unterzieht uns einer letzten Prüfung, bevor er uns endgültig verdammt.
Wir müssen uns von unseren Sünden reinigen, streng und ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten unseres Leibes, denn diesen brauchen wir im Paradies nicht!
Allein die Reinheit unserer Seele zählt, sie gilt es von den stinkenden Flecken der Sünde zu säubern.

Die Unschuldigen dürften bereits am Tisch des Allmächtigen Platz nehmen.
Deshalb weine nicht weiter um deine Töchter, denn sie schauen bereits das Licht unseres Herrn!

Wir müssen dem Bösen abschwören - müssen IHM beweisen, dass wir noch zu seiner Schafherde gehören und uns nur kurz verirrt haben.
Ich bin der getreue Hirtenhund des höchsten Schäfers und du, Tochter, wirst eine derjenigen sein, die mir die versprengten Schafe und Böcke wieder zutreiben und mir helfen werden, den verkrusteten Sündenfilz von ihren Leibern zu scheren.

Wenn diese sich aber der Säuberung ihrer Seele verweigern, werden wir sie mit dem Segen des Hirten schlachten, denn sie würden die anderen rein gewordenen mit dem Pesthauch ihrer Anwesenheit erneut verderben.“

Das leuchtete mir ein. Alles war so logisch, wie der Prediger es sagte! Ja, auch ich war eine Sünderin und verdiente das Strafgericht! Ich würde dieses dunkle Kapitel meines Lebens, das ich gerne ungeschehen gemacht hätte, früher oder später beichten müssen!

„Komm jetzt weiter, Tochter!“. Er wusste, dass er mich als Mitstreiterin gewonnen hatte, er sah es in meinem Gesicht. Die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen.

„Prediger, interessiert dich denn mein Name nicht?“, fragte ich noch und bereits im Gehen.
Er ergriff meine Hand, blieb nochmals stehen und blickte mich sehr ernst an.

„Nein Tochter, er ist nicht mehr von Bedeutung, auch nicht, was du vorher warst. Wichtig ist nur noch, was du wirst.
Beim Eintritt in meine Bruderschaft wirst du als die Person, die du einst warst, aufhören zu existieren. Dein jetziger Name ist verbunden mit Verfehlung und Sünde. Nach deiner Reinigung wirst du symbolisch sterben und in der Taufe, die du von meiner Hand erhältst, zum Zeichen deines neuen unbefleckten Bundes mit dem Herrn, wiederauferstehen.

Der Herr wird dich bei deinem neuen unbefleckten Namen rufen und du wirst gehorchen, ohne Wenn und Aber.
Bis zu deiner Transformation in SEIN gehorsames Werkzeug bleibst du namenlos, gleichsam in einem Schwebezustand zwischen „Sein“ und „vergehen“. Ich werde dich hart prüfen, und solltest du dich SEINER als unwürdig erweisen, werde ich dich schlachten und dein schwaches Fleisch der niederen Kreatur zum Fraße überlassen!“.

Seine Gesichtszüge waren nun hart und entschlossen. Er meinte es so, wie er es sagte. Er würde mich töten und mich Maden und Ratten überlassen, wenn ich an meiner künftigen Aufgabe scheitern würde.
Ich schluckte. Ängstlich und geschockt einerseits, andererseits seltsam aufgerüttelt und getröstet von seinen Worten, die mit so viel Herzblut und Überzeugungskraft gesprochen waren.
Er war ein wahrhaft Erleuchteter, ein Signalfeuer in der Nacht für alle Verirrten, ein sicherer Fels in der Brandung des Todes und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er zuvor ein Sünder gewesen sein sollte.

„Prediger, ich habe schreckliche Angst, SEINEN Erwartungen nicht gerecht werden zu können! Ich bin keine Kriegerin, ich bin eine normale Frau, die bis vor einer Woche keine blutende Wunde sehen konnte, ohne das es mir dabei flau im Magen geworden wäre.
Wie soll ich SEIN Werkzeug werden?
Ich kann doch nichts, was dazu nötig wäre!“
Mein Mut tendierte wieder gegen Null. Er schwieg.

Eine Sonne so rot wie Blut versank am Horizont als wir am Rüstringer Stadtpark ankamen. Hier war ich in glücklichen Tagen oft mit den Mädchen gewesen. Auf der Wiese hatten wir gepicknickt und an den beiden Teichen an den jeweiligen Enden des Kanals die Enten gefüttert.
Dieser Ort war mir in schöner liebevoller Erinnerung. Ich fühlte mich sogleich geborgen. Ein vertrautes Fleckchen Erde ohne aufgedunsene Leichen, dafür mit Vogelgezwitscher, sicher und geradezu von paradiesischer Schönheit.
Ein Garten Eden in der Trostlosigkeit des Untergangs.

Der Prediger hatte während der gesamten Strecke meine Hand nicht losgelassen und es war für mich, als würde seine mentale Stärke unsere Hautbarrieren passieren, denn als er am Ufer des 1,5 km langen Stadtparkkanals stoppte und mir das Lager zeigte, spürte ich neue Zuversicht.

Ein riesiges Kreuz beherrschte das Camp und überragte gut fünfzig oder mehr Zelte, die in konzentrischen Kreisen um das Kreuz angeordnet waren. Überall brannten kleine Lagerfeuer und Fackeln. Aus den Töpfen stieg verführerischer Duft. Es war wie der Übertritt in eine andere Welt, als wir das mit einem Stacheldrahtzaun umrandete Lager betraten.
Es hatte eher etwas von einem dieser gemütlichen Mittelmarktmärkte, die ich gern besucht hatte, als von einem Ausbildungslager für Sündenbekehrer.

„Meine Tochter, unsere Bruderschaft wird dich alles lehren, was du für deine neue Aufgabe benötigst, doch zunächst muss dein Geist völlig von des Herrn Wort durchdrungen sein!“, schloss er.


„Claudia! Sag mal pennst du mit offenen Augen?“, fährt mich der Sünder, nein Thomas, ungehalten an. Verständnislos blicke ich auf.

„Ich sagte gerade, dass du die Rouladen-Typen abwickeln kannst!
Sozusagen als vertrauensbildende Maßnahme und nimm deine Kanone runter!“

„Nein!“, widerspreche ich vehement mit einem Funkeln in meinen Augen.
"Die Kanone bleibt, wo sie ist! Nämlich in meiner Hand, ich trau denen nicht!“. Judith ist zurück.

Der Bär grinst mich unverschämt an, am liebsten würde ich ihm den Kolben meiner Waffe in seine schleimige Visage rammen! Ich liebe das Geräusch einer brechenden Nase! Und ich kann diesen Kerl überhaupt nicht leiden!
Du bist auf meiner Liste der bedrohten Arten, Walretter hin oder her!

Thomas stößt laut stöhnend und übertrieben resigniert seinen Atem aus.

„Na schön, Gnädigste, dann behalt meine Kanone, wenn`s dich glücklich macht! Aber nicht wieder rumträumen, kapiert?“.
Verschwörerisch grinst er mich an. Nur ich kann es sehen.
Aha, wir spielen noch guter Cop, böser Cop!

Wenn mein Blick so tödlich wie mein Karambit wäre, dann wäre Thomas nun Geschichte und meine Mission erledigt! Nein, verdammt! Ich muss Judith unter Kontrolle halten!

Ich heiße Max, seine Kumpels zu entfesseln und deute mit dem Lauf auf eine zweite Liege gegenüber von Thomas. Ich selbst nehme auf dem Lowboard hinter Thomas Platz und halte die Waffe auf die vier gerichtet. Max lehnt sich an die Wand hinter seinen Freunden. Ich spüre seinen prüfenden Blick auf mich. Thomas beginnt ein ernstes Frage- und Antwortspiel, bei dem es erstmal um das Lager meiner Bruderschaft geht. Das Lager…seine Worte verschwimmen in meinem Geist…


Stöhnend kam ich zu mir. Jemand hatte mir einen Eimer eiskaltes Wasser über geschüttet. Wo war ich? Warum lag ich zusammengekrümmt im Dreck am Boden? Warum fühlte sich mein Körper an, als würden unzählige Feuer auf meiner Haut lodern? Tränen liefen mir über meine Wangen.
„Steh auf!“, befahl eine gnadenlose Stimme.

Nein, ich will nicht, kann nicht! Ich bin zu schwach, ich ertrage es nicht, töte mich, damit ich endlich ausruhen kann, die wievielte Züchtigung war das jetzt? Ich wusste es nicht mehr.

„Ehrwürdiger Prediger, warum gibst du dich mit der da ab? Sie ist unwürdig, sie ist schwach und es mangelt ihr an Willenskraft. Sie liebt unseren allmächtigen Herrn nicht genug und brennt nicht für SEINE Sache!“, kam es verächtlich von der Seite. Eine zarte Frauenstimme, aber so kalt wie Eis.

„Schweig Eheweib! Sie wird es lernen. Ich sah in ihren Augen, dem Spiegel ihrer Seele, den unbedingten Wunsch unserem allmächtigen Herrn zu dienen. Das schwache Fleisch wird später am Tag nochmals geläutert. Danach wird sie bereit sein!“.

Mit der gefürchteten Peitsche in seiner Hand sprach er streng:

„Tochter, schreib sie nochmal – die heiligen Worte – diesmal fehlerlos, denn die Vollstrecker sind vor dem Herrn rein und fehlerfrei wie das Wort des Herrn, das sie bei sich tragen. Der Herr ist vollkommen, sein Wort ist heiliges Gesetz und seine Vollstrecker sind den wehrhaften Erzengeln gleichgestellt.

Ohne das reine Wort Gottes, welches deinen Geist beseelt und, dass du an deinem Leib trägst, bist du nichts weiter als eine sündige Kreatur, die getilgt werden muss.
Ich habe dich eben, wie ein liebender Vater, streng durch meine gnädigen Peitschenhiebe für dein erneutes sündiges Verfehlen büßen lassen. Durch eine erneute Läuterung in wenigen Stunden erhältst du eine letzte Gnadenfrist.
Nutze die Zeit bis dahin!

Abigail, bring sie in ein Zelt im äußeren Kreis und trage eine Kräuterpaste auf ihre Wunden auf. Sie bekommt kein Brot, nur ein wenig Wasser. Wir müssen ihr Fleisch weiter schwächen, damit das Wort des Herrn ihren Geist vollständig durchdringen kann!“.

Sie half mir widerwillig auf und schleifte mich mehr, denn ich lief zu einem Zelt weit weg vom alles überragenden Kreuz und damit weit entfernt von Gottes Gnade. Das war auch eine Strafe, denn im äußeren Kreis lebten die, die bisher an ihren Aufgaben gescheitert waren.
Sie verrichteten die niedrigsten Arbeiten und jedermann aus den inneren Kreisen dürfte sie durch Worte oder Taten demütigen bis die erneute Läuterung vollzogen war.

Abigail war die Ehefrau des Predigers, doch hatten sie keine sexuelle Beziehung, denn dies galt als unrein und war bei Todesstrafe verboten.
Spätere Kinder sollten in der neuen Weltordnung nicht mehr durch den Sündenfall, sondern rein und frei von der Erbsünde in einem Reagenzglas, gezeugt werden.

Als sie die Paste auf meinen Rücken klatschte, tropfte die Verachtung aus ihren Worten:
„Was hast du nur an dir, dass er so nachsichtig mit dir hat? Mit uns anderen war er nie so gnädig! Nur 50 Peitschenhiebe auf den Rücken und nur 50 Stockhiebe auf die Fußsohlen? Erahnst du, wie viele schon auf dem Scheiterhaufen vor dem Kreuz brannten, die tausendmal besser geeignet waren als du, dem allerhöchsten Herrn, zu dienen? Du bist unwürdig, du bist nichts als Dreck unter meinen Füßen!“.

Sie spuckte aus und schleuderte ein dickes Schulheft neben mich.

„Es wird mir eine Freude sein, persönlich das Feuer unter dir zu entzünden, wenn du nochmal scheiterst!“.

Ich war so müde, doch ich musste meine eigene Bibel schreiben, fehlerfrei. Diesmal ganz langsam, Wort für Wort und in Schönschrift. Mein Bleistift war nur noch ein Stummel und ich betete, dass er ausreichen würde.
Während ich schrieb, wurden die Worte zu lebendigen Bildern und ich hatte das Gefühl, als würden sie sich in meine Seele krallen, dort Wurzeln schlagen und austreiben.

Dennoch war ich unwürdig, eine Vollstreckerin der Gerechtigkeit zu werden.
Noch immer hatte ich mich nicht getraut, mein dunkles Geheimnis zu beichten. Vielleicht gelang es mir aus diesem Grund nicht, diese Bibel fehlerfrei niederzuschreiben? Ich musste es im großen Verhör offenbaren, doch würde der Prediger mir vergeben? Ich bezweifelte es!
Krampfhaft suchte ich nach einem Ausweg aus dieser Misere. Ja, ich war schwach, doch ich dürfte es nicht mehr sein, wollte ich überleben! Seit wann war ich hier? Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen?

Bilder meiner Mädchen tauchten vor meinem inneren Auge auf, wie sie in weißen Kleidchen auf einer sonnenüberfluteten Wiese tobten.
Wenn sie etwas angestellt hatten und ihnen Schimpfe drohte, dann schoben sie es auf eine imaginäre dritte Person oder auf eines ihrer Stofftiere. Könnte ich meine Sünde nicht auch einer anderen, imaginären Person, zuschreiben?
Sozusagen einer „Bad Claudia“, in Anlehnung an eine „BAD Bank“, die ja auch die notleidenden Kredite bzw. faulen Derivate für die „normalen“ Geschäftsbanken abwickelte?

Das wäre doch die Lösung. Eine Spaltung meiner Seele in das alte sündige „Ich“ und ein reines unbeflecktes „Ich“, vorerst noch namenlos.
Dieses neue „Ich“ wäre das genaue Gegenteil des alten Wesens:
Stark, überlegen, furchtlos, ohne lästige Gefühle und störendes Gewissen, allein seiner Mission verpflichtet, keine äußeren Einflüsse sollten auf es wirken, nur des
Predigers Wort sollte es leiten. Eine Präzisionswaffe gegen die, die ohne Glauben und Respekt gegenüber dem Herrn waren

Meine Gedankengänge wurden unterbrochen. In Ermangelung eines Schofars rief eine Schiffsglocke nicht ganz stilecht zur Gebetsstunde.
Dabei las erst der Prediger die komplette Bibel vor, dann nochmals ein weiterer Auserwählter, der damit als Vertrauter des Predigers in den innersten Zirkel vorstieß. Die erneut zu läuternden mussten danach vor die versammelte Bruderschaft treten, ihre Verfehlung öffentlich eingestehen, und nach einem gemeinsamen Gebet wurden die Büßer nochmals geläutert – mit dem gleichen Strafmaß wie zuvor – in meinem Fall also nochmals je 50 Peitschen- und Stockhiebe, ausgeführt durch die gnadenvolle Hand des Predigers.

Wer sich weigerte, wurde Madenfutter. Wer es überlebte, und dessen Bibel zudem noch fehlerfrei geschrieben war, war wieder in die Gemeinschaft der inneren Kreise aufgenommen und dürfte mit der Kampfausbildung beginnen. Denn ohne mit dem Geist des Predigers beseelt zu sein, hatte man nicht die Kraft zum Kämpfen, sprich für die Kämpfer in Ausbildung gab es Nahrung.

Während des Vorlesens, festigte sich mein Entschluss. So würde ich es durchziehen! Das alte „Ich“ mit all seinen Sünden musste sterben oder zumindest so geschwächt werden, dass das neue „Ich“ es gedanklich in Ketten legen und dominieren konnte.

„Herr gib mir die Kraft…“, bat ich inständig, als ich mich entblößte und über den Holzstumpf legte, um endlich eine Reine vor dem Herrn zu werden…
****orn Mann
11.994 Beiträge
Wahnsinn
Was für eine Wortgewalt!!!!
*schwitz*
Wieder eine unglaublich gut geschriebene Episode.
*top*

*********pasXX:
als von einem Ausbildungslager für Sündenbekehrer.

Das klingt besonders spannend.
*floet*
*********ynter Frau
9.577 Beiträge
Kapitel 10C: (3) Judith
Locker joggte ich meine 10km Runde durch den Stadtpark.
Ich fühlte mich herrlich, satt und bei Kräften. Das Leben war wieder einigermaßen lebenswert. Das Laufen war so befreiend nach all dem Leid der letzten Wochen.
Von den heiligen Worten des Predigers durchdrungen und mit neuem Mut beseelt war ich.

Meine selbst geschriebene Bibel hatte Gnade vor den Augen meines Meisters gefunden und ich hatte die quälende Reinigungszeremonie überlebt.
Nun war ich in den inneren Kreis der Bruderschaft aufgenommen.
Es bestanden keinerlei Zweifel mehr von Seiten des Predigers: weder an meiner Moral, noch an meiner Leidenschaft und Hingabe für die Sache der Bruderschaft, die nun auch zu meinem Lebensinhalt geworden war.
Dies war vor einer Woche gewesen. Ich hatte die Erlaubnis erhalten, mit der Kampfausbildung beginnen zu dürfen.
Ein strenger Tagesablauf erwartete uns Kämpfer in Ausbildung.

Er begann um 5:00 Uhr morgens mit einem erfrischenden 10 km-Lauf durch den Park, der fast meditativ wirkte. Je schneller man war, desto eher hatte man die Körperreinigung mit einem Eimer kalten Wassers und einem Stück Seife vollzogen. Es folgte die morgendliche Gebetsstunde, deren Höhepunkt, das gemeinsame Brotbrechen war, ein stärkendes Frühstück, welches dem anstrengenden Kampftraining Rechnung trug.

Unglaublich, was die “Organisierer” der Bruderschaft so alles zusammentrugen. Innerhalb des Lagers gab es bereits Hühner, sowie einige Kühe für Milch und selbstgestampfte Butter.
Das Brot wurde von den “Ehefrauen”, die weder Kämpferinnen noch Ausbilderinnen sein dürften, für alle frisch über den Feuern gebacken. Es sah aus und schmeckte wie Fladenbrot. Sie kochten auch für das gemeinsame Abendessen. Der Speiseplan richtete sich nachdem, was die Organisierer beschafft hatten.
Ein Mittagessen gab es nicht, aber schließlich waren wir auch nicht zum Vergnügen hier!

Der Vormittag beinhaltete zuerst die Ausbildung in verschiedenen Kampfstilen, Judo, Aikido, Karate. Stundenlange Fallübungen bei Judo und Aikido, Würgegriffe und Armhebel, sowie das Schlagtraining bei Karate. Als wir dies soweit beherrschten, folgte das Üben des Schwertkampfes, erst mit Baustahl-Stangen, dann mit Schwert-Attrappen aus Bongossi-Holz und zum Schluss mit scharfen Schwertern.
Mein ganzer Körper war ein einziger blauer Fleck.

Um die Mittagszeit herum folgte eine erneute Gebetsstunde.Es war eine wahre Erbauung, den wundervollen Worten des Predigers zu lauschen.
Ich verstand nicht mehr, wie ich vorher ohne das Wort des Allmächtigen hatte leben können. Ich brannte lichterloh und war bis in die letzte Zelle meines Leibes von der Wahrheit und der gerechten Sache überzeugt. Längst konnte ich die Bibel des Predigers Wort für Wort auswendig mitsprechen, hatte sie völlig verinnerlicht.

Weiter ging es mit Waffenkunde und Schießübungen folgten. Mit Schrotflinten, Jagdgewehren, nicht militärischen Handfeuerwaffen sowie Pfeil und Bogen, alles, was die Organisierer aus den diversen Waffengeschäften der Stadt zusammentragen konnten.
Wir lernten das Tarnen vor dem Gegner und wie wir uns lautlos anschleichen konnten. Uns zu verstecken und unsichtbar für jeden Gegner zu werden. Auch die Benutzung eines Kompasses wurde uns erklärt und in Orientierungsläufen geübt.

Der wichtigste Punkt unserer theoretischen Ausbildung war das Wissen um die Anatomie.
Es gab 36 Hauptangriffspunkte am menschlichen Körper, wobei 22 auf der Vorderseite und 14 auf der Rückseite lagen: je neun tödliche, neurologische, lähmende sowie schmerzende Punkte.
Diese waren: Adamsapfel, Schläfe, dritter Halswirbel, Solar Plexus, Nase, Fontanelle, Leber, Druckpunkt hinterm Ohr und der Schläfenlappen.

Angriffstechniken hierzu waren Stiche oder Schläge mit der Faust (Tettsui) oder der Handkante (Nase, Adamsapfel) oder gar dem Daumen (hinter dem Ohr).
Lähmungen konnten wie folgt herbeigeführt werden: Faustschläge innen oberhalb des Knies, die Folge: das Bein wurde gefühllos. Faustschläge am inneren Oberarm, Folge: der Arm wurde taub. Durch einen dosierten Schlag gegen den Solar Plexus: erreichte man Bewusstlosigkeit, durch einen präzisen Schlag gegen den inneren Ellbogen, Herzrhythmusstörungen.

Dann war da noch der so genannte “Spock-Griff” F11. Hierzu wurde mit vier Fingern von vorn über das Schlüsselbein gegriffen. Durch den Druck entstand eine Übelkeit, die bei heftigerer Ausführung auch den Verlust des Bewusstseins herbeiführen konnte.

Ebenfalls wurde uns eingebläut, dass der letale Punkt von hinten zwischen dem dritten und vierten Wirbel lag. Auf Anhieb fand keiner von uns diesen Punkt.
Wir lernten, dass man ein Messer nie als erstes in den Brustkorb stieß, weil man dann eine 50/50-Chance hatte, dass das Messer an einer Rippe abprallte. Stattdessen schnitt man zuerst in die Arme, und zwar quer, um die Sehnen zu durchtrennen. Dann versuchte man an die Halsschlagader zu kommen. Wenn diese aufgeschlitzt wurde, dann dauerte es nur noch Sekunden, bevor der Gegner das Bewusstsein verlor.

Dieses Wissen wurde immer wieder unvermittelt abgefragt, ähnlich wie früher in der Rechenstunde das große Einmaleins.
Wehe, die richtige Antwort kam nicht wie aus der Pistole geschossen!
Die Konsequenz war der Einsatz eines dünnen Rohrstocks, wie im letzten Jahrhundert, einfach aber effektiv.
Das gleiche galt für das korrekte Zitieren aus der heiligen Schrift des Predigers bei Nachfrage.

Mir blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken und das war mir auch sehr recht. Ich wollte es gar nicht, denn ich hatte Angst, dass die mentalen Fesseln um das Wesen Claudia sich wieder lockern könnten. Des Nachts war ich so müde, dass ich einschlief, bevor mein Kopf richtig auf der Matte lag.
Vielleicht träumte ich noch von meinem alten Leben, aber tatsächlich gelang es mir immer besser, meine Trauer, meine Claudia-Denkweise und meine Gefühle in einen hinteren Teil meinen Gehirns zu verbannen.
Dabei halfen mir auch die fast unmenschlichen Schmerzen des unerbittlichen Trainings. Sie lenkten mich ab und zeigten mir brutal, dass ich am Leben war.

Zum besseren Verständnis des Aikido erklärte uns Aharon, unser Ausbilder in Sachen Kampfsport, dass Aikido aus der japanischen Feudalzeit stammte. Die Einzigen, die damals Schwerter tragen durften, waren die Samurai. Ein Schwertkämpfer war jedoch wehrlos, hielt man die Hand fest, die das Schwert ziehen sollte. Daraus entwickelten die Samurai die berühmten Handhebeltechniken.

„Langsam ausgeführt, geleite ich meinen Gegner sanft zu Boden. Kurz und hart reiße ich ihm den Arm raus. Im Nahkampf effektiv und nachhaltig. Vor allem: Kein Gegner behält seine Waffe. Ein Aikidoka bekommt alles aus den Händen, was der Gegner festhält!“, erklärte er in sehr leisem, aber glasklar gesprochenen Ton.

Hatte ich überhaupt noch Arme, oder waren sie mir schon abgefallen?
Jedes Mal, wenn sie ausgestreckt und erschöpft vom Gewicht tiefer sanken, gab es wieder Peitschenhiebe zur Ermunterung.
Das perfideste dabei war, dass wir uns für jeden einzelnen Hieb bei dem Allmächtigen bedanken mussten. Mit jedem Tag biss ich meine Zähne mehr zusammen, wurde mein Wille eiserner, verblasste mein altes Leben mehr und mehr und wurde mein Körper stählener.

Dieses, neu geschaffene Wesen in mir, war ein williges Werkzeug des Predigers. Alle Informationen und Kampftechniken sog ich gleich einem Schwamm in mich ein. Trotz meiner bleiernen Müdigkeit am späten Abend, nach dem “Großen Gebet” mit Reinigungs- bzw. Taufzeromonien sowie der Hinrichtung der Unwürdigen und dem Nachtmahl, übte ich die Regeln im Zelt vor dem Schlafengehen mit meiner neuen Zeltgenossin.

Sie hieß Viola und war auch die einzige Überlebende ihrer Familie. Wir flüsterten unsere Namen nur heimlich, denn offiziell waren wir noch namenlos. Erst am Ende unserer Ausbildung zu Vollstreckerinnen würden wir vom Prediger in einer Art Taufe unsere Namen erhalten.

Auch Viola war ähnlich traumatisiert wie ich gewesen, als der Prediger sie ins Lager brachte. Nach ihrer Reinigung gab er sie in meine Obhut, ich wäre verantwortlich dafür, dass sie nicht scheiterte.
Die Strafe für das Versagen war schlimmer als alles andere:
Steinigung durch die Mitglieder der Bruderschaft.

Dies war eine ziemliche Motivation für uns alle!
Denn jeder im Lager war für das korrekte Verhalten eines anderen verantwortlich. Keiner von uns wollte so unwürdig sterben.
Deshalb übte ich bis zur Erschöpfung mit ihr. Sie war schwach und schnell entmutigt so wie mein inzwischen verbanntes früheres „Ich“.
Ich hatte so meine Zweifel, dass sie es schaffen würde. Ich dürfte nicht an ihr scheitern! Sie musste sich mehr anstrengen und ich motivierte sie mit Ohrfeigen für falsche Antworten.
Am Anfang kostete es Überwindung, denn ich hatte nie zuvor einen anderen Menschen geschlagen. Es war ein ständiger Ritt - wie auf einer Rasierklinge - für mich. Sie war eine ziemliche Belastung und eine weitere Prüfung meines Glaubens.

Für mich trug Danijel die Verantwortung.
Er war unser Ausbilder an den Messern und hatte allen Grund mit meinen Fortschritten sehr zufrieden zu sein.
Geduldig erklärte und demonstrierte er das Ausweichen und Kontern. Ermahnte uns, in einem Kampf Klinge gegen Klinge immer zwischen Stechen und Hauen, schnell zum Parieren zu wechseln.

Wir übten mit Kampfmessern, die auf einer Seite Schneide und auf der anderen Säge waren. Die Unvorsichtigen und Unkonzentrierten wurden so nacheinander ausgesiebt.
Auch ich trug einige Blessuren davon, doch Dank meiner Geschicklichkeit war es nicht so schlimm. Nichts was Abigail nicht wieder mit Nadel und Zwirn in Ordnung bringen konnte, selbstverständlich ohne örtliche Betäubung und mit einem hämischen Grinsen als Zugabe.
Warum nur konnte sie mich nicht leiden?

Danijels Lieblingsstück war allerdings das Karambit.
Er war ein Messerfetischist und hatte einige der verbotenen Klingen noch vor der Apokalyse im Internet erworben. Seine Vorliebe übertrug sich auf mich.
Ich fühlte mich ihm nah, jedoch ganz unschuldig. Und noch näher, als der Prediger mir mitteilte, dass er ihn als meinen künftigen Ehemann vorgesehen hatte, sobald alle Sünder vernichtet wären.
Da wir nun so etwas wie verlobt waren, schenkte er mir eines.

Was für eine Gabe! Wie es in meiner Hand lag, wie sich dieser kalte Stahl anfühlte, so tödlich, und dabei so außergewöhnlich schön.
Alle anderen Messerarten verblassten, neben seiner Eleganz.
Zärtlich und ehrfurchtsvoll strich ich mit einer Fingerspitze über die Klinge. Eine wohlige Gänsehaut überzog meinen Körper. Es war als entstünde eine geheimnisvolle Verbindung zwischen mir und dem toten Gegenstand in meinen Fingern.

“Es ist scharf wie eine Raptorenkralle, die sich von der schmalen gebogenen Spitze bis zum Griff etwas verdickt. Geräuschlos, blitzschnell einsatzbereit und für den Gegner kaum sichtbar liegt es in der Hand.
Sie reißt schreckliche Wunden, durchtrennt mühelos Sehnen und zerschneidet Fettgewebe als wäre es Butter! Ich zeige es dir.”, erklärte er mir so, als würde er gleich etwas zelebrieren.

Danijel demonstrierte es mir auf äußerst schockierende Weise.
Einige Unwürdige aus dem äußeren Kreis waren vom Prediger vor eine Wahl gestellt worden.
Sie hatten wiederholt gefehlt und ihre Chancen, dem Herrn noch in einem gottgefälligen Kampf zu dienen, waren vertan. Dennoch könnten sie dem Allmächtigen noch von Nutzen sein, erklärte er ihnen, indem sie ihre unwürdigen Körper den Kämpfern als Sparringpartner bzw. als Übungsobjekte bei Messer- und Schwertkämpfen zur Verfügung stellten.
Sterben müssten sie ohnehin, nur auf diese edle Art, würden ihre Seelen rein und blütenweiß wie frischer Schnee ins Paradies eingehen können, da auch sie der gerechten Sache irgendwie gedient hätten.
Das war offenbar ein großer Ansporn, denn an Freiwilligen mangelte es nicht.

„Schau genau hin, ich zeige dir, wie du mit dem Baby einen Sünder mit wenigen Handgriffen zur Hölle schicken kannst!“, sprach er und der ungleiche Kampf begann.

Der Unwürdige griff schreiend mit dem Mut der Verzweiflung an.
Danijel duckte sich geschickt und durchschnitt mit dem Karambit erst die Sehnen in der einen Kniekehle. Als der Angreifer vor Schmerz brüllend, mit dem verletzten Bein einknickte, wiederholte er es an der anderen.
Der Angreifer sackte zusammen während Danijel zeitgleich einen präzisen Schnitt an die Halsschlagader zur weiteren Schwächung setzte.
Er stieß sein Knie an Angreifers Brust und rammte die Klinge kraftvoll von unten durch dessen linkes Auge bis hoch zum Gehirn.
Es dauerte nur Sekunden.
Ein grässliches Geräusch folgte, als er das Karambit wieder aus dem Kopf herauszog und an einem alten Lumpen das Blut, vermischt mit Knochensplittern und grauer Masse, abwischte.

Mein altes Wesen schrie kurz aber heftig voller Entsetzen auf, sah den Menschen, der zusammengekrümmt und tot auf dem Boden lag. Blickte fassungslos auf das genommene Leben und verabscheute das Ganze zutiefst.

Das neue Wesen, jedoch war fasziniert, mit welcher Eleganz, Effizienz und Eiseskälte Danijel gemordet hatte.
Er hatte den Messerkampf mit einer Art Tanz verbunden. Ausweichtechniken wie im Aikido, verbunden mit Tangoschritten und einer Schneide-Drehung und damit quasi sein Gegenüber filetiert.

Genau das war MEIN Weg und MEINE Bestimmung! Das wollte ich auch können, genauso schnell, genauso effektiv, genauso tödlich!

Danijel strahlte mich an, als er meine Begeisterung sah.

„Jetzt du!“, forderte er mich auf und winkte den nächsten zitternden Todeskandidaten heran.

Ich gebe zu, bei mir sah es nicht so elegant wie bei Danijel aus.
Es dauerte länger, wirkte hölzern und seltsamerweise verspürte ich doch noch Skrupel, obwohl ich sie in mir bekämpfte. Als es getan war, und dieser Unwürdige leblos vor mir im Dreck lag, erbrach ich mich, bis außer Galle nichts mehr kam und schämte mich schrecklich ob meiner Schwäche.
Danijel tröstete mich.

„Dein Erster? Ja, der Erste ist immer der Schlimmste!
Es wird mit jedem weiteren leichter und besser werden, das verspreche ich dir. Ich bin stolz auf dich, du wirst ein würdiger Stern unserer Bruderschaft sein! Unser allmächtiger Herr sei mit dir!“.

Er lächelte mich zuversichtlich an und strich mir leicht über meine Wange. Ich fühlte neuen Mut und erwiderte sein Strahlen.

„Gleich noch einer, damit du dir den Bewegungsablauf besser einprägen kannst!“, meinte er locker und winkte den nächsten heran.

Er behielt Recht, es wurde besser.
Ich wurde besser.
Nach dem fünften ging es fast schon so schnell wie bei Danijel.

Die Beste von allen wollte ich werden! Der Prediger sollte stolz auf mich sein – und auch Danijel. Auf diese Art wollte ich mich für ihr Vertrauen in mich bedanken und beide ehren.
Außerdem würde ich mich nie wieder von irgendjemand demütigen, bespucken und beschimpfen lassen!
Ich würde Gottes schärfste und tödlichste Waffe werden. Das schwor ich mir!

Das Lauftraining bereitete mir keinerlei Probleme, denn viel gejoggt hatte ich schon immer. Auch Aikido machte mir großen Spaß. Die Kraft meiner Gegner so zu nutzen, dass ich diese gezielt einsetzen konnte, um sie zu Boden zu ringen – der Wahnsinn.
Dazu diese leichten tänzelnden Bewegungen, die spielerisch wirkten. Als ehemals leidenschaftliche Tangotänzerin war dies eine meiner leichtesten Übungen.

Weniger Spaß machten mir die Schießübungen.
Ich empfand es als zu feige, einen Gegner aus der Entfernung und für ihn unerwartet niederzustrecken, außerdem war es mir zu laut.
Beim ersten Mal hatte ich mir durch den unerwarteten Rückstoß leicht wehgetan. Der Ausbilder lachte mich nur aus, auf diese Art und Weise hätte ich gleich gelernt, wie man es nicht machen sollte!
Ich umklammerte das Karambit in meiner Hosentasche und rezitierte leise aus der Bibel, um mich wieder in die Gewalt zu bekommen.

Wenig begeistert hatten mich auch die subversiven Methoden der Ninja.
Ja, sie verfügten schon über erstaunliche Techniken: unter Wasser atmen, an steilen Felsen hochklettern oder, das Herablassen von Gift an Seidenfäden,welches den Schlafenden in den Mund ran.
Fies, weil sie den Gegner aus der Ferne und unvorbereitet mit seinem Schöpfer konfrontierten.
Viola wurde eine wahre Meisterin im Umgang mit den Shuriken, den Wurfsternen. Das war das Einzige, dass sie besser konnte als ich.

Ein möglicher Grund hierfür war möglicherweise, dass ich es so hinterhältig nicht mochte, sondern mich lieber einem offenen relativ fairen Kampf stellte, bei dem der Sünder zur Reue gebracht werden sollte.
Dies war vielleicht einem Rest Claudia in mir geschuldet.
Aber es war nun einmal der Wille des Herrn, dass ich alle Kampftechniken beherrschen sollte. Wer war ich denn, dass ich mich dem widersetzte?

Die Betstunden – ich liebte sie!
Inbrünstig war ich bei der Sache und sie vergingen immer viel zu schnell. Ich bat den Prediger um eine weitere, vielleicht um Mitternacht?
Er lächelte mich an und legte seine Hand auf meine schmerzenden Stellen.
Ich schwor, der Schmerz verging sofort und kam nicht wieder zurück!
Wäre ich nicht schon von seiner Heiligkeit überzeugt gewesen, dann spätestens jetzt!

Am Ende meiner Kampfausbildung beherrschte ich den Umgang mit allem, was im Kampf mit den Sündern nötig war.
Meine Ausbilder bescheinigten mir, dass ich die am eifrigsten Studierende gewesen sei, geschickt, gewandt und nun dazu fähig, jeden Kampf zu bestehen. Ich schickte die Unwürdigen ohne mit der Wimper zu zucken vor den höchsten Richter und es erfüllte mich mit Stolz, des Allmächtigen Werkzeug der Gerechtigkeit zu sein.
Die heiligen Worte durchdrangen meinen Geist vollständig und ich wäre für meinen Herrn widerstandslos gestorben. Ich konnte mir kein schöneres Opfer und keine größere Freude vorstellen.
Aus den kleinen Wurzeln vor wenigen Wochen war ein mächtiger Baum in meinem Geist gewachsen, der saftig grüne Blätter trieb. Auf jedem einzelnen Blatt stand SEIN Name.
Nichts war mehr von Bedeutung, außer IHM zu dienen und seinem Diener, dem Prediger, gegenüber gehorsam zu sein.
Alle meine Aufgaben hatte ich mit Bravour und der größten Hingabe erfüllt.

Als Belohnung winkte mir nun die Aufnahme in den innersten Zirkel des Predigers. Ich würde damit in der Rangfolge sogar noch vor seiner Frau Abigail stehen. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Ich hatte es geschafft!
Salbungsvoll erklärte er mir, dass ich nach meiner Taufe der erste von insgesamt sieben Sternen sein würde, die für Gerechtigkeit unter den Sündigen sorgen würden.
Zuvor müsste ich jedoch symbolisch meinen alten Leib und meinen alten Geist ablegen, damit ich bereit für das Neue war.
Ein ritueller Tod solle mir dabei helfen.
Ich strahlte, schon sehr bald dürfte ich endlich dem Prediger und dem Herrn dienen!

...

Freiwillig legte ich mich bekleidet nur mit einem weißem Kleid, barfuß und mit Würde in den, aus Planken grob gezimmerten Sarg, in das etwa einen Meter tiefe Loch, faltete meine Hände zum Gebet und blickte in Danijels dunkle Augen über mir, die vor Rührung und Stolz feucht schimmerten, bevor ich meine Augen schloss und der Deckel der Kiste sich über mich senkte.
Zügig wurde nun damit begonnen, mich zu begraben.

Staubig drangen Sand und Erde durch die Ritzen und ich atmete noch einige Atemzüge tief ein und aus. Bekämpfte die aufsteigende Panik in mir, indem ich lautlos aus der Bibel rezitierte.
Mein schwaches menschliches Fleisch musste sterben, damit mein Körper als geheiligte und gesegnete Vollstreckerin wiederauferstehen könne.
Ich hatte Vertrauen, dass der Herr mich als sein Werkzeug anerkennen und mir somit erneut das Leben schenken würde.

Ich hielt die Luft an. Überall war Sand, der in meine Nasenlöcher rieselte, meine Lider beschwerte und meine Ohren verstopfte.
Meine Lungen brannten, der Wunsch zu atmen wurde übermächtig.
Erde und Staub in meinen Lungen, husten, Sand in meinem Mund, Panik, dann Schwärze und Stille. Frieden, das Paradies vor Augen und zum Greifen nah, meine Mädchen an der Pforte stehend und mir zuwinkend.
Ich sah Claudia sterben.

Dann grelles, schmerzendes Licht, schrecklicher Husten, Ringen um Luft…

„Judith, des Herrn erster Stern! Ich rufe dich bei deinem gottgegeben Namen! Kehre zurück aus dem Totenreich und tritt zu uns in das Licht unseres Herren!“, beschwor mich der Prediger.

Unendlich schwer fiel das Atmen, immer wieder durch Husten- und Spuckattacken unterbrochen.
Danijels starke Arme hoben mich aus dem Sarg und trugen mich zum nahen Wasser, wo er mich untertauchte und vom Dreck meines alten Lebens befreite.

Prustend und vor Kälte zitternd, schnappte ich nach Luft, doch geborgen in den schützenden Armen meines Verlobten strahlte und dankte ich laut meinem Herrn.

Judith – welch ein wundervoller Name!
Ich würde das gegnerische Heer vernichten, in dem ich ihre Anführer töten würde, so wie die Judith aus dem Alten Testament!



„Claudia?“...
****orn Mann
11.994 Beiträge
Judith
*********pasXX:
Die Konsequenz war der Einsatz eines dünnen Rohrstocks, wie im letzten Jahrhundert, einfach aber effektiv.

Strafe muss sein!
*fiesgrins*

Äußerst packende Episode, die mich beim Lesen fesselte und die ich unbedingt in einem Rutsch verschlingen musste.
Sehr gut finde ich die Kampfausbildung beschrieben, das Wesen des AIKIDO, das Ausnutzen und Umleiten der Kraft eines Angreifers, und dem daraus resultierenden tödlichen Gegenangriff. Präzise, effektiv, endgültig. Auch der Stock-, Schwert- und Messerkampf ist überaus korrekt erklärt. Das Training erinnert mich vom Ablauf her an das traditionelle Neujahrs Kan Kei Ko im AIKIDO. *top* Nur, dass nicht das Rezitieren aus der Bibel sondern das lautlose Aufsagen von Mantren hilft, den Geist zu reinigen, zu klären und zu stärken.
Das "Begraben" kommt mir ebenfalls bekannt vor, als Ritual des Lossagens. Nur eben nicht ganz so krass.

Auch die Anatomie ist wunderbar erklärt, die tödlichen Trefferpunkte und die Effizienz. Besonders die Absätze im Umgang mit einem Kampfmesser.

Diese Episode hat mir sehr gefallen, Judith ist mir sympathisch. Weil sie alles durchsteht und nicht klagt oder jammert. Ansporn durch Ohrfeigen kann da tatsächlich hilfreich sein. Sie überlebt.
*********ynter Frau
9.577 Beiträge
Das Lob für die Kampfbeschreibungen...
und die korrekten Abläufe gebührt Ghostface! *bravo*

Ohne seine Hilfe hätte ich das nicht schreiben können, weil ich Null Ahnung von der Materie habe!
*rotwerd*
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