„So geht das nicht weiter!“, seufzte Sophie und beäugte kritisch ihre üppigen Rundungen im Spiegel.
Sie kniff in die Haut auf Höhe ihrer Hüfte, da gab es einiges zu verbessern. Auslöser des Ganzen war ein verführerisches Kleid, dass erst vor Kurzem gekauft, bereits schon wieder spannte, an eben jenen Hüften. Ein Kleid, zu teuer und zu schön, um als Schrankleiche zu enden. Wilde Entschlossenheit lag in ihrem Blick, Aktion „Winterspeck weg in vier Wochen“ würde noch heute beginnen!
Die leisen Zweifel, ob der Zeitpunkt, vier Wochen vor dem Hochfest der Schlemmerei, Weihnachten, so gut gewählt war, schob sie beiseite.
Schließlich gab es das ganze Jahr über irgendwelche Ausreden um abzuwarten. Runde Geburtstage, Firmenjubiläum, Brunch bei der Freundin und so weiter und sofort, doch diesmal nicht! Sie würde eisern sein und allem widerstehen! Jawohl!
In ihrem Auto fuhr sie zum nahe gelegenen See. Diesen würde sie mindestens dreimal joggend umrunden, so der Plan.
Igitt, was war das denn heute für ein elendes Wetter, leichter Nebel und Nieselregen?
Da würde sie ja ganz nass werden, sich erkälten und dann wochenlang mit einem lästigen Schnupfen durch die Gegend laufen. Sie zögerte. Und überall dieser Schlamm auf dem völlig durchgeweichten Weg!
Diese Tatsache konnte sie nicht ignorieren, sie dachte an ihre nagelneuen Turnschuhe. Die könnte sie hinterher eindeutig wegwerfen. Es schien höhere Gewalt zu sein, etwas wollte nicht, dass sie heute joggte.
Ok, vielleicht doch lieber erstmal in die Apotheke und diesen Diätdrink holen, von dem alle behaupteten, er schmecke köstlich und die Pfunde würden von ganz allein purzeln? Gesagt, getan!
Sie kaufte das Diätpulver und zusätzlich noch Tabletten, die das überflüssige Fett in der Nahrung einfach so aus ihrem Körper schwemmen würde. Misstrauisch beäugte sie kurz darauf den angerührten Shake. Er roch seltsam künstlich und die Blasen darauf sahen auch widerlich aus. Wie sollte sie dieses Gesöff nur hinunterschlucken ohne zu würgen? Sie hielt sich die Nase zu, lenkte ihren Geschmackssinn mit einem extrascharfen Ingwerdrops ab und leerte das Glas tapfer in wenigen Zügen.
Bäh! Ekelhaftes Zeug, wenn einem da nicht der Appetit verging, von was dann?
Motiviert ging sie ins Büro mit dem festen Vorsatz, nichts zu naschen. Blöderweise hatte die Chefin die ersten Plätzchen des Jahres gebacken und wenn sie nicht unangenehm auffallen wollte, musste sie wohl oder übel kosten.
Sie waren überraschend lecker, Sophie nahm noch eins.
Sie hatte vielleicht einen Kohldampf! Dieser Shake sollte doch angeblich sättigen. Nicht bei ihr, wie es schien, sie griff nochmals zu. Die Chefin war begeistert und drängte ihr noch mindestens fünf weitere auf. Bis zum Mittag war die Dose leer und Sophie frustriert. Am Abend auf der Waage hatte sie leicht zugenommen.
Am nächsten Morgen beschloss Sophie durch die noch dunklen Straßen zu joggen, die waren zumindest schlammfrei. Die ersten Meter liefen sich sehr gut, mindestens um die vier Ecken wollte sie es schaffen. Doch dann kroch die Kälte durch das Fleece. Unangenehm war solche Lauferei, frierend und schwitzend zugleich.
Sie nieste. Na toll!
Sie schaffte es joggend bis ans Ende der Straße, dann war sie derart außer Puste und hatte so schlimmes Seitenstechen, dass sie langsam wieder zurück schlich.
Der Shake schmeckte noch schrecklicher als am Vortag. Zum Glück hatte an diesem Tag keiner ihrer Kollegen Süßkram dabei, dennoch zeigte sich die Waage abends nicht sonderlich beeindruckt und verweilte stur auf der bekannten Zahl.
Tatsächlich hatte sie nach sieben Tagen ein ganzes Kilo abgenommen, was aber vielleicht auch daran lag, dass sie - wohl von den Tabletten verursacht – unter Durchfall litt. Sie fühlte sich schwach und elend, doch aufgeben kam nicht in Frage!
An diesem Wochenende zwang sie sich drei Runden um den See zu laufen, allerdings nicht joggend sondern eher schneller spazierengehend, aber immerhin.
Am Abend lud sie ihre Freundin zur Belohnung ins Kino ein und brachte ungefragt einen XXL-Teller Nachos mit heißer Käsesauce und eine Diät Cola für sie mit.
Auf Sophies entsetzten Blick hin, entschuldigte sich die Freundin und murmelte etwas von der Macht der Gewohnheit. Es käme nicht wieder vor, versprach sie.
Was nun tun? Zumindest teilten sie sich den Teller.
Die Waage am Abend grinste sich eines und zeigte wieder einige Hundert Gramm mehr an Gewicht an. Sophie weinte bittere Tränen. Scheiß Tabletten, die nutzten überhaupt nichts!
Mit Todesverachtung trank sie am Morgen den Shake.
Die Nascherei am Tag hatte sie mittlerweile gut im Griff, denn sie hatte allen ihren Freunden und Kollegen von ihrem unbedingten Willen abzunehmen erzählt, was die soziale Kontrolle über ihre Nahrungszufuhr erhöhte.
So ähnlich funktionierte das auch bei diesem Gewichtsverein aus der Werbung.
Dort allerdings brachte die alte nette Nachbarin von nebenan nicht den restlichen Kuchen von ihrer Geburtstagsfeier zum 85. abends vorbei. Sophie war im Zwiespalt. Essen dürfte man nicht wegwerfen, wenn so viele Menschen auf der Welt hungerten, aber sie dürfte diesen Tortenkram nicht essen.
Ihre Todfeindin, die Waage, wartete doch nur darauf, ihr eine lange Nase zu drehen. Sie bedankte sich und nahm die Tortenstücke am nächsten Tag ins Büro mit. Die Kollegen freuten sich und sie blieb eisern trotz knurrendem Magen.
Wieder ein Kilo weniger am Ende der zweiten Woche. Doch schwer erkauft, denn dann kam unbarmherzig der Frustkater. Laut Beipackzettel des Shakes müsste sie eigentlich bereits das Doppelte an Gewicht verloren haben. Warum klappte es nicht?
Alles umsonst!
Das frühere Aufstehen, um die Straße entlang zu rennen und diese Quälerei mit diesem grässlichen Pulverzeug. Ihr Leib schrie nach einem üppig belegten Schinken-Käse-Brötchen, von ihr aus auch mit etwas Grünzeug belegt.
Sie vermisste ihre Chips und ihre Cola sowie den Zucker und die Sahne in ihrem Kaffee, vom Plätzchen dazu, ganz zu schweigen.
Ungewürzte Gurkenscheiben und Karotte am Abend waren nicht ganz das Abendessen ihrer Träume, eher ein Alptraum. Doch am meisten fehlten ihr ihre täglichen Kohlenhydrate.
Sie war so was von mies drauf und schnauzte alle an. Keiner wagte sich mehr in ihre Nähe. Ihre Kollegen mieden sie und ihre Freunde hielten einen Respektsabstand.
In einem Diät-Blogg im Netz kam sie ihrer schlechten Laune auf die Spur: Serotoninmangel.
Ihre beste Freundin flehte sie telefonisch an, die Diät um ihrer Freundschaft willen aufzugeben.
Es folgte kurz vor dem Fest die betriebliche Weihnachtsfeier mit dem üblichen Gänseessen. Sophie hatte zwar ein unglaubliches Verlangen, aber aus lauter Furcht vor den gewichtlichen Konsequenzen meldete sie sich krank und vergrub sich zuhause. Am nächsten Tag schwärmten und lobten alle Kollegen die Gänsekeulen in den höchsten Tönen, so fettarm seien sie gewesen und so knusprig!
Sophie war kurz vor dem Durchdrehen.
Überall auf dem Weihnachtsmarkt und in den Straßen lockten die Versuchungen in Form von Plätzchen, Stollen, Currywurst und Handkäse-Fondue mit Zwiebelbaquette. Mittlerweile schaffte Sophie die drei Runden um den See langsam joggend. Sie war so stolz auf sich.
Vor allem, weil die Waage nun nicht mehr grinste, drei Kilo weniger als zu Beginn.
Die Shake-Dose und die Tabletten waren aufgebraucht. Sophie rang mit sich, ob sie neue kaufen sollte. Sie entschied sich dagegen. Das Zeug war zu ekelhaft.
Das Kleid saß haargenau, wenn sie auf das Atmen verzichtete.
Verdammt! War dieser blöde Fetzen etwa beim Waschen eingegangen?
Warum passte es immer noch nicht!
Noch drei Tage bis Weihnachten. Ihre Mutter hatte ihr Raclette-Essen angedroht, außerdem bestand sie darauf, dass Sophie mindestens den halben Stollen zu essen hätte, den sie mit Liebe und Mühe gebacken hatte. Ja sicher!
Wenn nicht, wäre ihre Mutter tödlich beleidigt. Ihre Schwester vergraulte zusätzlich mit Ente in Orangensauce, Kroketten und Mousse au Chocolat.
Um Gottes willen! So würde das nie etwas!
Schluchzend stand Sophie im Café vor der Schwarzwälder Kirschtorte.
Was sollte es, es brachte doch nichts, sie hatte keine Chance!
In der tiefsten Verzweiflung legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
„Stopp! Nicht bestellen!“, raunte die männliche Stimme.
Sie erkannte den Leiter des örtlichen Fitness-Studios.
„Sie sind Diät frustriert, nicht wahr?“, fragte er verständnisvoll.
Sie nickte und einige Tränchen rollten ihre Wange hinunter.
„Ich schaffe es einfach nicht! Ich bin nicht stark genug!“, seufzte sie.
„Doch, sie schaffen es…mit mir zusammen! Haben Sie jetzt Zeit?“, sie blickte ihn überrascht an.
Freitagnachmittag an einem regnerischen Dezembertag mit Frust im Bauch und ein durchtrainierter netter Typ fragte sie, ob sie Zeit hätte?
War denn heut schon Weihnachten?
Aber sicher hatte sie Zeit!
Sie nickte und folgte ihm ins Studio. Er zeigte und erklärte ihr das Laufband, den Ergometer, das Spinning-Rad und den Crosstrainer. Ließ sie alles ausprobieren, erstellte mit ihr einen Trainingsplan und vereinbarte mit ihr ein kostenloses Probetraining.
Zum Schluss gab er ihr den Rat, den ganzen Diätkram sein zu lassen, denn langfristig würde nur regelmäßiger Sport und FdH (Friss die Hälfte) helfen. Es würde zwar etwas länger dauern, doch dafür würde sie durch eine Musteränderung ihr Gewicht halten können, versprach er ihr.
Mehr als schief gehen konnte es ja nicht, also warum nicht!
Sie begann zweimal die Woche auf dem Crosstrainer zu laufen und steigerte sich von „nach fünf Minuten außer Puste“ nach einigen Wochen auf ganze zwei Kilometer. Immer mit der Mahnung ihres Mentors im Ohr, sich nicht zu überanstrengen, denn dies wäre der Motivation abträglich. Sie solle sich erreichbare Ziele setzen, auch beim Essen, sie hätte alle Zeit der Welt und ab und zu dürfe sie sich auch etwas Gutes gönnen.
Das Training begann ihr Spaß zu machen, schließlich lief sie freiwillig dreimal die Woche. Das Joggen ging immer besser und sie durchschritt ihre persönliche Lichtgrenze von fünf Kilometern in der halben Stunde nach einem Jahr. Ihr Ehrgeiz war kaum noch zu bremsen, denn nun nahm sie die acht Kilometer-Marke als Ziel.
Ach ja, das Kleid vom Beginn konnte sie noch immer nicht tragen, denn es war einfach viel zu weit geworden und schlackerte an ihrem bewundernswert schlanken Leib.
Es blieb als Mahnung und Motivation, auf keinen Fall nachzulassen, im Schrank hängen und auch Weihnachten mit seinen Schlemmereien hatte seinen Schrecken für Sophie verloren.
Und trainieren kann sie nun kostenlos, denn der Fitness-Mann und sie sind nun ein Paar.