Abschied
Dunkle Augen, die mich nicht sehen. Du bist weit weg, als ich dich anspreche, sanft, mit leiser Stimme, und während ich weiter mit dir spreche, kommst du langsam in der Gegenwart an. Ich beobachte, wie deine Augen sich langsam auf die richtige Schärfe einstellen und dann endlich siehst du mich an, mit diesem brennenden Blick, ich werde eingesogen und falle in einen tiefen Schacht. Der Tod sieht mich an in diesem Blick. und gleichzeitig ist da soviel Liebe und kompromisslose Präsenz, dass ich es kaum aushalten kann, ohne dass mir die Kehle eng wird.
Hallo Gretel... Du bist so schön, antwortest du, wie so oft, und ich weiss, du willst mir damit sagen, dass du mich magst und dich freust, mich zu sehen.
Worte sind nicht gleich Worte.
Oft sind sind es nur zerfledderte Silben, die deinen Mund verlassen.
Dennoch hatten wir beide bisher selten ein Kommunikationsproblem. Deine Augen haben mich gehalten, dein Blick, einmal fokusiert, ist direkt, offen, neugierig. So unmittelbar, dass ich immer wieder aufs Neue fasziniert und berührt bin von dir. Dein Lächeln spiegelt meine Zuneigung und ich sehe dein leuchtendes Gesicht, als ob ich es schon immer kennen würde.
An manchen Tagen scheint der Sturm in deinem Kopf besonders wild und alle Silben werden verweht und zersplittert, bevor du sie aussprechen kannst.
Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, fand ich glücklicherweise heraus, dass Englisch in deinem Gehirn offensichtlich zuverlässiger abgespeichert wurde als deine Muttersprache.
Seither sprechen wir an den schlechten Tagen englisch und die Trefferquote an normaler Konversation hat sich rapide erhöht. Eine Kollegin erzählte mir, dass du englisch gesprochen hast, als die Sanitäter dich aus der Klinik zurück brachten. Du lagst noch auf der Trage und ein englischer Kauderwelsch-Redefluss brach aus dir heraus.
Ich bin sicher, meine russische Kollegin verfluchte mich, weil sie kein einziges Wort verstand.
Herrlich – ich war begeistert, als ich das hörte. Oh Gretel!
Doch nun gehst du.
Und ich sehe dich an, wage kaum, meine Stimme zu erheben, weil ich spüre, du bist im Zwischenreich.
An manches erinnerst du dich. Zum Beispiel daran, dass wir nur wenige Tage nacheinander Geburtstag haben, du und ich – wenn auch fast 40 Jahre zwischen uns liegen.
Ich könnte deine Enkelin sein.
Meinen Namen hast du dir nie merken können.
Doch was sind schon Namen!
Wir beide, was hatten wir für völlig absurde Gespräche, getragen allein von der Energie zwischen uns. Wir haben geredet und gelacht, und ich beobachtete, wie dein Gefühl für dich selbst langsam zurückgekehrt ist.
Es kam der Moment, an dem du wieder geahnt hast, wer du bist, und was dein Leben lebenswert macht. Immer frei heraus – ich lauschte immer deiner Lebenslust.
An guten Tagen war deine Schlagfertigeit unerreicht. Du nimmst kein Blatt vor den Mund. Genusssüchtig, direkt, ohne Kompromisse.
Wie sehr ich dich mag.
Wie sehr es mich schmerzt, dich gehen zu sehen.