F220“ Kapitel 8b „Erkenntnis“
Die Judith in meinem Wesen flucht lautstark wie ein Müllkutscher. Noch ist es mir nicht gelungen, mich in sein Vertrauen einzuschmeicheln. Ich besinne mich auf Claudias Eigenschaften, sie ist so lieb und entwaffnend unschuldig in ihrer Art.
Ich könnte, nein ich muss sie benutzen, denn Judith wird er nie trauen. Claudia kann an seine Beschützerinstinkte appellieren und ihn unvorsichtig werden lassen. Zum anderen hat er eine Schwäche für diese Ozelot-Dame und ihr Baby. Dieses Wissen wird sich doch irgendwie verwerten lassen?
Zugegeben, das Baby hat selbst mich einen Moment ins Wanken gebracht.
Zumindest hat Sünder sich eines Besseren besonnen und mich doch nicht im Waschraum eingesperrt. In dem Lazarettzimmer finde ich eher etwas zum verteidigen als dort. Aber erneut hat er mich auf dieser verdammten Liege mit diesen Scheißgurten fixiert, obwohl ich doch die schweren Tränen- und Flehgeschütze aufgefahren habe.
In meinem heiligen Zorn schreie ich ihm den Satz hinterher, den ich sonst wie ein Gebet vor der Vollstreckung spreche: „Noch lebst du, bald bist du ein Weiland (Gewesener)“ *
Er lacht nur hämisch und knallt die Tür hinter sich zu. Verflixt, jetzt muss ich auch noch zittern, dass dieser Mistkerl nicht anderweitig erledigt wird!
Verzweifelt versuche ich mich in den Riemen zu bewegen, es muss doch eine Möglichkeit geben, sich hier heraus zu winden?
Die Gurte geben kaum nach. Ich befürchte, so leicht wird das Ganze nicht.
Während ich dennoch nicht nachlasse, die breiten Riemen irgendwie zu dehnen, scannt mein Blick den schwach erleuchteten Raum. Etwa einen Meter neben mir mache ich auf dem Boden einen Gegenstand aus.
Was zum Teufel ist das?
Er muss schon vorher dort gewesen sein, den ich habe nicht gehört, dass etwas auf den Boden gefallen ist. Ich zwinge mich zur Ruhe, kneife meine Augen zusammen, um besser fokussieren zu können. Erflehe die Hilfe des Allmächtigen zu meiner Rettung.
Es hilft, denn da liegt genau so ein Magnetdings, wie jenes, mit dem Sünder meine Riemen verschlossen hat. Hoffnung flutet mein Bewusstsein.
Ich muss runter auf den Boden. Doch wie soll ich das nur anstellen?
Nachdenklich wandert mein Blick zum Fenster, von dem aus ich einen guten Blick über das Gelände des Stützpunkts bis zur „Hamburg“ habe. Draußen ist es zwar bereits dunkel, doch das helle Licht des Vollmonds lässt mich fast jede Einzelheit da draußen gut erkennen.
Was war das denn?
Meine scharfen Augen nehmen nicht nur Bewegungen im Wasser auf Höhe des Schiffsbugs wahr, sondern auch an dem Elektrozaun. Aber - warum treffen die Geschütze an dieser Stelle nicht bzw. warum bekommen diejenigen am Zaun keinen Stromschlag?
Der Elektrozaun scheint außer Betrieb zu sein und die Gegend um den Bug herum liegt vermutlich in einem toten Winkel. Ich sehe das Ganze mit gemischten Gefühlen.
Einerseits, wenn es „meine“ Leute sind - und das wäre durchaus möglich - wäre es nicht gut für mich, dass der Sünder, für dessen Ableben ich die alleinige Verantwortung trage, eben noch an selbigen ist. Das würde bedeuten, dass ich schmählich versagt hätte und dies wiederum würde mein qualvolles Ende bedeuten. Wenn es nur eine marodierende Bande wäre, die lediglich auf die Ressourcen des Stützpunkts aus ist, dann hätte ich zumindest eine fifty/fifty Chance zu überleben, doch ich könnte auch nicht mehr zu meiner Bruderschaft zurück, da ich wieder unrein wäre. Ich habe nicht wirklich eine Wahl.
Doch das sind äußerst wertvolle Informationen, von denen ich Kenntnis erlangt habe - nicht nur für den Prediger, sondern auch für den Teufel in Menschengestalt.
Ich könnte diese gezielt einsetzen, um sein Vertrauen zu gewinnen. Ich werde mich jetzt von dieser Liege befreien, mir eine Waffe organisieren und dann aus diesem Raum verschwinden. Aus dem Grund, weil Sünder dies von mir erwartet.
Ich werde sein Klischee von Judith bedienen und Claudia einsetzen, wann immer es nötig ist, mein Ziel zu erreichen!
Wie eine Berserkerin werfe ich mich von rechts nach links und bringe damit die Liege zum schwanken. Ihre Füße hängen auf der einen Seite bereits für Bruchteile von Sekunden in der Luft. Nicht nachlassen! Himmel ist das anstrengend, doch das Adrenalin in meinem Körper verleiht mir die nötigen Kräfte.
Die Schmerzen ignoriere ich, ganz so, wie ich es beim Prediger gelernt habe.
Dein Körper ist vergänglich, dein Wille ist dein Tabernakel, in dem die Schwäche deines Fleisches eingeschlossen wird und dich ständig mahnt, zu widerstehen.
Dieses Mantra des Predigers wiederhole ich in meinem Geist bis der Schmerz ausgeblendet ist. Ebenso wie der Schweiß, der mir vor Anstrengung, aus allen Poren rinnt und bereits eine Pfütze unter meinem Rücken bildet.
Noch ein wohldossierter Schubser in die richtige Richtung und die Liege neigt sich über ihren Schwerpunkt hinaus zur Seite. Krachend kippt sie mit mir um.
Noch halten mich die Gurte einigermaßen in der Schräge, doch die Schwerkraft lässt meinen Körper ein winziges Stückchen nach unten in Richtung Boden sinken und gibt dadurch meiner unten liegenden Hand ein Itzchen mehr Spielraum.
Das Magnetteil liegt quasi neben mir und mit meinen langen Fingern kann ich es sehr langsam nah genug an das Schloss meiner Handfessel heranholen, so dass es aufspringt. Der Rest ist für mich ein Kinderspiel.
Dankbar schicke ich ein stummes Gebet gen Himmel und an den Prediger.
Ihm verdanke ich meine Zähigkeit und den unbedingten Willen, niemals aufzugeben und nie das schwache Fleisch gewinnen zu lassen.
Meine Glieder sind wie eingerostet und ich komme nur schwerfällig auf die Beine. Diese ständige Fesselei geht mir gehörig auf den Zeiger und die Entbehrungen der letzten Tage zeigen allmählich Wirkung.
Etwas gehässig bemerkt Claudia in einer Ecke meines Geistes, dass es wohl doch nicht ohne den vermaledeiten Körper geht. Klappe!
Stolpernd bewege ich mich zu einer der Kommoden, auf der einige Petrischalen und ein Blutdruckmessgerät liegen, während ich mir schwöre, mit diesem Mistkerl, wenn er denn in einem Stück zurückkommt, ein gewaltiges Hühnchen zu rupfen.
Meine Informationen werde ich so teuer wie möglich verkaufen!
Hektisch ziehe ich die Schubladen auf, auf der Suche nach etwas, das ich als Waffe benutzen könnte. In einem Lazarettzimmer sollte doch ein Skalpell zu finden sein, aber ich wäre auch mit einem Schraubenzieher zufrieden.
Doch was finde ich außer Unmengen von Verbandsmaterial? Ein Modell-Mofa in einer Geschenkpackung, auf der steht „Für dich mein Liebster, zur Erinnerung an unsere Anfänge, In Liebe Moni“ und daneben sind lauter Herzchen gemalt.
Einen kurzen Moment verschleiern Tränen meine Augen, eine Millisekunde trauert Claudia um diese beiden Menschen. Dann ist Judith wieder am Zug und schleudert das wertlose Ding fluchend an die Wand.
Ich muss mich beeilen, sicher wird demnächst einer hier auftauchen, entweder der Sünder oder die Angreifer. Hastig durchwühle ich die Schubladen als die Tür geräuschvoll auffliegt und schwungvoll gegen die Wand kracht. Verdammt!
Sein Adrenalin getriebener Blick spricht Bände als er mich über eine Schublade gebeugt und darin kramend erwischt. Es ist so wie von mir vermutet, dass er nicht wirklich überrascht wirkt, mich von den Gurten befreit, vorzufinden.
Er hält ein blutiges Bündel Mensch in seinen Armen und wirft es mir vor die Füße. Hasserfüllt schreit er mich an, ob ich sie erkennen würde, ob sie gar meine Freundin wäre. Dabei richtet er eine Waffe auf mich.
Er ist voller Blut, sein eigenes oder das der Fremden?
Der Prediger hat so Recht, er ist ein Teufel!
Ich bin auch erschrocken, denn wir haben tatsächlich einige wenige Frauen in unserer Bruderschaft und ich kann ihr Gesicht unter dem ganzen Blut nicht besonders gut erkennen. Im Geiste gehe ich die Gesichter durch.
Doch passt schon ihre äußere Erscheinung nicht so recht in unsere Bruderschaft. Sie ist schlank, aber nicht abgezehrt und trägt eine, mir unbekannte Uniform.
„Ich weiß nicht, ob ich sie kenne. Ich sehe ihr Gesicht nicht richtig“, erwidere ich aufsässig, denn diese Reaktion erwartet er von Judith.
„Ok, Houdina, dann greif dir einen von den Lappen und mach ihr Gesicht sauber, aber schön langsam und keine falsche Bewegung, kapiert!“ bellt die Kreatur gereizt.
Ich agiere wie mir befohlen und reinige, neben dem toten Körper kniend, ihr Gesicht.
Mein Gott, so jung! Mit jedem Wisch wird der Kloß in meinem Hals dicker.
Fast noch kindhafte Gesichtszüge kommen unter all dem Blut zum Vorschein. So junge Kämpferinnen haben wir nicht in unseren Reihen.
Claudia schließt die Lider ihrer gebrochenen Augen, deren Farbe einmal grün war.
Der Tod hat sie schnell ereilt, sie hat nicht gelitten.
Ein etwas überraschter Gesichtsausdruck ist wie auf ihrem Antlitz eingefroren. Da hat dieses Mädchen diese schreckliche Seuche überlebt, um dann von einem wahren Schrapnell-Hagel durchlöchert zu werden.
Was für eine grausame Welt!
Tränen der Bestürzung rinnen über mein Gesicht als ich tief bewegt zu ihm hochschaue.
„Ich kenne diese Frau nicht“, flüstert das Wesen Claudia.
„Lügnerin! Du willst eine Gerechte sein? Schon mal was von den zehn Geboten gehört? Du sollst nicht lügen, du sollst nicht töten und so weiter?“ ätzt er.
„Ich glaube dir nicht! Ich will jetzt sofort von wissen, wer meinen Stützpunkt angegriffen hat. Du wirst mir sagen, wie viel Leute der Prediger hat, wo euer Unterschlupf ist und wie seine Strategie aussieht.
Sag mir alles und wehe, du lässt etwas aus - sonst wirst du deiner Vollstrecker-Freundin folgen und glaube mir, du wirst keine so hübsche Leiche werden!“
Wie zur Bekräftigung seiner Worte höre ich das metallische Klicken der Sicherung.
In das Mündungsrohr starrend, schweige und überlege ich kurz. Dann spricht Claudia fast sanft zu ihm:
„ Nur zu - erschieß mich doch, dann hat mein Leiden ein Ende. Wenn es eine gütige Gerechtigkeit gibt, dann hoffe ich, auf der anderen Seite meine Kinder wiederzusehen. Nichts hält mich mehr in diesem beschissenen Leben!
Dieser Körper hier bedeutet mir nichts mehr. Er ist nur noch eine mit Hass gefüllte Hülle. Das ist nicht mehr mein Leben, was diesen Körper antreibt!
Ich war nie extrem. Nichts von dieser Person, die sich Judith nennt, macht MICH aus. Drück ab, doch dann erfährst du gar nichts – auch nicht, wie die Angreifer hereingekommen sind.“
Mit dem letzten Zusatz schleicht Judith sich zurück.
Ich blicke ihm geradewegs furchtlos in die Augen und warte noch immer - neben der Leiche kniend - auf meine Exekution innerhalb der nächsten Sekunden.
Aber nichts passiert. Stattdessen sieht Sünder reichlich verwirrt aus.
So, als ob er nicht wüsste, was er von Claudias Rede (
Gut gebrüllt Löwe! erkennt Judith an) halten soll.
Bei näherer Betrachtung sieht er ganz schön fertig aus. Sein Gesicht hat eine ungesunde Farbe und er steht nur äußerst angestrengt gerade. Er ist verletzt.
Eine weitere Chance für mich?
Sei vorsichtig, flüstert Predigers Stimme in meinem Kopf,
ein verwundeter Eber ist doppeltgefährlich! Und lobt mich gleichzeitig dafür, dass ich den verblendeten Sünder mit meiner List geblendet habe.
Mit fester Stimme, die nicht zu seinem elenden Äußeren passen will, meint er endlich: „Ok Schätzchen, ich glaube dir, dass du sie nicht kennst. Durchsuch ihre Taschen, vielleicht ist da etwas zum identifizieren.“
Routiniert taste ich sie ab und tatsächlich finde ich eine Plastikkarte versteckt unter der Innensohle in einem ihrer Schuhe. Seltsamer Aufbewahrungsort für eine ID-Karte!
Warum war sie so versteckt?
Es sieht aus wie ein Dienstausweis. Eine graue Plastikkarte mit einem Foto, einem Namen: Katharina Thal und einer Nummer. Soweit so gut, aber dann sehe ich das Symbol in der linken oberen Ecke – eine weinrote Doppelspirale.
Mir ist, als ob sich eine eiskalte Faust um mein Herz krallt – Claudia erkennt dieses Symbol! Die Heftigkeit der Erinnerung raubt mir fast den Verstand.
In meiner alten Wohnung liegt in der hintersten Schublade ein Dienstausweis mit dem gleichen Symbol…der meines Ex-Mannes. Kreidebleich werde ich und zitternd sinke ich in mich zusammen.
Alarmiert fragt mich die Kreatur, ob ich gerade ein Gespenst gesehen hätte. Mechanisch nicke ich – und es sprudelt wie von allein aus mir heraus.
„ Mein Ex arbeitete vor seinem spurlosen Verschwinden beim Pharmakonzern Jameson & Jameson in der Niederlassung Norderstedt. Sein Dienstausweis hat ein identisches Symbol wie dieser hier“, meine Stimme ist nur noch ein Flüstern.
„Du meinst den Welt-Pharma-Konzern Jameson & Jameson aus den USA? Den, der sich auf Impfstoffe spezialisiert hat? Dein Ex war dort beschäftigt? In welcher Position?“ fragt er mich neugierig.
„So genau kann ich das nicht sagen.
Er tat immer sehr geheimnisvoll, wenn es um seine Arbeit ging und meinte, es wäre besser für mich, wenn ich nicht zu viel wüsste. Ich habe es irgendwann aufgegeben zu fragen und dann war er eines Tages einfach weg.
Ohne ein Wort des Abschieds, ohne ein „Warum“ er mich und die Kinder einfach so im Stich gelassen hat. Ich weiß nur, dass er am Vorabend seines Verschwindens sehr nervös war. Wir tranken gemeinsam ein Glas Rotwein und dann erinnere ich mich an nichts mehr.
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem dicken schmerzendem Arm und schrecklichen Kopfschmerzen auf und er war fort. Auch alle seine Sachen, nur ein schnell hingekritzelter Abschiedsbrief lag auf dem Tisch. Darin stand, dass er mich verlassen würde.
Nur wie durch Watte erinnere ich mich an das weitere, denn ich bekam sehr hohes Fieber. Ich verständigte die Polizei, doch die teilte mir mit, dass mein Mann erwachsen und frei sei, zu gehen, wenn er dies wünsche.
Daraufhin fragte ich bei Jameson & Jameson nach, doch da hieß es nur lapidar, er habe einige Tage zuvor gekündigt und sie wüssten nicht, was er nun treibe.
Nach einigen Tagen, als es mir wieder besser ging, fand ich seinen Dienstausweis unter einer Ecke des Wohnzimmerteppichs. Das fand ich merkwürdig, da er diesen doch bestimmt hätte abgeben müssen.
Doch ehrlich, es war mir egal – ich hasste ihn und ich hatte andere Sorgen, denn das Fieber wollte nicht weichen und uns ging das Geld aus. Ich hatte keine Zeit zum Arzt zu gehen, denn ich musste sofort eine Arbeit finden.“
Nach Beendigung meines Berichts wundere ich mich über mich selbst, dass ich dem Sünder so freimütig all das erzählt habe, denn bisher hatte ich es nur dem Prediger, aber nicht in allen Details anvertraut, weil ich einiges einfach vergessen hatte.
Sünder steht wie vom Donner gerührt und sinniert:
„Du erinnerst dich nach dem Schluck Rotwein an nichts mehr und du hattest am nächsten Tag einen dicken schmerzenden Arm, in der Folge ein heftiges Fieber …dein Ex arbeitete in einem Konzern, der Impfstoffe entwickelt …
Auch du Scheiße…!”
· Zitat von Karl Leberecht Immermann