Von Menschen und Tieren
Als der 24. Dezember heraufdämmert mit leichtem Schneefall sitzt Alexandra im Esszimmer und macht einen Plan der Dinge, die sie heute noch erledigen muss. Wie jedes Jahr hat sie sich vorgenommen, ihre Weihnachtseinkäufe rechtzeitig zu erledigen, aber wie immer hat ihr die Arbeit keine Zeit dazu gelassen.
Sie hätte gerne einen Weihnachtsbaum gehabt wegen der Stimmung, aber das wird sie zeitlich nicht mehr schaffen, und so wird sie wie gewohnt lediglich die Tannenzweige, die sie in einer großen Vase hat, weihnachtlich dekorieren. Ihr Lebensgefährte und sie haben ihre Weihnachtsgeschenke schon vor Wochen ausgetauscht. Er hat eine Bettdecke aus Schurwolle bekommen und sie ein Buch über Akupunktur. Sie wird noch ein Geschenk für ihre Mutter kaufen und natürlich auch noch eine Kleinigkeit für ihn; eine CD von Buena Vista Social Club. Sie hofft, dass sie noch eine Gans bekommt. Letztes Jahr hat sie die allerletzte erwischt, und ohne Gans am ersten Feiertag ist es kein Weihnachten. Sie will nicht zu spät losfahren, damit sie nicht in das übliche Gedränge in den Geschäften kommt.
Als sie ihren Einkaufszettel fertig hat, schlüpft sie in ihren Anorak und feste Schuhe und holt den Wagen aus der Garage. Sie lädt die leeren Getränkekästen ein und fährt los. Nach ca. 300 m, auf der Höhe des Friedhofs, hört sie ein Rumpeln am Auto und merkt, dass etwa an der Lenkung zieht. „Oh nein!“, denkt sie, „Bitte keinen Platten jetzt.“
Sie hält an, schaltet den Motor ab und steigt aus. Der linke Vorderreifen ist platt. Sie verdreht die Augen und überlegt, warum immer ihr so etwas passiert. Na egal, dann wird sie den Reifen wechseln. Sie holt den Wagenheber und das Radkreuz aus dem Auto und versucht, das Stahlgitter zu öffnen, in dem der Reservereifen unter dem Wagenboden verstaut ist. Der Hebel bewegt sich nicht. Sie rüttelt und zieht mit aller Kraft, aber ohne Erfolg, das Ding ist festgerostet. Was tun? Ihr Freund ist 50 km entfernt bei einem Kunden und hat dort voraussichtlich bis zum späten Nachmittag zu tun. Sonst kennt sie niemanden im Ort, den sie um Hilfe bitten könnte. Die einzige männliche Person, die ihr einfällt, ist der Stallbesitzer, bei dem sie ihr Pferd eingestellt hat.
Sie kramt ihr Handy heraus und ruft im Stall an. Die Tochter ist am Apparat und erklärt, dass ihr Papa nicht da ist und erst in ca. 15 Minuten zurückkommt. Alexandra bittet das Mädchen, ihrem Vater zu sagen, dass sie dringend auf seinen Rückruf wartet. Dann setzt sie sich ins Auto, wo es aber sehr bald so kalt wird, dass sie wieder aussteigt und herumläuft, um warm zu werden. Nach einer gefühlten Stunde klingelt endlich ihr Telefon. Sie erklärt dem Mann ihre Situation und fragt ihn, ob es ihm möglich wäre, ihr gleich zu helfen, da sie sonst für die Feiertage nichts mehr zu Essen bekommt. Sie merkt an seiner Reaktion, dass es ihm nicht in seine Zeitplanung passt, aber er sagt ihr, dass er in 10 Minuten bei ihr ist.
Eine halbe Stunde später ist ihr Reifen gewechselt und ihr Auto ist wieder fahrbereit. Mittlerweile ist es 11 Uhr. Die meisten Geschäfte schließen bereits um 12 Uhr, nur einige Supermärkte haben bis 14 Uhr geöffnet. Alexandra macht sich auf den Weg in die nahegelegene Kreisstadt. Zuerst sucht sie den Metzger auf, bei dem es die Bratwürste gibt, die ihr Freund für die sauren Zipfel braucht, die er am Abend zubereiten will. Nein, eine frische Gans haben sie nicht mehr, die wären alle vorbestellt gewesen. Ihre nächste Anlaufstelle ist der Supermarkt, in dem sie unter anderem eine der letzten gefrorenen Gänse in ihren Einkaufwagen packt. Der Beifuß ist aber schon ausverkauft. Den findet sie dann in einem Obst- und Gemüse-Geschäft am anderen Ende der Fußgängerzone. Gottseidank ist der Platten-Laden nur drei Häuser entfernt, wo sie die CD kauft. Langsam wird die Zeit knapp. Sie hat noch kein Geschenk für ihre Mutter. Auf dem Rückweg zu ihrem Auto kommt sie an einem Geschenk-Artikel-Geschäft vorbei, wo sie wegen des Zeitdrucks eine überteuerte Keramik-Vase ersteht.
Als sie nach Hause kommt, fühlt sie sich erschöpft. Sie verpackt die Geschenke, schmückt die Tannenzweige, spült das Geschirr, saugt und wischt die Wohnung und geht dann mit den Hunden eine kleine Runde. Als sie zurückkommt, füttert sie die beiden und deckt dann den Tisch. Danach flüchtet sie sich ins Bad für eine kleine Auszeit in warmem Wasser, das ihre Anspannung etwas löst.
Als sie fertig ist, ist ihr Freund bereits da und bereitet das Essen vor. Ihre Mutter, die über ihr wohnt, ist auch schon gekommen und steckt ihre Nase in die Küche. Als sie erklärt, dass saure Zipfel kein Essen für Weihnachten sei, sondern dass es da Karpfen geben müsse, weiß Alexandra, dass der Abend wieder einmal gelaufen ist. Kritik ist etwas, womit ihr Freund absolut nicht umgehen kann. Er erklärt ihrer Mutter, dass sie die Bratwürste ja nicht essen müsse, wenn sie damit nicht zufrieden sei. Aus einem unerfindlichen Grund gibt es jedes Jahr am Heilig Abend Streit, auch wenn man das ganze Jahr zuvor gut miteinander ausgekommen ist. Das Essen verläuft dementsprechend in einer frostigen Atmosphäre. Nach dem Essen werden die Geschenke verteilt, aber niemand hat Lust, sie auszupacken. Ihre Mutter zieht sich in ihre Wohnung zurück und ihr Freund geht ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher einschaltet.
Alexandra sitzt am Esstisch und spürt einen dicken Knoten im Magen. Sie räumt das Geschirr ab, zieht sich dicke Socken, warme Stiefel und ihren Anorak an, packt die Hunde ins Auto und fährt zum Stall. Die Pferde sind bereits gefüttert, die letzten kauen noch an ihrem Kraftfutter, die anderen sind bereits mit ihrem Heu beschäftigt. Die Stallgasse ist gefegt und menschenleer. Alexandra wird von ihrem Pferd mit einem leisen, kollernden Wiehern begrüßt, das ganz tief aus dem Brustkorb kommt. Außer dem beruhigenden Geräusch der mahlenden Zähne und einem gelegentlichen Schnauben ist sonst kein Laut zu hören. Sie öffnet die Boxentür und lässt die Hunde hinein, die mit dem Wallach das übliche Begrüßungsritual abspulen.
Sie legt eine Stange Zigaretten auf die Ablage in der Stallgasse als kleines Dankeschön für die Hilfe des Stallbesitzers am Vormittag. Er wird sie morgen finden. Dann öffnet sie den Sack mit Karotten, der neben ihrem Spind steht und gibt ihrem Pferd einige davon in den Futterbarren. Danach geht sie an den Boxen entlang und gibt auch den anderen Pferden ein paar Karotten, die von diesen freudig angenommen werden.
Als sie zu ihrer Box zurückkommt, sitzt eine der Stallkatzen auf dem Boxenrand und schaut neugierig zu, wie der Wallach seine Karotten frisst. Jedes Mal, wenn er den Kopf hebt, bläst er die Katze durch seine Nüstern sanft an, was diese mit dem Auflegen einer Pfote auf seine Nase quittiert. Alexandra muss unwillkürlich lächeln, das Bild ist zu komisch.
Sie betritt die Box, lässt sich in die dicke Einstreu aus Sägespänen sinken und lehnt den Kopf an die hölzerne Wand. Der Irische Wolfshund liegt lang ausgestreckt an der hinteren Boxenwand; auf seinem mächtigen Brustkorb hat es sich eine weitere Stallkatze in Sphinx-Stellung bequem gemacht. Die Hündin rollt sich an Alexandras Seite zusammen und legt den Kopf auf ihren Oberschenkel. Der Wallach streckt den Hals und zerzaust ihr Haar mit den Lippen, dabei lässt er wieder das leise Kollern hören, das seine Zufriedenheit ausdrückt. Die Stallkatze, die auf dem Boxenrand gesessen war, klettert an Alexandras Anorak hoch und benutzt ihre Kapuze als Hängematte. Alexandra fühlt, wie der Knoten in ihrem Magen sich löst und eine wundervolle, friedliche Gelassenheit sich in ihr ausbreitet. In dem Moment hört sie aus der Ferne die Kirchenglocken des nahegelegenen Dorfes läuten, die zur Christmesse rufen und sie weiß, dass jetzt für sie Weihnachten ist.