Therapieversuch
Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Ein leichtes Frösteln befällt mich, denn eben stand ich noch im warmen Sommerlicht eines herrlichen Tages. Nun befinde ich mich in einem sterilen Warteraum.
Ganz allein bin ich hier.
Hier ist es so modern, dass selbst auf eine Sprechstundenhilfe verzichtet wurde. Stattdessen lese ich auf einem Flachbildschirm:
Bitte gedulden Sie sich einen Moment, sie werden gleich aufgerufen.
Sehnsüchtig blicke ich in Richtung des Milchglasfensters. Das Leben dort draußen auf der Straße kann man nur noch erahnen. Ich habe keine Lust, mich auf einen der harten Rohrstuhlgeflechte zu setzen und laufe unruhig in diesem Zimmer auf und ab. Frage mich, was ich eigentlich hier soll und, dass ich im Moment lieber ganz woanders wäre.
Die Warterei kommt mir wie eine Ewigkeit vor - trostlos ist hier - ich möchte gehen. Dieser Wunsch wird übermächtig bis er sich zu einem Fluchtreflex ausweitet.
Doch in diesem Moment öffnet sich wie von Geisterhand eine der Türen. Eine angenehme Frauenstimme fordert mich zum Eintritt auf.
Fast erleichtert schreite ich über die Schwelle. Das Büro strahlt eine professionelle Kühle aus. Alles hier, das Mobiliar, der Granitfußboden und die Jalousie sind in verschiedenen Grautönen gehalten.
Ein einziger Farbkleks bildet eine weißblühende Orchidee mit saftig grünen Blättern auf dem Schreibtisch.
Eine Dame kommt gemessenen Schrittes auf mich zu. Sie ist unglaublich attraktiv mit ihrem hellen, dezent geschminkten Teint. Gertenschlank, mit einem schwarzen Kostüm und passenden High Heels bekleidet. Ihr blondes Haar ist zu einem strengen Dutt hochgesteckt.
Sie reicht mir zum Gruß ihre schmale kühle Hand und bietet mir einen Platz an.
Während Sie nach einer Akte greift und darin blättert, fällt mein Blick auf die Wände ihres Büros. Kleine Schwarz/weiß Fotos hängen dort in schnörkellosen Rahmen.
Diese Bilder kommen mir alle seltsam bekannt vor, doch bevor ich registriere warum und wieso, fragt sie mich, ob ich nun bereit für unser Gespräch wäre?
Ich bin nun ziemlich nervös, frage zurück, ob ich wohl eine rauchen dürfte?
Natürlich weiß ich, dass das nicht gut für mich ist. Wie oft schon habe ich versucht, aufzuhören. Doch immer kam etwas dazwischen, das die guten Vorsätze zunichte machte.
„Hat diese schlechte Angewohnheit Sie nicht zu mir geführt?“ beantwortet sie meine Frage unterkühlt mit einer Gegenfrage.
Schuldbewusst senke ich meinen Blick, sie hat ja Recht, so Recht. Aber ich brauche jetzt eine, ich komme mir hier vor, wie damals mit fünfzehn im Büro des Schulleiters, nachdem er mich beim rauchen auf dem Schulhof erwischt hatte.
„Nun gegen eine allerletzte Zigarette ist wohl nichts einzuwenden“, meint sie schließlich lapidar und erleichtert greife ich in die Tasche meines Hemdes.
Doch da ist kein Päckchen und auch kein Feuerzeug.
Mist! Entweder hab ich sie vergessen oder meine Tochter hat sie wieder versteckt, damit ich nicht rauchen kann. Dieses kleine Biest! Na toll - das kann ja heiter werden! denke ich resignierend.
Die kühle Blonde beobachtet das Ganze mit einem seltsam lauernden Gesichtsausdruck.
„Wann haben Sie sich zuletzt etwas gegönnt?“ fragt sie nun und sieht mich interessiert an.
Hm, jetzt komme ich etwas ins Schleudern. Mit so einer Frage habe ich nicht gerechnet.
„Keine Ahnung!“ antworte ich, „ es ist auf jeden Fall länger her.“
So ist das eben, wenn man Chef einer gutgehenden Firma ist, von nix kommt nix!
Da muss man sich richtig hineinknien. Die Überstunden zu zählen – das habe ich vor langer Zeit aufgegeben - die vielen Abende und Wochenenden in der Firma.
All die Zeit, die ich dort verbracht habe – freiwillig, weil ja immer die Aufträge so viel wichtiger waren als… mein Privatleben.
Urlaub – ja, den hab ich ab und zu gemacht, wenn meine Kreativität litt und ich neue Ideen tanken musste. Aber immer nur Ein-Wochen-weise. Länger konnte ich die Firma nie allein lassen, denn - wenn du willst, dass etwas gut wird, dann musst du es selbst tun!
Kluger Spruch von wem doch gleich? Egal, er passt zu mir. Etwas gegönnt?
Ich denke angestrengt nach.
„Ja doch, da fällt mir etwas ein, ich hatte vor einigen Wochen mal wieder ein Rendezvous mit einer meiner flüchtigen Liebschaften. Wir hatten geilen Sex und teuren Champagner dazu. Ja – das war gut!“ schließe ich im Brustton der Überzeugung.
„Eine ihrer Liebschaften?“ fragt die attraktive kühle Dame forschend nach, „wie viele Liebschaften hatten Sie denn?“
Ich denke angestrengt nach.
„Keine Ahnung – viele. Immer wieder wechselnd nach der Trennung von meiner Frau. Ein Mann kann eben nicht aus seiner Haut! Ich brauche Sex, schon immer – viel davon, sehr viel.
Eine alleine kann mich weder befriedigen noch halten, ich verliere schnell das Interesse an ihnen. Außerdem gefällt mir das Gefühl von Macht, dass ich über ihre Herzen habe. Dass sie mir verfallen sind und ich nur mit dem kleinen Finger zu schnippen brauche und schon sind sie da - willig und bereit - mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen.“
Diese Gedanken bringen mich zum lächeln und ich lasse alle, wirklich alle meine Geliebten vor meinem inneren Auge Revue passieren. Alle wunderschön, voller Esprit und in Liebe zu mir.
Doch dachte ich bislang, dass sie alle gleich vor meinem Schwanz waren, merke ich nun beim nachdenken darüber, dass die ein oder andere doch tiefere Spuren in meiner Seele hinterlassen hat.
Mein Blick bekommt etwas leicht Melancholisches.
„Mit zwei oder dreien von ihnen in dieser langen Liste hätte ich mir durchaus „mehr“ vorstellen können, doch wollte ich es nicht zulassen.
Hatte Angst um meine persönliche Freiheit. Ich wollte mich nicht mehr an nur eine binden, wollte stets unverbindlich bleiben und offen für alle Genüsse dieser Welt sein, nichts verpassen, alles mitnehmen, was geht.
Leichte Stiche in meiner Herzgegend fühle ich nun deswegen.
Ich habe diese Frauen durch diese – meine Art- verletzt. Zum Teil in die Verzweiflung getrieben, einige auch ins Unglück gestürzt.
Habe mir ohne Rücksicht von ihnen genommen, was ich brauchte und sie dann irgendwann fallen gelassen.
Doch ist es meine Schuld, dass sie sich in mich verliebten?
Ich habe ihnen immer gesagt, dass ich mich nicht einfangen lasse!
Bin ich dafür verantwortlich, dass sie dachten, sie könnten mich ändern?“
frage ich ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
Die strenge Dame nickt und vermerkt mit spitzem Bleistift etwas in meiner Akte, doch ich spüre deutlich ihr Missfallen. Sie blickt auf und fragt weiter.
„Was bereuen Sie am meisten?“
Was sind denn das für blöde Fragen? ärgere ich mich. Ich verschwende hier meine kostbare Zeit!
Ich möchte gehen und erhebe mich demonstrativ.
„Setzen Sie sich wieder hin und beantworten Sie meine Frage!“
Ihr Ton ist schneidend wie Eis und derart bestimmt, dass es mir kalt über den Rücken läuft. Ich versuche den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, doch habe ich keine Spucke in meinem Mund. Ein Glas Wasser wäre schön jetzt!
Nach einem Moment des gegenseitigen ungehaltenen Starrens setze ich mich wieder und wische mir den kalten Schweiß von meiner Stirn.
Was bereue ich? Darüber muss ich erst nachdenken!
Obwohl ich dies nur gedacht habe, antwortet sie mir:
„Wir haben alle Zeit der Welt, denken Sie gut nach, es ist entscheidend für Ihre innere Reinigung.“
Während des Nachdenkens schweift mein Blick im Raum hin- und her.
Seltsam, die Orchidee sah vorhin doch noch ganz anders aus – oder? Ihre Blätter hängen nun schlapp herab und einige Blüten welken.
Ich schüttle meinen Kopf und schelte mich einen Trottel.
Diese schwarz/weiß Bilder an ihren Wänden ziehen immer wieder meinen Blick wie magisch an. Sie sind zu klein, um Details darauf zu erkennen, doch kommen mir die fotografierten Szenen bekannt vor.
Wirklich seltsam – alles hier in diesem Büro!
Am meisten aber wundert es mich, dass sich meine Libido in Gegenwart dieser Schönheit vor mir überhaupt nicht regt. Das ist mir ja noch nie passiert!
Sie räuspert sich leicht ungeduldig.
„Am meisten bereue ich, dass ich in der Vergangenheit zu wenig Zeit für meine Tochter hatte. Wie oft habe ich meine Wochenenden mit ihr geschäftlichen Terminen geopfert, wie oft habe ich sie vorzeitig zu ihrer Mutter zurückgebracht, weil in der Firma „Landunter“ herrschte!
Wie oft habe ich ihre Auftritte in der Theatergruppe verpasst!
Wie schnell ist sie herangewachsen und lebt nun ihr eigenes Leben. Ein Leben, zu dem ich nicht wirklich gehöre- allenfalls als Zaungast.“
Mein Ton ist traurig und bedauernd geworden.
Meine kleine Große ist das Beste in meinem Leben! Das Einzige, für das es sich zu leben wirklich lohnt. Zum Glück sehe ich das jetzt endlich klar und deutlich vor meinen Augen.
„Ich weiß, dass sie mich liebt! Immer wieder ermahnt sie mich, das Rauchen endlich aufzugeben. Versteckt in schierer Verzweiflung meine Zigaretten. Bittet mich inständig meine Blutwerte checken zu lassen und zum Arzt zu gehen.
Sie ist die Einzige, die mich ungestraft kritisieren darf“, sinniere ich weiter.
Und nach einer Pause, „ ich liebe sie so sehr, warum war mir das vorher nicht klar?
Sie ist der einzige Mensch, den ich wirklich innig liebe!“
Ich möchte weinen, doch ich habe keine Tränen. Meine Hände liegen gefaltet über meinen Schoss. Kühl sind sie geworden.
Überhaupt ist mir unangenehm kalt in diesem Zimmer hier.
Wieder notiert die kühle Blonde etwas geschäftig in meiner Akte, sieht dann auf:
„Eine letzte Frage noch.
Was würden Sie nachträglich in Ihrem Leben ändern, wenn es möglich wäre?“
Ohne großes Nachdenken sprudelt es aus mir heraus:
„Ich würde mehr wirklich lieben und leben.
Die Menschen um mich herum glücklich machen und selbst auch mein Glück mehr genießen. Würde mich nie wieder zum Sklaven meiner Arbeit machen lassen und mich nicht mehr über Dinge aufregen, die ich nicht ändern kann.
Manches muss man eben nehmen, wie es eben einmal ist!“
Abgeklärt und mit mir im Reinen sitze ich auf diesem Stuhl und schaue meinem Gegenüber offen ins Gesicht.
Aus einem Seitenwinkel registriere ich die völlig verwelkte Orchidee, die so gar nicht in dieses perfekt gestylte Büro passt.
Ich erhebe mich und gehe näher an die Fotos heran, schaue sie an und stocke.
Auf diesen Bildern ist mein ganzes Leben…
Vom ersten Schrei unmittelbar nach meiner Geburt, über die Balgereien im Sandkasten, die Stationen meiner Schulzeit, mein erster Kuss, Szenen aus meiner Arbeitswelt, ich zusammen mit meiner Tochter im Arm und an unserem geliebten Mittelmeer, ich zusammen mit allen meinen Frauen, und als Letztes - ein Bild von mir, abgezehrt und wächsern in einem Krankenbett , wie ich angeschlossen an Maschinen, die für mich atmen, alleine um mein Leben kämpfe.
Sämtliche Gesichtszüge entgleisen mir. Das Begreifen dieser ganzen bizarren Situation hier schießt durch meinen Verstand, die eisige Kälte, die mich lähmt, alles einmal ist alles völlig klar!
Ich starre die kühle, bleiche Schönheit an ihrem Schreibtisch sitzend an und sie lächelt mich nun freundlich mit perfektem Gebiss an.
Steht auf und nimmt mich an die Hand. Ihre Blicke richten sich auf eine hellere Tür, die sich langsam wie von selbst öffnet.
„Du hast bestanden, Mensch! Dein Leben überdacht, ehrlich bereut und dich geläutert. Nun darfst du dich eine Weile ausruhen, bevor du eine neue Chance zur Bewährung erhältst. Ich begleite dich zu dieser Tür.“
Ich folge ihr stumm, doch kurz vor der Schwelle begehre ich auf:
„Kann ich denn nicht bitte wieder zurück in mein bisheriges Leben? Ich habe noch so viel in Ordnung zubringen! Bitte...“
Sie schüttelt bedauernd ihren Kopf:
„Nein, dafür ist es zu spät!
Du bist bereits zu lange klinisch tot, um dich zurückzuholen.
Doch du wirst dich in einem weiteren Leben bei allen, denen du in diesem geschadet hast, auf die ein oder andere Art revanchieren können. Versprochen! Nun geh!“
Und ich ging.