Das zweite Gespräch
Die Sache mit der Treue
"Verdammte Scheiße!", fluchte er. "Wo hab ich bloß den blöden Schlüssel?"
Sie hörte ihren Mann schon vor der Haustür fluchen und poltern und sah durchs Fenster, wie er in seiner Sporttasche kramte und unübersehbar in ziemlich mieser Stimmung war.
'Es gibt solche Tage', dachte sie. Peter war, ganz gegen seine Gewohnheit, heute schon viel zu spät dran gewesen, als er wie immer am Freitagabend zum Training fuhr. Sie hatte schon gefürchtet, sich nicht rechtzeitig für ihren Besuch umziehen zu können. Der war dann allerdings nicht mal zum üblichen Treffen erschienen und hatte auch nicht angerufen. Zum ersten Mal!
Und jetzt auch das noch: Peter war eindeutig eine Laus über die Leber gelaufen. Er hätte doch auch einfach nur klingeln können!
Sie eilte zur Haustür und öffnete mit einem möglichst strahlenden Lächeln. Doch er ging wortlos an ihr vorbei in die Wohnung und beachtete sie nicht. Kein Danke, kein Lächeln, kein Kuss. Zwar war Peter ein leidenschaftlicher, manchmal auch etwas aufbrausender Mensch, aber so kannte sie ihn dann doch nicht. Besonders, wenn er am Freitagabend nach dem Training ausgepumpt, aber stets auch zufrieden und ausgeglichen zurück kehrte. Irgend etwas war wohl geschehen, das ihm sehr zu schaffen machte.
Mit einem Mal fiel ihr auf, dass er gar nicht beim Training gewesen sein konnte - er war kein bisschen verschwitzt, so wie üblich. Als sie hinter ihm ins Wohnzimmer trat, fragte sie deshalb besorgt: "Du warst gar nicht beim Training? Was ist denn los?"
Er wandte sich um, schüttelte den Kopf, und aus seinen Augen schossen förmlich vernichtende Blitze in ihre Richtung. "Alles in Ordnung?", fragte sie.
"Nichts ist in Ordnung", knurrte er, knallte seine Sporttasche in eine Ecke und warf sich auf die Couch, schwer atmend, als komme er doch direkt vom Training. "Hast du dich gar nicht gewundert, dass Ralf heute nicht hier aufgetaucht ist?"
Für einen Augenblick fürchtete sie, ihr Herz könne stehen bleiben. 'Na toll', dachte sie, 'jetzt ist es passiert.' Zum Glück hatte sie sich längst wieder umgezogen. Nicht auszudenken, wenn Peter nun auch noch sehen würde, was sie extra für ihren Besuch gekauft und angezogen hatte! Trotzdem versuchte sie, so gefasst wie möglich zu bleiben und so zu tun, als sei alles bestens ...
Doch es gelang ihr nicht. "Wieso fragst du das?", konnte sie gerade noch flüstern, dann wurde ihr auf einmal schwindlig und sie musste sich auch auf die Couch setzen, sonst wäre sie womöglich zusammen geklappt.
Als wäre ihm ihre Nähe zuwider, erhob er sich sofort und lief wie ein eingesperrter Tiger hektisch im Zimmer auf und ab. "Blöde Frage!", raunzte er sie an. "Das weißt du doch ganz genau!" Dann wurde seine Stimme noch lauter und klang noch zorniger: "Du warst schließlich mit ihm verabredet. Ich hab ihn nämlich zufällig getroffen, als er auf dem Weg zu dir war. War ja etwas später dran als sonst, das konnte er aber nicht wissen. Hab ihn gefragt, was er hier denn will, und er meinte, er müsse sowieso mal dringend mit mir reden, er könne da etwas nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren. Und dann sind wir beide ein Bier trinken gegangen ..." Den Rest des Satzes ließ er in der Luft hängen.
Alles in ihr erstarrte, ihr Gesicht gefror zu Eis, ihr Herz wurde zu einem steinernen Klumpen. Ein Schluchzen kämpfte sich durch ihren angehaltenen Atem, drang aber nicht wirklich nach oben, blieb irgendwo in ihr stecken und tat entsetzlich weh in ihrer Brust.
Sie wusste nicht, wohin mit sich, hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Sie hätte gerne geschrien, aber der Schrei hin in ihr fest. Unvermittelt sprang sie auf, schlug die Hände vors Gesicht, rannte ins Schlafzimmer, schloss es von innen ab, warf sich aufs Bett. Und dort brach es dann aus ihr und überschwemmte sie so sehr, dass sie zu ertrinken glaubte ...
*
Am nächsten Morgen bemühte sie sich, möglichst aufrecht zu gehen und gefasst zu wirken, als sie zögernd die Küche betrat. Peter saß bereits am Tisch und stocherte lustlos in Cornflakes mit Milch rum. Er blickte nicht mal auf und starrte finster in seinen Teller, als gäbe es dort etwas Wichtiges zu entdecken. 'Was für eine beschissene Stimmung', dachte sie, 'aber ist ja kein Wunder. Ich könnte Ralf umbringen.'
"Und?", sagte sie leise. "Wie geht's jetzt weiter?"
"Gar nicht geht's weiter, solange du mir nicht ein paar Fragen beantwortet hast!", fauchte er.
"Es ist also aus?"
"Blödsinn! Wir sind keine Kinder, sondern erwachsen. Oder? Ich will erst mit dir reden. Und dann sehen wir weiter."
Sie setzte sich vorsichtig und leise an den Tisch, als wäre jede heftigere Bewegung eine Katastrophe, und sagte, mehr zu sich selbst als zu Peter: "Dieses blöde Arschloch! Dann hat Ralf also unsere Beziehung zerstört ..."
"Wie bitte?" Er knallte den Löffel auf den Tisch und brüllte: "Hast du dir mit ihm das Hirn raus gevögelt, oder was? Seit wann ist nicht der schuld, der fremdgeht, sondern der, der es endlich erzählt?"
Sie hob die Schultern und fand es besser, nichts zu antworten. Er hatte ja recht. Außerdem hatte sie es noch nie leiden können, wenn er wütend war und schrie. Und dieses Mal konnte sie ihm deswegen nicht mal böse sein.
Peter räusperte sich, schluckte zwei, drei Mal und fuhr dann mit rauer Stimme fort: "Also, ich werde mich bemühen, nicht laut zu werden, Sabine. Aber ich brauche jetzt ein paar deutliche und verdammt ehrliche Antworten. Ist das klar? Vielleicht kriegen wir das alles ja doch wieder auf die Reihe, aber nicht ohne deine Hilfe. Okay?"
Sie nickte und fand nicht den Mut, ihm dabei in die Augen zu blicken.
"Und hör bitte auf, immer nur auf den Boden zu gucken! Wenn du das, was du getan hast, so beschissen findest, dass du dich dafür schämst, dann hättest du es vielleicht besser gar nicht erst getan."
Nun schaffte sie es noch weniger, den Kopf zu heben und ihm ins Gesicht zu sehen.
"Du weißt", sagte Peter mit gepresster Stimme, "dass du mir mal verboten hast, andere Frauen zu bewundern? Ich durfte nicht mal den 'Playboy' durchblättern. Du erinnerst dich, dass ich sogar mal dafür sorgen musste, dass eine hübsche Kollegin wegen dir versetzt wird? Dass ich nicht mal zur letzten Betriebsfeier durfte, weil genau diese Kollegin auch dort aufgetaucht wäre? Soll ich noch mehr aufzählen?"
Langsam schüttelte sie den Kopf. "Ich weiß", hauchte sie.
"Gut", sagte er. "Dir ist bewusst, dass ich mich in all diesen Dingen immer nach dir gerichtet hab, um dich nicht unnötig zu verletzen? Dir ist klar, dass ich dich nicht ein einziges Mal betrogen hab? Und das nur, weil du absolute Treue verlangt hast und extrem eifersüchtig bist! Und nun das!"
Jetzt blickte sie mit ihren verquollenen Augen kurz auf und nickte erneut. Dann erhob sie sich und hantierte mit der Kaffeemaschine, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. "Willst du auch einen Kaffee?", fragte sie leise, als wolle sie sich ein wenig Normalität bewahren.
"Nein, danke!", brummte er. "Dir ist das alles also bewusst?"
Sie antwortete nicht, hätte auch nicht gewusst, was sie zu all dem hätte sagen können, das in irgend einer Weise einen Sinn ergeben könnte. Also konzentrierte sie sich darauf, einen möglichst starken Kaffee zu machen und wartete ab.
"Also, ich war gestern Abend mit Ralf ein Bier trinken. Ich hab ihn zufällig getroffen, als er zu dir wollte. Nun weiß ich, dass er an fast jedem Freitag, wenn ich zum Training weg war, dich besucht hat. Er hat mir alles erzählt, wirklich alles. Immerhin sind wir ja eigentlich Freunde, hat er gesagt. Hat mir sozusagen sein Herz ausgeschüttet."
Seine Stimme wurde brüchig, und er hatte Mühe, weiter zu reden. "In den höchsten Tönen hat er von dir geschwärmt. Weißt du eigentlich, wie oft ich dich gebeten hab, für mich mal geile Dessous zu tragen, so richtig scharfe Reizwäsche? Aber nein, das war dir immer viel zu nuttig. Für ihn hast du dir welche gekauft, sogar ohne dass er darum gebeten hat! Mir wolltest Du so gut wie niemals einen blasen, bei ihm hast du das anscheinend leidenschaftlich gerne getan, auch ohne dass er darum bitten musste."
Plötzlich schlug er mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass der Teller mit den Cornflakes umkippte und die Milch vom Rand des Tisches tropfte. "Verdammte Scheiße!", brach es aus ihm. "Stinke ich? Bin ich so hässlich? Oder so beschissen im Bett? Ist dir mein Schwanz vielleicht zu klein? Oder was?"
"Das ist doch alles gar nicht wahr", flüsterte sie. Doch sein hasserfüllter Blick riet ihr, jetzt bloß nichts mehr dazu zu sagen.
"Wieso musste ich dann immer geradezu darum betteln, dass du mir mal einen bläst, und ihm hast du es oft genug freiwillig besorgt? Bei mir warst du oft so prüde, dass ich dich nur allzu gerne manchmal betrogen hätte, nur um mal wieder richtig geilen Sex zu haben. Aber nein, dafür war sich die gnädige Frau wohl zu schade, man ist ja schließlich kein Flittchen." Die Milch tropfte weiter unbeachtet vom Tisch. Sabine sah der Kaffeemaschine zu, die leise vor sich hin blubberte. "Du willst wirklich keinen Kaffee", sagte sie, und es klang hilflos, wie der Versuch, einen Rettungsring zu werfen.
"Hörst du mir überhaupt zu?", fragte er mit zitternder Stimme. "Ich rede hier von Dingen, die mir entsetzlich weh getan haben, und du hast nur diesen blöden Scheißkaffee im Kopf? Wie oft hast du behauptet, Sex sei dir gar nicht so wichtig! Ein Mal im Monat reicht dir. Und jetzt? Mindestens ein Mal pro Woche mit Ralf! Bin ich beim Sex wirklich solch ein Versager? Oder ist er so überwältigend gut?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nein", sagte sie leise, "so ist es nicht. Es geht nicht um gut oder schlecht. Es ist einfach nur irgendwie anders ..."
Er schluckte. "Sabine, es fällt mir wirklich schwer, vernünftig zu bleiben und ruhig mit dir zu reden. Mach's mir bitte nicht noch schwerer mit solch blöden Ausreden, sonst raste ich noch total aus!"
"Es ist aber die Wahrheit ..."
"Dann hättest du mir ja vielleicht auch mal sagen können, dass du es anders willst, verdammt noch mal! Ich hätte es nämlich auch gerne anders gehabt." Er atmete heftig und machte eine Pause, um sich wieder zu beruhigen. "Weißt du, Ralf hat mir erzählt, wie wild, wie gierig und wie unersättlich du bist. Stell dir vor: er hat mir sogar zu dieser geilen Frau gratuliert - ich wusste nicht, ob ich deswegen lachen oder heulen soll! Und ja, er hat mich tatsächlich gefragt, ob ich's dir denn nicht oft genug besorge, weil du es so nötig hast. Ich wäre beinahe vom Stuhl gefallen, als er das allen Ernstes gefragt hat! Aber bei mir spielst du die Prüde und bist das Gegenteil von wild und geil! Was ist denn das für eine Scheiße? Was mache ich falsch, dass du mich so übel verarschst?"
Abrupt wandte sie sich ihm zu. "Nein, ich verarsche dich nicht. Ich weiß nur nicht, was ich jetzt zu all dem sagen soll. Und glaub mir bitte, Peter: Ich liebe dich!" Ihr Herz klopfte wie verrückt, und sie wusste nicht, wie sie den Mut gefunden hatte, das zu sagen, aber nun war es gesagt. Laut und deutlich: Ich liebe dich! Auch wenn es für ihn wie Hohn klingen musste ...
Etwas schüttelte seinen Körper, und auf einmal traten Tränen in seine Augen. Er legte die Arme auf den Tisch, mitten hinein in die verschüttete Milch, legte seinen Kopf auf die Arme und begann heftig zu schluchzen. Sie hatte ihn noch niemals weinen sehen.
Wie gerne hätte sie jetzt einen Arm um ihn gelegt oder auch nur die verschüttete Milch aufgewischt, und sei es nur, um ihre Hilflosigkeit zu überspielen. So hörte sie sein Schluchzen und dazwischen die Milch langsam auf die Fliesen tropfen. Still setzte sich zu ihm, und wie in Trance oder aus alter Gewohnheit stellte sie auch ihm eine Tasse Kaffee hin. Und als wäre es gerade jetzt das Normalste von der Welt, nahm sie einen kräftigen Schluck aus ihrem Pott. Sie wusste: würde sie Peter in diesem Moment berühren, könnte er explodieren, würde er womöglich um sich schlagen. Also blieb sie einfach schweigend bei ihm sitzen.
Es dauerte lange, bis er seinen Kopf hob und sie anblickte. "Weißt du", sagte er, "wenn du mit einem anderen vögelst, ist es schlimm genug. Ich darf ja nicht mal mit anderen Frauen flirten oder so. Aber mal ehrlich: ich käme irgendwie schon damit klar. Sowas kommt manchmal vor, auch in den besten Familien. Und ich würde trotzdem zu dir stehen. Ich könnte dir deswegen wahrscheinlich nicht mal richtig böse sein. Auch auf Ralf bin ich nicht sauer, ich bin ihm sogar dankbar, dass er es erzählt hat. Nicht mal eifersüchtig bin ich. Eigentlich komisch, nicht wahr? Nur - neidisch bin ich, einfach nur verdammt neidisch! Und ich frage mich, womit Ralf es verdient hat, all das zu bekommen, was du mir offenbar nicht geben willst. Dass du ihm all die sexuellen Wünsche von ganz allein erfüllst, von deren Erfüllung ich seit Jahren träume, das tut verdammt weh. Du weißt genau, Sabine, was du mir alles seit langem verweigerst. Und meinetwegen mag es stimmen, dass du mich immer noch liebst, auch wenn ich's kaum glauben kann. Doch um so weniger kann ich all das verstehen."
Er sah ihr ins Gesicht, nicht mehr voller Hass, sondern eher verzweifelt und zutiefst verletzt: "Warum kriegt er, was ich von dir nicht kriege? Warum tust du für ihn Dinge, von denen ich nur träumen kann? Du liebst ihn doch nicht, oder?"
Sie schüttelte heftig den Kopf. "Nein, mit Liebe hat das gar nichts zu tun", sagte sie.
Er schwieg und dachte offenbar nach. Dann erhob er sich, ignorierte die Tasse Kaffee, die sie für ihn gemacht hatte, und fuhr fort: "Denk drüber nach, Sabine, denk gut drüber nach! Ich werde jetzt irgendwohin fahren und weiß noch nicht, wann ich zurück komme. Vielleicht erst morgen. Es ist ja Wochenende. Keine Sorge: Ich komme zurück. Ich will nur etwas Zeit für mich. Doch dann will ich aber klare und eindeutige Erklärungen von dir hören. Bekomme ich die nicht, werde ich über eine Scheidung nachdenken, egal was du sonst dazu sagst. Kannst du es mir jedoch so erklären, dass ich es begreife, dann sehen wir weiter." Mit diesen Worten verließ er die Küche.
Sabine blieb sitzen und hörte ihn noch lange im Bad und in der Wohnung hantieren. Erst als er die Haustür hinter sich zu gezogen und den Wagen gestartet hatte, sprang sie auf und blickte ihm durchs Fenster hinterher. Und sie spürte genau, dass sie ihn liebte. Sie fühlte diese Liebe tief in sich.
In der Küche wischte sie die Milch auf und räumte den Tisch leer, goss sogar rasch die paar Pflanzen und hielt sich an alltäglichen Ritualen fest. Und sie dachte nach. Nein, dieses Mal würde sie nicht das tun, was sie sonst in solchen Situationen meistens tat, nämlich alle erreichbaren Freundinnen anrufen, sich bei ihnen ausheulen, sich trösten lassen, alles stundenlang durchkauen und über die schrecklichen Männer lästern. Nein! Dieses Mal nicht!
Sie liebte Peter. Daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Die Sache mit Ralf hatte damit nichts zu tun. Und sie fand, dass Peter das Recht zustand, nach Antworten zu fragen. Wie sehr konnte sie ihm nachempfinden, wie es in ihm jetzt aussehen musste. Sie brauchte sich nur vorzustellen, das Ganze sei andersrum und er würde für sie all das nicht tun, was sie sich von ihm ersehnt, aber von ihm nicht bekommt, aber mit einer anderen Frau hätte er all das begeistert gemacht - sie könnte schon beim Gedanken daran wahnsinnig werden.
Und so würde sie an diesem Wochenende alles tun, um Antworten zu finden. Sie verstand sich ja selbst nicht. Aber es musste einfach Gründe für ihr Verhalten geben, sonst hätte sie es ja nicht getan. Nur hatte sie noch keine Ahnung, wo und wie sie die richtigen Antworten finden könnte. Aber es heißt ja, so tröstete sie sich selbst, dass wahre Liebe immer einen Weg findet ...
Copyright 25. 9. 2013 - (Der Antaghar)